Corona verstärkt Bildungsungleichheiten: „Talente werden unsichtbar gemacht“
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani spricht über die wachsende Bildungsschere in Pandemiezeiten – und eine notwendige Neuausrichtung des Schulsystems.
Herr El-Mafaalani, seit März vergangenen Jahres gibt es keinen anhaltenden schulischen Regelbetrieb mehr. Sind bereits messbare Auswirkungen der Pandemie auf Schüler:innen aus sozial benachteiligten Familien zu verzeichnen?
Wirklich belastbare Daten gibt es noch nicht. Viele Lehrkräfte erzählen, dass sie die Schüler kaum noch erreichen – wie sollen erst Wissenschaftler da an sie herankommen? Mittels Analogien zu dem, was man grundsätzlich über soziale Benachteiligung weiß, kommt man aber zu dem Schluss, dass die Lage sehr besorgniserregend ist.
So weiß man zum Beispiel, dass die Bildungsschere in langen Sommerferien auseinandergeht. Das lässt sich auf die präsenzfreie Zeit in der Corona-Krise übertragen. Viele Menschen glauben, dass das Schulsystem die Bildungsungleichheit erzeugen würde, dabei sieht man jetzt sehr deutlich, dass die Ungleichheit ohne Schulen wächst.
Wo wird Ungleichheit (re)produziert?
In der Familie und im sozialen Umfeld, das ist der Hauptbereich. Außerdem durch das Entscheidungsverhalten der Eltern, etwa im Hinblick auf die Frage, auf welche Schulen Kinder geschickt werden. Der dritte und am wenigsten gewichtige Punkt ist das Bildungssystem selbst. Dieses ist an der eigentlichen Produktion von Ungleichheit kaum beteiligt. Was man dem Schulsystem aber vorwerfen muss, ist, dass es die bereits vorhandene Ungleichheit zu wenig reduziert.
Sie haben einmal gesagt, dass Armut das Talent von Kindern für Lehrkräfte unsichtbar macht. Gilt das in der Krise noch mehr als zuvor?
Wenn Kinder aus bildungsfernen Schichten Kompetenzen haben, drückt sich das habituell anders aus, als wenn Kinder aus bildungsbürgerlichen Milieus etwas können. Die Identifizierung von Talenten vollzieht sich über deren Performance. Die Forschung hat gezeigt, dass Lehrerinnen dazu neigen, jene Talente als solche zu erkennen, die ähnlich ausgedrückt werden wie die Talente ihrer eigenen Kinder.
Das ist die Ausgangslage. Unter Pandemiebedingungen verändert sich die Situation dahingehend, dass viele Lehrer vor allem zu den Schülerinnen aus ärmeren Familien oftmals kaum Kontakt halten können. So werden Talente, die ohnehin schwer zu erkennen sind, gänzlich unsichtbar gemacht.
Inwiefern werden strukturell bedingte Ungleichheiten im Homeschooling insgesamt verstärkt?
Insofern, als die am stärksten ungleichheitserzeugenden Aspekte eine noch viel stärkere Rolle spielen als ohnehin schon. Was potenziell ausgleichend wirkte, der professionelle pädagogische Kontext und der Kontakt zu Gleichaltrigen, ist ja weitgehend weggebrochen.
Was es nun braucht, sind konkrete Studien, um zu zeigen, wie stark sich dieser benachteiligende Effekt auswirkt, auch wie sehr das relativ zur Lern- und Kompetenzentwicklung insgesamt ins Gewicht fällt. Denn diese wird überall gebremst werden, die Lage ist für fast alle schlecht. Dabei gehe ich fest davon aus, dass die Schere zusätzlich zu einem allgemeinen Absacken der Leistungen weiter auseinandergehen wird.
Welche Schülergruppen sind dadurch, dass die Schule nicht nur als Ort der Wissensvermittlung, sondern vor allem auch als sozialer Raum versperrt ist, in besonderer Weise benachteiligt?
Alle, die schon vorher benachteiligt waren. Sozioökonomische Benachteiligungen, finanzielle Armut, Raumknappheit, fehlende Schreibtische und Endgeräte wirken sich ungleichheitsverstärkend aus. Außerdem spezielle Problemlagen, wie Gewalt und Suchterkrankungen in der Familie. Wobei Armut und diese speziellen Problemlagen häufig zusammen auftreten. Dann spielt natürlich eine wesentliche Rolle, ob die Eltern in der Lage sind, ihren Kindern zu helfen, ob sie ihnen beim Lernen Unterstützung bieten und darüber hinaus Entwicklungsimpulse geben können oder nicht.
