Digitale Rekonstruktion von Aleppo: Suche nach der verlorenen Stadt
Ein kleines Nationalarchiv für Syrien: In Berlin arbeiten syrische Wissenschaftler an der digitalen Rekonstruktion ihrer Heimat. Ein Besuch im Projektbüro.
Als Kind besuchte Alaa Haddad häufig mit seiner Tante die Verwandten in der Aqaba-Nachbarschaft in der Altstadt von Aleppo. "Gewürze und Kräuter, die wir auf dem Weg gerochen haben, sind immer noch in meiner Nase", sagt der heute 32-Jährige. "Meine Tante ist inzwischen gestorben, Aleppo ist zerstört, aber diese Erinnerungen bleiben mir".
Alaa Haddad sitzt in einem Büro in der Kreuzberger Markgrafenstraße am Computer und arbeitet an der Dokumentation historischer Gebäude seiner Heimatstadt. Der Archäologe ist im Syrien Heritage Archive Projekt beschäftigt, einem 2013 gestarteten gemeinsamen Vorhaben des Berliner Museums für Islamische Kunst und des Deutschen Archäologischen Instituts. Finanziert vom Auswärtigen Amt entsteht seit 2013 ein Online-Archiv, in dem alle verfügbaren Materialien zum Kulturerbe in Syrien zusammengetragen werden.
Im vergangenen Jahr kam ein Vertiefungsvorhaben dazu, das von der Gerda-Henkel-Stiftung geförderte Aleppo-Projekt. Alaa Haddad, der 2013 aus Syrien floh und einen Masterabschluss in Archäologie der Universität Aleppo mitbrachte, fing 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Syrien-Archiv an. Heute arbeitet er in einem dreiköpfigen Team unter der Leitung des syrischen Architekten Issam Ballouz auch im Aleppo-Projekt. Parallel studiert Haddad an der Fachhochschule Potsdam, um sich im Fachgebiet Konservierung und Restaurierung historischer Gebäude und Denkmäler zu spezialisieren. "Unser Ziel im Aleppo-Projekt ist es, den Wiederaufbau der Altstadt vorzubereiten", sagt Haddad.
Heute ist Aleppo eine Geisterstadt
Aleppo war nicht nur die zweitgrößte Stadt in Syrien mit etwa drei Millionen Einwohnern, sondern auch die wirtschaftliche Hauptstadt des Landes. Die 5000-jährige Altstadt, in der unter anderem Hethiter, Assyrer, Mongolen, Mameluken, Osmanen und Araber ihre kulturhistorischen Spuren hinterließen, wurde 1986 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Zu den herausragenden Monumenten gehörten die über der Stadt thronende Zitadelle aus dem 11. Jahrhundert, die ab 715 n.Chr. erbaute Umayyaden-Moschee und das weltgrößte überdachte Marktviertel, der historische Souk.
Heute ist Aleppo eine Geisterstadt, schwer gezeichnet von Luftangriffen und Straßenkämpfen seit dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges im Jahr 2011. Ob Aleppo, oder auch Palmyra, Homs oder Rakka: Neben der menschlichen Tragödie, den mehr als 350 000 Todesopfern von Krieg und Verfolgung durch das Assad-Regime, seine Alliierten und Gegner, ist auch der Verlust an historischer Bausubstanz schier unermesslich. Fünf der sechs UNESCO-Welterbe-Stätten des Landes sind vollständig oder teilweise zerstört. Die Altstadt von Aleppo liegt der Einschätzung von Experten zufolge zu 70 Prozent in Ruinen.
Alaa Haddad und seine beiden Kollegen sind in ihrem Kreuzberger Büro, tausende Kilometer von Syrien entfernt, damit beschäftigt, Bilder der zerstörten Städte und Monumente, Fotos aus der Zeit vor der Zerstörung, historische Zeichnungen, und Stadtpläne in allen nur denkbaren Quellen zu suchen. Dazu gehören auch Aufnahmen von Aktivisten aus dem Internet, und von syrischen Archäologen, die ihre digitalen Schätze mit den Berliner Kollegen teilen und sich mit ihnen fachlich austauschen.
Bislang wurden bereits rund 300 000 Datensätze digitalisiert
Das Team vom Syrien Heritage Archive und vom Aleppo-Projekt klassifiziert das Material und ordnet es in zahllose Kategorien der stetig wachsenden Datenbanken ein. Bislang wurden bereits rund 300 000 Datensätze digitalisiert. Für Aleppo gibt es bisher Dokumentationen für etwa 50 Gebäude mit Fotos der Schäden. Sechs Gebäudekomplexe wurden detailliert erfasst und bewertet: Neben der Umayyaden-Moschee mit dem zerstörten Wahrzeichen Aleppos, dem quadratischen Minarett aus dem 11. Jahrhundert, gehört das vollständig zerstörte Khusrawiyya-Ensemble dazu. Dabei handelt es sich um den ersten religiösen Stiftungskomplex der Osmanen, bestehend aus Kuppelmoschee, Religionsschule (Madrasa), und einem Konvent für Schüler und Gelehrte.
