„Von manchen Lehrern hörte ich gar nichts“: Die Coronakrise legt gravierende Schwächen des deutschen Schulsystems offen
Seit Monaten fällt der Unterricht aus. Schüler tauchen ab – Lehrer auch. Ein Schüler, eine Vize-Rektorin und ein Bildungsforscher analysieren die Folgen.
„So, Herr Köller. Ich stelle Sie jetzt auf den Tisch“, sagt Annette Harney zum Kieler Bildungsforscher. „Eins, zwei, drei, vier“, antwortet der leise.
Ein Interviewsetting, wie es das vor Corona nicht gegeben hätte: Der Gymnasiast Richard Gamp, der permanent schulfrei hat und deshalb um 13 Uhr zur Heinz-Brandt-Schule nach Berlin-Weißensee kommen konnte, an der Harney stellvertretende Schulleiterin ist.
Olaf Köller hat sich von seinem Büro im Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik an der Universität Kiel aus zugeschaltet. Im vergangenen Sommer machte ihn Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres zum Leiter einer Expertenkommission, die die Schulen der Stadt verbessern soll. Köller befragte seitdem unter anderem Schulleiter, Gewerkschaftler und Elternvertreter. Seit Corona finden die Treffen online statt.
Köller lächelt auf Annette Harneys kleinem Tabletbildschirm. „Also ich sehe von Ihnen nur ein Basecap“, sagt er. Daraufhin lehnt Richard Gamp das Gerät an die Wasserflasche, die er eben bei Lidl neben der Schule gekauft hat, sodass alle drei auf Augenhöhe sind. Es kann losgehen.
Herr Gamp, Schüler wie Sie werden zurzeit von Politikern oft bedauert, weil sie besonders lange zu Hause bleiben mussten. Jetzt mal umgekehrt gefragt: Was lief in diesem außergewöhnlichen Halbjahr besser als normal?
Gamp: Zum ersten Mal in meiner gesamten Schulzeit werden die Schultoiletten vernünftig geputzt. Es gibt dort auch verlässlich Seife und Papierhandtücher. Dank der Hygienemaßnahmen zur Eindämmung von Corona.
Harney: Hygiene ist für mich jetzt nicht so das Außergewöhnlichste.
Gamp: Gut fand ich auch, dass die Schüler mehr aufeinander aufgepasst haben. Und dass wir gezwungen waren, digital zu arbeiten. Es gibt Lehrer, die sind dieser Technik die letzten zehn Jahre aus dem Weg gegangen.
Frau Harney, laut einer Umfrage der Pädagogischen Hochschule Zug bescheinigen sich lediglich 15 Prozent der deutschen Lehrer gute Digitalkenntnisse. Was ist Ihre Erfahrung?
Harney: Eine verheerende Zahl, die ich von unserem Kollegium nicht bestätigen kann. Wir nutzen seit Jahren eine digitale Lernplattform, auf der alles Unterrichtsmaterial abgelegt ist. Das war sehr hilfreich, als wir die Schüler ins Homeschooling – Entschuldigung, es heißt ja Distance Learning – schicken mussten. Ich kann von mir auch nicht behaupten, dass ich alle Funktionen der Plattform vorher kannte. Wir haben uns vorgenommen, dass wir den Schülern, wenn sie nach den Sommerferien zurück sind, die vielen Möglichkeiten zeigen: Was kann ich noch tun außer Chatten? Wie bekomme ich Peer-to-Peer-Feedback? Damit uns die zweite Welle, mit der ich rechne, nicht mehr so eiskalt erwischt.
Wie lief der Fernunterricht an Ihrer Schule ab?
Harney: Wir haben schnell gesehen, dass wir den Schülern eine Struktur geben müssen. Die brauchen wesentlich länger, sich zu orientieren, wenn keine Lehrerin hinter ihnen steht. Wir haben ihnen einen Stundenplan gestrickt, zwei Fächer am Tag. Um neun geht es los, um 14 Uhr werden die Aufgaben abgegeben. Die älteren Schüler sind natürlich sofort in einen späteren Rhythmus gerutscht. So ist das in der Pubertät. Ich weiß nicht, wann du aufstehst, Richard?
Gamp: Um neun. Aber nicht, um Schule zu machen. Auch in meinem Freundeskreis schlafen die meisten viel länger.