Was tun, wenn Eltern aufgrund fehlender Sprachkenntnisse Probleme haben, mit der Schule zu kommunizieren und ihre Kinder bei Aufgaben nicht unterstützen können?
Das ist ein grundsätzliches Problem. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass unsere Systeme vor allem deshalb funktioniert haben, weil man sich getroffen und gesehen hat; weil Eltern von Eltern und Kinder von Kindern Wichtiges in Erfahrung bringen konnten.
Vor allem die Neuen, also die jüngsten Schüler, brauchen den informellen Austausch – das sehen wir aktuell übrigens auch bei den Erstsemestern an den Hochschulen. Bei fehlenden Deutschkenntnissen der Eltern müssen Kinder – noch ungleich stärker als zuvor – Übersetzungs- und Koordinationsleistungen für die ganze Familie übernehmen.
Insgesamt wird deutlich, dass viele Lehrkräfte ihre Kinder überhaupt nicht kennen, nicht wissen, wie es zu Hause bei ihnen aussieht. Aber wie sollten sie das bei einem chronisch unterversorgten Schulsystem auch schaffen? Typisch für Systeme, die auf Kante genäht sind, ist, dass sie, selbst dann, wenn es richtig brennt, kaum flexibel reagieren können. Ich befürchte, dass man hier kurzfristig leider nicht so viel ausrichten kann.
Sind vonseiten der politischen Verantwortungsträger bereits ernsthafte Schritte unternommen worden, um sozial benachteiligten Schüler:innen zu helfen, nicht noch weiter zurückzufallen?
Man hat vieles angekündigt, aber angekommen ist wenig. Ich habe nicht den Eindruck, dass Entscheidendes passiert ist. Ja, man hat mehr Endgeräte bestellt und der digitale Unterricht ist im Laufe der Pandemie zuverlässiger geworden, wir befinden uns aber weiterhin im Krisenmodus.
Man hätte spätestens in den Sommerferien starten müssen. Zum Beispiel hätte man Lehramtsstudierende – ähnlich wie die Medizinstudierenden, die in Kliniken ausgeholfen haben – für Patenschaften schwächerer Schüler anfragen können. Das wäre auch insofern sinnvoll gewesen, als ja vielen Studierenden ihre Nebenjobs weggebrochen sind.
Was muss jetzt passieren und wer ist in der Pflicht? Wie sähe eine wirksame ungleichheitssensible Bildungspolitik, die Seuchenschutz und Bildungsauftrag produktiv verbindet, in der aktuellen Krisenlage aus?
Die Lehrkräfte, die es schon ohne Pandemie-Umstände schwer haben, müssten von zahlreichen anderen Akteuren unterstützt werden. Neben der Unterstützung durch besagte Studierende sollte man eruieren, inwiefern andere pädagogische Hilfsstrukturen zum Zuge kommen könnten. Kann man etwa Streetworker, Sozial- und Kulturpädagogen einbinden?
Natürlich hängt alles von der Pandemie-Lage ab. Sobald (wieder) ein strenger Shutdown geboten ist, muss man eine kontinuierliche Verbesserung der digitalen Unterrichtssituation anstrengen und die Möglichkeiten von Jugendämtern und anderen sozialpädagogischen Einrichtungen erweitern, um die Kinder besser erreichen zu können.
Dabei geht es vor allem darum, zu schauen, wie das Notwendigste in den Bereichen Bildung, psychische und körperliche Gesundheit gewährleistet werden kann. Denn das Schulsystem geht völlig auf dem Zahnfleisch. Die Situation ist in manchen Bundesländern besser als in anderen, trotzdem kommt sie in der Fläche einer Katastrophe gleich.
Was genau kritisieren Sie?
Die Herausforderungen sind so groß, dass man kaum weiß, wo man anfangen soll. Der Zustand der Immobilien, die Größe der Räume, zuweilen nicht mal Seifenspender oder warmes Wasser, vom chronischen Lehrermangel und der im Bildungssektor ungünstigen Personalzusammensetzung ganz zu schweigen. An der Situation sind nicht Lehrer oder Schulleiter schuld, das ganze System ist jahrelang runtergerockt worden. Deshalb sind wir auch an einem Punkt, wo es nicht mal eben schnelle Lösungen gibt.