Für das Archiv werden Grundrisse und Baupläne, aber auch Stadtpläne aus verschiedenen Perioden zusammengetragen. Ergänzt wird das Bildmaterial durch beschreibende Texte. Der materiellen Zerstörung wird so eine virtuelle Bewahrung entgegengesetzt. "Wir wollen unsere Kultur vor dem Vergessen schützen", sagt Alaa Haddad.
Das Team lädt sämtliche Materialien in einer Bilddatenbank des Deutschen Archäologischen Instituts (iDAI.objects / Arachne-Bilddatenbank) hoch, die bislang nur für Wissenschaftler zugänglich ist. "Das Archiv ist wie kleines Nationalarchiv für Syrien", sagt Stephan Weber, Direktor des Museums für Islamische Kunst, und Leiter der beiden Projekte. Als wissenschaftliche Mitarbeiter in diesem und anderen Syrien-Projekten des Museums werden fast ausschließlich syrische Akademiker mit Berufserfahrung in der Region beschäftigt. "Sie kennen ihr Land und ihre Geschichte besser als wir. Und wir wollen nicht ihre Arbeit machen", sagt Weber.
Für ihre kulturhistorische Mission sind die insgesamt vier Projekte, die zur "Syrien-Initiative" des Museums gehören, soeben bei den Museum & Heritage Awards in London ausgezeichnet worden. Die Jury lobte den "beeindruckenen und zeitgemäßen" Beitrag zur Erhaltung des syrischen Kulturerbes, aber auch zur "Erinnerung an die globale Verantwortung" dafür.
Im Kreuzberger Projekt-Büro herrscht eine sehr intensive Arbeitsatmosphäre. Die Bilder und Texte sind nicht nur auf den Computerbildschirmen der Mitarbeiter zu sehen. Auf Tischen und Regalen liegen stapelweise Bildbände, Fotos und Fachliteratur, in denen Haddad und seine Kollegen immer wieder blättern. Bauhistorische Details, von denen sie viele aus eigener Anschauung kennen, werden im Team intensiv diskutiert – auch mit Stefan Weber.
Deutsche Archäologen unterstützen die beiden Projekte
Das Syrien-Archiv und das Aleppo-Projekt haben viele Unterstützer, darunter der Historiker Stefan Knost (Universität Halle), die Kunsthistorikerin Eva Maria Al Habib-Nmeir (Berlin) und der Berliner Denkmalpfleger York Rieffel. Eingebunden sind die beiden Vorhaben in das vom Deutschen Archäologischen Institut initiierte internationale Netzwerk "Stunde Null – Eine Zukunft für die Zeit nach der Krise", bei dem es auch um die Rehabilitation zerstörter Kulturgüter im Irak geht.
Doch wann kann der tatsächliche Wiederaufbau beginnen? Der Zeitpunkt der "Stunde Null" für Syrien ist noch völlig unklar. Zwar fanden im August 2017 und im April dieses Jahres internationale Konferenzen zum künftigen Wiederaufbau statt. Sie blieben aber ohne konkrete Ergebnisse. "Am Wiederaufbau werden wir uns erst beteiligen, wenn es eine politische Lösung gibt", hat Bundesaußenminister Heiko Maas bei der Konferenz im April erklärt. Internationale Experten schätzen, dass der Wiederaufbau des Landes rund 180 Milliarden Euro kosten wird.
Syriens Machthaber Baschar al-Assad hat seit Ende 2016, als seine Truppen ganz Aleppo unter ihre Kontrolle brachten, über den Wiederaufbau der Stadt gesprochen. Dabei solle es um moderne Wohnviertel gehen, aber auch um die Rekonstruktion der Umayyaden-Moschee und ihres Wahrzeichens, des quadratischen Minaretts aus dem 11. Jahrhundert. Doch praktische Schritte wurden bis heute nicht eingeleitet. Gleichzeitig verkauft der Staat in Aleppo Grundstücke an Investoren aus Russland, dem Iran und China – eine zusätzliche Bedrohung für die historische Bausubstanz.
"Da die Zerstörung in Syrien noch nicht aufgehört hat, ist die Dokumentation des Schadens für die Rehabilitationsphase nach der Krise notwendig", sagt Alaa Haddad. "Das ist es, was ich heute für mein Land tun kann".