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Harney: Viele unserer älteren Schüler waren erst um 13 Uhr auf. Denen brauchte ich mit dem Stundenplan, der um 14 Uhr endet, nicht zu kommen. Ein Drittel hat uns gar keine Arbeitsergebnisse geschickt. Dann haben wir bei denen angerufen. Woran lag es? Es lag an den unterschiedlichsten Dingen. Manche haben die Aufgabenstellung nicht verstanden. Andere haben sich um ihre kleinen Geschwister gekümmert. Wir haben auch Schüler aus Flüchtlingsunterkünften. Die hatten oft kein WLAN. Der Hauptgrund aber war: Jungs um die 13, 14 Jahre. Die saßen zu Hause am Computer, an dem sie lernen sollten, und haben gezockt. Sie hätten sich immer gesagt: Noch eine halbe Stunde, noch eine halbe Stunde, und dann war es plötzlich 16 Uhr.
Herr Gamp, waren Ihre Lehrer auch so hinter Ihnen her?
Gamp: Ich habe eine sehr engagierte Biolehrerin, die regelmäßig über Mail nachgefragt hat: Kann ich irgendwie helfen? Gibt es Probleme? Es gab aber auch vereinzelt Lehrer, von denen ich in der Zeit überhaupt nichts gehört habe.
Lehrer, die abtauchen. Schüler, die abtauchen. Herr Köller, vor einem Jahr hat sie die Berliner Schulsenatorin Sandra Scheeres engagiert, um das Berliner Schulsystem, das bei Ländervergleichen in der Regel den vorletzten Platz belegt, zu verbessern. Sinkt durch Corona das Niveau jetzt noch weiter?
Köller: Das ist wahrscheinlich, wenn man nicht gegensteuert. Es gibt ein historisches Beispiel: Vor 45 Jahren wurde der Schuljahresbeginn von Ostern auf den Herbst verlegt. Deshalb gab es zwei Kurzschuljahre von jeweils sieben Monaten. In der PIAAC-Studie, die so was wie ein Pisa-Test für Erwachsene ist, können wir sehen, dass die damals Betroffenen, die ja mittlerweile fast in Rente sind, immer noch in ihren mathematischen Kompetenzen anderen hinterherhinken.
Aladin El-Mafaalani, der in Osnabrück eine Professur für Erziehungswissenschaft in der Migrationsgesellschaft hat, spricht von einer „verlorenen Generation“ und einer „Bildungskatastrophe, die noch Jahre nachwirkt“. Ist das Vokabular nicht ein bisschen übertrieben für ein paar Wochen ohne Schule?
Köller: Nein. Wenn man keine Zusatzangebote macht, wird ein Teil der Schüler noch sehr lange daran laborieren. Bildungsökonomen befürchten, dass sich die Bildungsverluste in der Corona-Zeit später sogar negativ im Wirtschaftswachstum niederschlagen werden. In der Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina, an der ich beteiligt war, haben wir darauf hingewiesen, dass mit einer Zunahme der sozialen Ungleichheit zu rechnen ist. In den USA gibt es Studien, die zeigen, dass schon die Sommerferien reichen, um die Leistungen von privilegierten und nicht privilegierten Schülerinnen und Schülern auseinanderdriften zu lassen. Die Privilegierten werden dort oft in Summercamps aufgepeppelt.
In Berlin wird jetzt eine Sommerschule für alle, die es brauchen, eingerichtet: maximal vier Wochen Unterricht in kleinen Gruppen, verteilt auf Sommer- und Herbstferien. Dafür werden Lehramtsstudenten und pensionierte Lehrer rekrutiert. Frau Harney, wie finden Sie das Konzept?
Harney: Gut! Meine Sorge ist nur, dass die Kinder, die es am nötigsten hätten, nicht kommen. Die Teilnahme ist ja freiwillig, und es ist ja äußerst uncool, wenn man so ein Achtklässler ist und zwei Wochen länger zur Schule gehen soll. Wir haben versucht, es denen schmackhaft zu machen.
Wie kommt die Sommerschule in Ihrem Umfeld an, Herr Gamp?
Gamp: Bei uns ist das eigentlich kein Thema.
Köller: Wenn im Gymnasium alle in die Sommerschule kämen, hielte ich das auch für übertrieben. Wichtig ist es für Kinder, die mit dem Lernen zu Hause schwer klarkommen, auch weil sie weniger Unterstützung haben.
Harney: Wir im Kollegium sprechen von Augenmerk-Kindern. Wir haben sie letztlich die ganze Zeit über in kleinen Gruppen hier an der Schule unterrichtet. Was mir fast das Herz bricht, sind die Schüler, die zur Risikogruppe gehören. Davon haben wir viel mehr, als wir dachten: Sie haben ein ärztliches Attest, weil sie selbst oder ihre Eltern krank sind. Die müssen auch nach den Ferien weiter zu Hause bleiben. Hinzu kommt, dass es in den Familien oft ein Problem gibt: Wenn man beispielsweise einen schwerkranken Vater hat, steht das Lernen nicht im Mittelpunkt. Diese Kinder erreichen wir gar nicht. Da könnten Sie uns vielleicht einen Tipp geben, Herr Köller!