Wenn es stimmt, dass die Coronakrise als Brennglas funktioniert, das bestehende Missstände deutlich offenbart – könnte sie auch ein Fanal dafür sein, Bildung insgesamt gerechter zu gestalten? Und was müsste hierfür langfristig geschehen?
Ich hoffe, dass die Politik nun Pläne vorbereitet, wie man ab dem nächsten Schuljahr eine massive Bildungsoffensive starten kann. Und mal ehrlich, wenn die Coronakrise nicht genug Motivation darstellt, das seit 20 Jahren andauernde Gerede darüber, dass Bildung das Allerwichtigste ist, in Handlungen zu übersetzen, was dann?!
Was wir für die Zukunft brauchen, sind vor allem multiprofessionelle Teams, die die aktuell den Lehrkräften aufgebürdeten Zuständigkeiten auf zahlreiche Schultern verteilen. Dafür braucht man natürlich Geld, aber gar nicht so viel, wie man meinen könnte. Denn die notwendigen Akteure stehen schon bereit. Es gibt haufenweise Sprach-, Musik- und Kunstpädagogen, Religionswissenschaftlerinnen und Sozialpsychologen, Gesundheitsexperten und Sporttrainerinnen, die man in die Schulen holen könnte. Im Grunde muss alles, was in der Gesellschaft relevant ist, auch für den Mikrokosmos Schule zur Verfügung stehen.
Wie könnte das konkret funktionieren?
Indem man bereits vorhandene Strukturen umorganisiert. Den Musik- und Sportvereinen etwa geht der Nachwuchs verloren, weil dieser gelangweilt in den Ganztagsschulen rumhängt. Das ist eine völlige Schieflage. Ab einer bestimmten Uhrzeit müssten solche schulfernen Akteure in die Schulen kommen, oder die Schulen müssten ihre Schüler selbst zu den Aktivitäten geleiten. Anders können wir Ungleichheit nicht abbauen.
Worauf es ankommt, ist den Herkunftseffekt zu verringern. Wenn die Eltern allein entscheiden, ob ein Kind Bratsche lernt oder nicht, hat das einen stark sozialverzerrenden Effekt. Es muss möglich sein, in der Schule ein Instrument zu lernen – im Übrigen ein für die Entwicklung eines Kindes noch immer völlig unterschätzter Bereich. Wenn alles vor Ort in der Schule konzentriert ist, muss immer noch nicht jedes Kind Bratsche lernen – aber es hat eine Bratsche in Reichweite. Noch mal: Alles, was die Gesellschaft zu bieten hat, sollte man in der Schule auf einem professionellen Niveau erleben können.
Wenn der Herkunftseffekt so stark ins Gewicht fällt – muss man dann nicht ebenfalls die Eltern viel stärker adressieren als bisher?
Ja, unbedingt! Und auch hier sollte man über die jetzige Praxis hinaus mit multiprofessionellen Teams arbeiten. Anders als es momentan der Fall ist, sollte die Elternarbeit nicht in erster Linie mit Vorwürfen an die Eltern operieren. Vielmehr gilt es, gemeinsam mit geschulten Akteuren herauszufinden, welche förderlichen Ressourcen bereits in der Familie vorhanden sind und wo dringend Hilfe benötigt wird.
Dabei muss man auch eruieren, wo die Familie den Schülerinnen im Weg steht. Das kann man respektvoll und professionell ansprechen. Insgesamt kann man festhalten, dass wir heute eine günstige Ausgangslage haben: Lange waren bildungspolitische Reformen das Riskanteste, was ein Politiker anstoßen konnte – jetzt wäre es riskant, keine Reformen zu wollen.
Inzwischen gibt es auf Elternseite einen gleichsam klassenübergreifenden Konsens darüber, dass das System reformiert werden muss und zwar in genau die skizzierte Richtung: mehr Musik, Sport, Gesundheit in der Schule. Wenn wir die verkrusteten Strukturen aufbrechen wollen, ist jetzt die beste Gelegenheit.
[Aladin El-Mafaalani ist Soziologe und Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück.]
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