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Mehr Menschen, mehr Perspektiven, mehr Wünsche.
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Die Kehrseite von Integration: Mehr Teilhabe – mehr Konflikte

Nur keine falschen Erwartungen: Gelungene Integration führt nicht nur zu Harmonie, sagt Gastautor und Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani.

Die Integration gelingt in Deutschland ziemlich gut! Wenn ich das bei Veranstaltungen sage, stoße ich auf Widerstand – von links über die Mitte bis rechts sind die Menschen aus unterschiedlichen Gründen davon überzeugt, die Situation sei ungenügend und verschlechtere sich dramatisch.

Dabei zeigen Statistiken, dass die Teilhabechancen von Minderheiten heute wesentlich besser sind als noch vor 20, 30 oder 50 Jahren – das gilt gleichermaßen für den Arbeitsmarkt, das Bildungssystem, die Wohnverhältnisse oder die Möglichkeiten politischer Partizipation.

Auch ein Blick in den Fernseher reicht, um das zu erkennen: Das Frühstücksfernsehen moderiert Dunya Hayali, die Nachrichten werden uns von Pinar Atalay oder Ingo Zamperoni vorgetragen, die besten Filme kommen von Fatih Akin.

Zu den gefragtesten deutschen Schauspielerinnen zählen Sibel Kekilli und Aylin Tezel und zu den besten deutschen Fußballern Mezut Özil und Jérome Boateng, in der Politik haben sich Aydan Özoguz, Serap Güler, Cem Özdemir oder Sevim Dagdelen in der Spitze etabliert – die Liste ließe sich fortsetzen.

Die Integration ist viel besser als in den 1990ern

Umso irritierender ist es, dass immer noch davon die Rede ist, es fehle an Vorbildern. Eigentlich sind diese nicht zu übersehen. Diese extrem erfolgreichen Menschen sind nur die Spitze des Eisbergs.

Im Schuldienst und in der Wissenschaft, bei der Polizei und in der öffentlichen Verwaltung, in der freien Wirtschaft und im Kulturbetrieb werden wichtige Aufgaben von Menschen mit Migrationshintergrund wahrgenommen.

Natürlich noch nicht so viele, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, aber viel mehr als je zuvor. War das in den 1990ern besser? Natürlich nicht. Dann müsste doch eigentlich alles gut sein.

Gelungene Integration führt zu mehr Konflikten

Doch das ist es nicht. Diametral entgegengesetzt zu dieser eigentlich offensichtlichen Entwicklung stehen die Wahrnehmung vieler Menschen und der allgemeine öffentliche Diskurs.

Das liegt zu einem großen Teil an falschen Erwartungen: der Erwartung nämlich, dass erfolgreiche Integrationspolitik zu einer harmonischeren Gesellschaft führe. Das Gegenteil ist richtig! Der Wandel geht einher mit zunehmenden Kontroversen und Konflikten.

Denn eine Verbesserung der Teilhabechancen in Bildungswesen und Arbeitsmarkt und der politischen Partizipation führt nicht zu Homogenisierung von Lebensweisen und zu gesellschaftlicher Harmonie.

Gelungene Integration war Anlass für Kopftuchstreit

Vielmehr machen die Menschen gerade durch gelungene Integration viel häufiger Differenz- und Fremdheitserfahrungen, unter anderem dadurch, dass sich Minderheiten insgesamt selbstbewusster zu Wort melden, ihre Interessen vertreten und eigene Ansprüche erheben. Verteilungs- und Interessenkonflikte können entsprechend zunehmen und sich symbolisch aufladen.

Aladin El-Mafaalani. Migrationsforscher und Bestsellerautor.
Aladin El-Mafaalani. Migrationsforscher und Bestsellerautor.
© Lutz Jäkel

Ein markantes Beispiel: Den Anlass für den sogenannten Kopftuchstreit bildete nicht ein Fall von Desintegration, sondern der Fall einer Frau mit Kopftuch, die als deutsche Beamtin ein Lehramt (übrigens für das Fach „Deutsch“) ausüben wollte.

Es gab offensichtlich kein Problem, solange lediglich muslimische Reinigungskräfte mit Kopftuch, die kaum Deutschkenntnisse hatten, an deutschen Schulen arbeiteten. Der Auslöser dieses Konflikts war gelungene Integration.

Integration über mehrere Generationen

Wie erklärt sich diese Veränderung? Die erste Generation der Einwandernden ist noch vergleichsweise bescheiden und fleißig und beansprucht keine volle Zugehörigkeit und gleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Kuchen. Sie sitzen überwiegend auf dem Boden beziehungsweise an Katzentischen.

Die ersten Nachkommen beginnen sich an den Tisch zu setzen und bemühen sich um einen guten Platz (soziale Positionen) und ein Stück des Kuchens (gesellschaftliche Ressourcen).

Nach einer länger andauernden Phase der Integration geht es dann nicht mehr nur um ein Stück des bestehenden Kuchens, sondern auch darum, welcher Kuchen auf den Tisch kommt. Die Rezeptur des Kuchens und die Regeln zu Tisch werden neu ausgehandelt.

Die Tischgesellschaft verändert sich

Was ist da über die Generationenfolge passiert? Integration im eigentlichen Wortsinn. Integration bedeutet, dass der Anteil der Menschen, die teilhaben können und wollen, wächst. Das bedeutet dann aber auch, dass der Anteil der Menschen, die ihre Bedürfnisse und Interessen selbstbewusst artikulieren, wächst.

Dies gilt auch für Frauen, Menschen mit Behinderung, Nicht-Heterosexuelle und zunehmend auch für Muslime und Menschen mit internationaler Geschichte. All diese „Gruppen“ sitzen am Tisch und verändern damit die Tischgesellschaft.

Gelungene Integration bezieht sich also erstens nicht nur auf Migration. Und zweitens steigert sie das Konfliktpotenzial in einer Gesellschaft. Das wirkt sich auch auf den Diskurs über Diskriminierung aus. Denn gesteigerte Teilhabe führt tendenziell zu einer stärkeren Wahrnehmung und Thematisierung von Diskriminierung.

Über Diskriminierung wird mehr gesprochen

Ein weiterer scheinbar paradoxer Effekt: Die Teilhabechancen verbessern sich und gleichzeitig wird viel mehr über Diskriminierung geklagt und diskutiert als vorher – und zwar nicht obwohl, sondern weil sich die Situation verbessert hat. Denn Menschen, die gut integriert sind und am Tisch sitzen, fordern gleichberechtigte Teilhabe ein.

Die gesteigerte Komplexität der Gesellschaft und das zunehmende Konfliktpotenzial erfordern daher einen Perspektivwechsel. Der Kitt, der die offene Gesellschaft zusammenhält, bildet sich aus Konflikten und dem konstruktiven Umgang damit.

Nötig ist daher eine Streitkultur, die nicht nur aus konstruktiven Streitregeln und -formen besteht, sondern zuallererst auf dem Bewusstsein fußt, dass Konflikte nichts Schlechtes sind. Denn die größten sozialen Innovationen hatten gesellschaftliche Konflikte als Ausgangspunkt – man denke an Demokratie, Sozialstaat, Bürger- und Menschenrechte und Naturschutz.

Aladin El-Mafaalani ist Professor für Erziehungswissenschaft und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Der Text gibt einen Einblick in sein im Jahr 2018 erschienenes Buch: Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt (Verlag Kiepenheuer & Witsch)

Aladin El-Mafaalani

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