Köller: Inwieweit sind die Kinder mit digitalen Endgeräten ausgestattet? Die Senatorin hatte angekündigt, dass welche an die Schulen geliefert würden.
Harney: Sie sind auch angekommen: 47 iPads. Jetzt warten wir noch auf die Sicherheitshüllen. Ohne geben wir die nicht raus. Sonst fallen die einmal runter und sind kaputt.
Köller: Videokonferenzen wären eine Möglichkeit, um diese Kinder zu erreichen. Meine Lieblingsanwendung sind Avatare, so kleine Roboter, die man in den virtuellen Lernraum setzt und von zu Hause aus steuern kann.
Herr Gamp, konnten Sie zu Hause gut lernen?
Gamp: Mein Arbeitspensum war begrenzt: zurzeit wenige Stunden pro Woche. An meiner Schule ist die besondere Situation, dass am 16. März, dem ersten Tag des Homeschoolings, Notenschluss war. Alles, was man danach machte, wurde nicht mehr bewertet.
Harney: Das war bei uns auch so. Ging ja gar nicht anders: Die Chancengleichheit ist im Fernunterricht absolut nicht mehr gegeben. Aber wir haben das den Schülerinnen nicht ausdrücklich gesagt.
Gamp: Wir bekommen von unserer Schulleitung jede Woche eine mehrere Seiten lange E-Mail mit den aktuellen Entwicklungen. Da stand’s drin. Dass man sich im restlichen Schuljahr nur noch verbessern kann – und das auch nur auf Antrag. Anschließend war der Antrieb, gelinde gesagt, nicht mehr vorhanden, sich groß anzustrengen. Wir hatten seitdem nur an einem Tag für zwei Stunden Schule. Bis Mitte Mai mussten wir uns nicht mal entschuldigen, wenn wir eine Videokonferenz versäumt oder eine Aufgabe vergessen hatten. Von der Kommunikationen her hätte ich das andersrum besser gefunden. In der Art: „Das ist für euch relevant, das abzugeben.“ Denn eine intrinsische Motivation ist bei den wenigsten Schülern vorhanden.
Herr Köller, Reformpädagogik setzt darauf, dass Kinder aus reinem Interesse lernen. Wie weit kommt man Ihrer Einschätzung nach mit intrinsischer Motivation?
Köller: Schule hat seit jeher den Auftrag, dass Menschen lernen, auch Dinge zu tun, die nicht unbedingt Spaß machen. Eine Prüfung ist ein starker extrinsischer Motivator. Es ist kein gutes Signal, wenn es am 15. März heißt: So, die Messe ist gelesen. Jetzt gibt es noch ein paar schöne Noten zum Ende des Schuljahres und dann ist gut. Das unterstützt den Lernprozess nicht.
In Österreich ist das Mathe-Abitur dieses Jahr schlechter ausgefallen als normal. Sorgen Sie sich um Ihren Schnitt, Herr Gamp?
Gamp: Nein, weil ich für das Studium, das ich machen will, keinen Schnitt von 1,0 brauche. Aber wenn ich Medizin studieren wollte, hätte ziemliche Angst, dass diejenigen, die die Prüfungen konzipieren, nicht berücksichtigen, wie an unserer Schule der Unterricht lief.
Köller: Wichtig ist, dass, wenn es bei den Abiturklausuren Auffälligkeiten gibt, die Senatoren oder die Minister in den Bundesländern von der Möglichkeit Gebrauch machen, zu verfügen, dass der Notenschnitt hochgesetzt wird. Die Jahrgänge sollen nicht benachteiligt sein.
Geht es bei der Arbeit der Expertenkommission, der Sie vorstehen, darum, das Niveau von Berlins leistungsschwachen Schülern anzuheben?
Köller: Nicht nur. Wir durchforsten das ganze System. Zum Beispiel geben wir auch Empfehlungen ab, wie man die stärkeren Schüler auf den Integrierten Sekundarschulen in ihren Leistungen ein bisschen anheben kann, damit sie in der gymnasialen Oberstufe besser zurechtkommen. Die Berliner Schulreform, bei der aus den Hauptschulen, Gesamtschulen und den Realschulen die Integrierten Sekundarschulen wurden, hat zu einem deutlichen Anstieg von jungen Leuten geführt, die in die gymnasiale Oberstufe übertreten. Eine Studie hat gezeigt, dass die Leistungsniveaus, mit denen sie das tun, etwas niedriger sind, als sie es vor der Reform waren.
