Von Tests bis zu Massenveranstaltungen: Das sind die fünf großen Corona-Baustellen
Nach den Lockerungen stehen Kanzlerin Merkel und die Länder-Chefs vor der komplizierten Frage: Was tun, um die neue Viruswelle zu brechen?
Zehn Wochen sind in einer Pandemie eine lange Zeit. So lange haben Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten nicht mehr miteinander über die weiteren Corona-Maßnahmen verhandelt. Nach dem letzten Treffen am 17. Juni hieß es: „Deutschland ist bisher im internationalen Vergleich erfolgreich durch die Coronavirus-Pandemie gekommen.“ Das lag auch am eng abgestimmten, gemeinsamen Vorgehen.
Doch über den Sommer haben sich – auch wegen nachlassender Bürger-Disziplin und unterschiedlichem Agieren der Länder – neue Probleme herauskristallisiert. Daher könnte es nach der Videokonferenz Merkels mit den Länder-Regierungschefs am Donnerstag wieder Verschärfungen und Nachbesserungen geben, um der neuen Virus-Welle zu trotzen. Im Prinzip gibt es fünf große Baustellen.
Baustelle 1: TEST-ENGPÄSSE
„Mit der Einrichtung von Sars-CoV-2- Testzentren für Einreisende an Grenzübergangsstellen ist das Testaufkommen in Deutschland im Vergleich zu den Vorwochen deutlich gestiegen“, vermerkt das Robert-Koch-Institut. Und was gut gemeint ist, schafft neue Probleme.
Die Politik ist ohne stringente Strategie in die Sommerpause gegangen, wohl wissend, dass die Sehnsucht nach dem Urlaub und Heimatbesuchen nach Monaten der Einschränkungen neue Risiken heraufbeschwört. In Nordrhein-Westfalen entfielen zuletzt bei den Reiserückkehrern über 50 Prozent der positiven Fälle auf Rückkehrer aus dem Kosovo und der Türkei, oft nach Familienbesuchen.
Das Hauptproblem bei den Tests: Man kommt an Kapazitätsgrenzen, gerade auch in Berlin - und in Bayern gab es bei der Umsetzung schwere Pannen. Der Virologe Christian Drosten empfiehlt dem Berliner Senat, wegen der Testmenge die kostenlosen Corona-Tests an den Flughäfen einzustellen; wegen der „weltweiten Kontingentierung der zwingend benötigten Reagenzien und Verbrauchsmaterialien“ gingen die Kapazitäten zur Neige. Schon jetzt könnten Berliner Labore die Diagnostik bei der geplanten Testung von Pflegepersonal in Alten- und Pflegeheimen nicht mehr durchführen.
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Nicht überall ist es so eng, Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sieht Testkapazitäten von rund einer Million pro Woche in Deutschland. Wurden vor einem Monat 570.746 Menschen in einer Woche getestet, sind es inzwischen 875.524 – bislang gab es in Deutschland schon rund zehn Millionen Tests.
„Das Problem der knappen Coronatests wird in den nächsten Wochen riesig werden“, meint der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Der Nachschub für die heutige Testkapazität fehle schon jetzt. „Im Herbst werden wir klar priorisieren müssen, wer einen Test bekommt.“ Er fordert schon seit Wochen, dass sich die Behörden nach dem Vorbild Japans auf sogenannte Cluster, also Häufungen von Corona-Infektionen, konzentrieren sollen, statt überall zu testen.
Übrigens machen die Engpässe Bundesligaspiele mit Zuschauern, für die es auch viele zusätzliche Tests bräuchte, in diesem Jahr ein Stück weit unwahrscheinlicher. „Wir brauchen endlich eine nationale Teststrategie. Da muss der Bund mehr Verantwortung übernehmen“, betont Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD).
Aus den Reihen der Ärzteschaft wird gefordert, neben den aufwendigen PCR-Standardtests neue Schnelltests wie in Großbritannien, rasch zuzulassen. Der RT-LAMP-Speicheltest für SARS-CoV-2 konnte das Virus in einer Studie in allen menschlichen Probentypen innerhalb von 30 bis 45 Minuten erfolgreich nachweisen – und er ist weit billiger.
Baustelle 2: MASSENVERANSTALTUNGEN
„Großveranstaltungen, bei denen eine Kontaktverfolgung und die Einhaltung von Hygieneregelungen nicht möglich ist, sollen mindestens bis Ende Oktober 2020 nicht stattfinden“, hatten die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten bei ihrem bisher letzten Treffen am 17. Juni beschlossen. Doch wegen der zunächst gesunkenen Infektionszahlen beschlossen viele Bundesländer Ausnahmen, hier gibt es erhebliche Unterschiede. In Berlin dürfen ab September wieder bis zu 5000 Menschen, etwa bei Open-Air-Konzerten, zusammenkommen, in Brandenburg gilt wie in vielen anderen Bundesländern eine Obergrenze von 1000, in Niedersachsen 500, in Rheinland-Pfalz 350.
In der Arena Leipzig haben Wissenschaftler im Rahmen des Forschungsprojekts „Restart19“ am Wochenende bei einem Konzert des Popstars Tim Bendzko analysiert, wie hoch das Corona-Ansteckungsrisiko bei Großveranstaltungen in Hallen tatsächlich ist. Simuliert wurden unter anderem unterschiedliche Abstands- und Einlassregelungen. Die Forscher untersuchten dabei das Verhalten von rund 1500 Besuchern, die mit Sendern ausgestattet worden waren. Während des Konzerts mussten die Besucher durchgehend Masken tragen.