Zurzeit ist oft von der Coronakrise als Chance die Rede: beispielsweise um den Verkehr in den Innenstädten zu verändern oder die Produktpalette der Automobilindustrie. Kann Schule etwas aus den vergangenen Wochen in den Normalbetrieb mitnehmen?
Harney: Unbedingt! Es macht keinen Sinn, so zu tun, als wenn es das letzte halbe Jahr nicht gegeben hätte. Wir haben vor, wenn es erlaubt ist, für manche Klassenstufen einen halben Tag pro Woche Homeschooling beizubehalten. Unsere Schüler haben sich gerade an das Setting gewöhnt, jetzt sollen sie es vertiefen. Die Augenmerk-Kinder könnten für das Lernen am Computer in unsere Bibliothek kommen. Aber das sind alles erst Ideen. Für den Fernunterricht könnten wir auch Lehrkräfte einsetzen, die zur Risikogruppe gehören. Wir hatten sogar schon mal durchgespielt, dass wir für sie gern Avatare hätten, wie Herr Köller eben vorgeschlagen hat.
Köller: Die Diskussion, wie man Rechner gewinnbringend im Unterricht einsetzt, hat einen Riesenschub bekommen. Lehrkräfte sind nicht zu ersetzen, wenn Neues gelernt werden muss. Das zeigen Studien. Spätere Übungsphasen kann der Computer übernehmen. Schon vor Jahren haben wir mit einem Kollegen aus Kopenhagen eine Tagung gemacht, dessen Schule 1200 Schülerinnen und Schüler hatte, aber nur Klassenräume für 600. Er hat ein Konzept erarbeitet, wonach 600 Kinder digital gearbeitet haben: zum Beispiel in kleinen Nischen in der Aula mit ihren Laptops. Der Rest wurde klassisch unterrichtet.
Mit der Methode könnten Berliner Schüler weiterhin in den Genuss der wegen der Abstandsregeln halbierten Klassen kommen.
Köller: Wir in Deutschland haben immer noch zu wenig kluges Lehr- und Übungsmaterial. Dänemark ist da weiter. Ich mache kein Geheimnis draus, dass es Milliarden verschlingt, gute Lernumwelten zu entwickeln. Das können nur alle Bundesländer gemeinsam stemmen zusammen mit der Bundesregierung und in Kooperation mit Schulbuchverlagen und Software-Riesen. Wir sitzen hier im Leibniz-Institut in Kiel an einer Maschine, die automatisch Aufsätze von Schülern auswertet und Rückmeldungen gibt, sowohl an die Lehrkraft als auch die Schüler, die es dann noch mal überarbeiten können.
Zählt die Maschine Wort-Doppelungen aus und guckt, ob im Satz das Prädikat fehlt? Beides können Stilmittel sein.
Köller: Die ist schon ein bisschen weiter. Wenn sie zum Beispiel die erste Hälfte des Satzes liest, weiß sie, was in der zweiten Hälfte stehen müsste. Sie basiert auf intelligenten computerlinguistischen Anwendungen.
Wie kann man sicherstellen, dass der Computer, wenn er erst mal eingeschaltet ist, nicht zu allen möglichen Vergnügungen genutzt wird, wie Frau Harney es eben geschildert hat?
Harney: Es gibt schon einen unheimlichen Sog, gegen den man selbst mit originellen Aufgabenstellungen schwer ankommt.
Köller: Es gibt Elterntrainings, in denen wir sie anleiten, den Kindern feste Zeiten zu setzen, in denen mit dem digitalen Gerät gespielt, und andere, in denen damit gelernt wird. Das ist lösbar, das Problem.
Seit die Kinder an die Schulen zurückgekehrt sind, konzentriert sich der Unterricht auf die Hauptfächer. Wäre es nicht auch im Normalbetrieb sinnvoll, die Lehrpläne etwas zu entschlacken?
Harney: Wir an den Sekundarschulen tun das seit zehn Jahren, und zwar radikal. Ich bin Englischlehrerin. Da arbeiten wir ja schon lange nur kompetenzorientiert. Mir ist es egal, ob ich alle Stoffgebiete durchgenommen habe. Hauptsache, die Schüler können sich in der Sprache bewegen.