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Er habe damit gerechnet, „dass sich alles etwas steriler anfühlt, wenn alle mit einer Maske vor einem sitzen“, sagte Bendzko hinterher. „Aber es hat uns richtig Spaß gemacht.“ Zum großen neuen Streitpunkt entwickelt sich der am 11.11. beginnende Karneval – vor allem der Sitzungskarneval in Sälen.
Baustelle 3: KLEINE VERANSTALTUNGEN, SPONTANPARTYS UND PRIVATE FEIERN
Auch hier wird viel experimentiert. In Thüringen dürfen öffentlich geförderte Theater und Orchester auch in geschlossenen Räumen wieder auftreten. In Bayern gilt laut Staatsregierung bei Veranstaltungen bei „zugewiesenen, gekennzeichneten Sitzplätzen“ die folgende Regelung: 400 Personen im Freien und 200 Personen in geschlossenen Räumen sind erlaubt. Ansonsten gilt eine Obergrenze draußen von 200 und drinnen von 100 Teilnehmern.
Zum Ansteckungsrisiko entwickelten sich zuletzt besonders Familien- und andere Feste, oft in Verbindung mit viel Alkohol. Hinzu kamen große Spontanpartys ohne Abstand und Mundschutz wie in der Berliner Hasenheide. Aber ein generelles Verbot wie von einigen Gesundheitsministern angedacht, ist kaum durchsetzbar.
Während Politiker wie Lauterbach fordern, dass Bund und Länder wieder mehr einheitliche Regeln brauchen, stemmt sich zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns Regierungschefin Schwesig gegen neue bundesweite Obergrenzen: „Ich würde die Entscheidung über die Höhe dieser Grenze lieber bei den Ländern belassen. Denn die Lage in Mecklenburg-Vorpommern ist eine andere als in Bayern oder Nordrhein-Westfalen.“
Auch der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann hält eine feste Personenobergrenze falsch: „Faktoren wie: wie viel Fläche ist vorhanden, wie gut werden die Räume belüftet, wie dicht sitzen die Menschen an den Tischen, müssen in die Verordnung einfließen“, sagte er dem Tagesspiegel.
Baustelle 4: MASKENSCHUTZ UND LÜFTUNGSFRAGEN
CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer kann sich eine verstärkte Maskenpflicht am Arbeitsplatz vorstellen, Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder pocht vor der Konferenz am Donnerstag auf eine bundesweit einheitlichere Linie bei der Maskenpflicht und bei den Bußgeldern für Verweigerer. Diskutiert wird zudem über ein Bund-Länder-Programm, um im Herbst und Winter über mobile Filteranlagen mögliche Aerosolkonzentration in Kitas, Schulen, Veranstaltungszentren, Betrieben und Gaststätten zu reduzieren und so die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.
SPD-Mann Lauterbach betont, schon mit einem Gerät für 500 oder 600 Euro könne die Virusgefahr in einem Klassenraum deutlich gemindert werden. Und es könnte helfen, die wirtschaftlichen Schäden nicht noch größer werden zu lassen.
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„Einer staatlichen Förderung des Einbaus von Filteranlagen zur Reduzierung von Aerosolbildungen stehe ich offen gegenüber“, betont zum Beispiel der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Georg Nüßlein (CSU). Wenn denn der positive Effekt wissenschaftlich belegt sei und die technischen Fragen hinreichend geklärt seien.
Auch der gesundheitspolitische Sprecher der Linken-Fraktion, Achim Kessler, betont, selbstverständlich sei so ein Programm sinnvoll. Aber auch hier stoße man an Kapazitätsgrenzen. „Daher muss eine Priorisierung erfolgen, was wo mit möglichst geringem Aufwand und mit möglichst großem Effekt gemacht werden kann. Dazu könnten übrigens auch öffentliche Verkehrsmittel zählen, zumal hier eine Kontaktnachverfolgung nahezu unmöglich ist.“
Baustelle 5: KOMMUNIKATION UND KOORDINATION
Nach anfänglicher Zurückhaltung hatte Kanzlerin Merkel im März die Initiative ergriffen und das Krisenmanagement auch öffentlich zu ihrer Chefsache gemacht. Wie in keiner Krise zuvor kommunizierte sie, bis hin zu einer Fernsehansprache. Die eindringlichen Mahnungen von Kanzlerin und Ministerpräsidenten und das bis Juni eng miteinander abgestimmte Bund/Länder-Vorgehen gelten als Erfolgsfaktoren dafür, dass so viele Bürger sich so diszipliniert verhalten haben.
Noch sind die Fallzahlen, die auch Ergebnis der Testzunahme sind, beherrschbar, Sorge bereitet die Dynamik wegen des nahenden Herbstes. „Bund und Länder müssen jetzt endlich wieder an einem Strang ziehen und Maßnahmen untereinander koordinieren“, betont Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt.
Nur so lasse sich das Vertrauen der Bürger und damit die Unterstützung für die Maßnahmen sichern. Damit die Politik auf weitere Wellen besser vorbereitet ist und weniger experimentieren muss, fordert sie einen unabhängigen Pandemierat, der ab sofort die Corona-Maßnahmen wissenschaftlich begleitet.
"De facto hat es seit dem Frühjahr, als sich einzelne Ministerpräsidenten gegenseitig überbieten wollten und sich der Bund dann genervt aus der Koordination verabschiedet hat, keine vernünftige Zusammenarbeit mehr gegeben", kritisiert die Grünen-Politikerin. "Das hat die Bemühungen zur Eindämmung des Virus und die Vorbereitung auf eine mögliche zweite Welle geschwächt."