Köller: Auch meiner Ansicht nach muss man in Englisch nicht unbedingt Shakespeare lesen. Das sehen andere anders. Die Ad-Hoc-Stellungnahme der Leopoldina, in der wir gefordert hatten, dass in diesem Restschuljahr vor allem Mathe, Deutsch und Englisch unterrichtet werden soll, hat uns Kritik von Lehrkräften für Geschichte oder Philosophie eingebracht. Natürlich plädiere ich dafür, den ganzen Fächerkanon weiter abzudecken.
Gamp: Der Schulstoff müsste praxistauglicher sein. Da lernt man, eine Gedichtsanalyse in drei verschiedenen Sprachen zu schreiben, kann sich aber im Ausland nicht verständigen. Wie ein Mietvertrag aufgebaut ist oder was man bei einem Kredit beachten muss. Solche Sachen fehlen.
Der Philosoph Richard David Precht nennt in seinem Besteller, in dem er eine Revolution im Schulsystem fordert, als Beispiel für sinnloses Wissen das Ohmsche Gesetz. Herr Köller, wissen Sie wenigstens noch, wie das geht?
Köller: Das ist doch U = R x i. Das Ziel von Schule ist, Menschen in die Lage zu versetzen, dass sie, wenn sie die Institutionen verlassen, über ein Repertoire verfügen, ihr Leben in die Hand zu nehmen und sich lebenslang weiterzuentwickeln. Zum Beispiel dass man nachrechnen kann, wenn man einen Kredit abschließt, ob die Bank einen übers Ohr hauen möchte. Über einzelne Inhalte kann man sicher streiten. Wenn wir beispielsweise Informatikunterricht einführen, was ich für sinnvoll halte, muss man sich Gedanken darüber machen, in welchen Fächern man Stunden und Inhalte weglässt.
Gamp: Latein ist für mich ein klassisches Fach, was es nicht braucht. Ich habe es gerade mit dem Latinum abgeschlossen. Für mich wäre das absolut verzichtbar gewesen. Ich sehe auch nicht, dass man da das Lernen lernt, wie es manchmal heißt.
Herr Köller, Ihre Sicht auf Latein?
Köller: Da habe ich mich schon so oft in die Nesseln gesetzt. Wir in Kiel haben dazu Studien gemacht. Die Quintessenz ist immer: Es schadet nicht, aber es nützt auch nichts.
Können Sie sonst bei Prechts Kritik irgendwo mitgehen?
Köller: Ich muss gestehen, dass ich solche Bücher nicht lese. Als Bildungsforscher vertraue ich nicht Vorstellungen, die ich mir allein von der Welt mache. Ich studiere lieber Forschungsergebnisse und ziehe daraus meine Schlussfolgerungen. Ich weiß, Eltern lesen solche Bücher wie das von Precht ganz gern. Bildungspolitik richtet sich meines Wissens nicht danach.
Gamp: Ich habe das Buch gerade in der Corona-Zeit gelesen und fand das, was er schreibt, als Maximalforderungen interessant, auch wann man sie in praktikable Vorschläge umwandeln muss.
Warum sind eigentlich staatliche Schulen in Deutschland so schwerfällig, was Neuerungen angeht?
Harney: Ich könnte mir vorstellen, dass eine gewisse Unflexibilität auch an der Didaktik liegt, die die Lehrer früher gelernt haben. Da wurde immer ein detaillierter Stundenentwurf gefordert, in dem steht, was die Schüler in Minute 38 wissen sollen und wie das Gelernte anschließend „gesichert“ wird. Wenn man Unterricht offener gestaltet, kommt Unsicherheit auf: Lernen die überhaupt was? Ich sage: Das tun sie. Die Schüler wollen ja was, die sind gerne in der Schule, wenn sie Raum haben. Natürlich nicht immer. Die sind gerne in der sozialen Gruppe. Und wenn ich ein interessantes Angebot mache, dann machen sie auch mit.
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Köller: Unternehmen haben Innovationsdruck, weil sie pleitegehen können. Das können Schulen nicht. Deshalb kommt der Schulleitung immer so große Bedeutung zu: ob sie die Schule weiterentwickeln oder nur verwalten will.
Wenn Kindern wirklich bald so viel vor iPads kauern, haben sie vielleicht keine Leseschwäche mehr, aber dafür Haltungsschäden. Oder?
Harney: Nein! Bei unserem ersten Studientag zu digitaler Bildung war allen ganz klar: Es muss sehr viel Zeit geben, in der alles analog ist. Ohne Maus und Tastatur. Rauszugehen in die Natur ist mindestens genauso wichtig wie die Digitalisierung.
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