Der Zugluft-Mythos erklärt: Kann Zug durch offene Fenster wirklich Erkältungen verursachen?
Macht Durchzug!, um Coronavirus-Aerosole loszuwerden, heißt es. Doch die Fenster bleiben bei vielen zu, schließlich droht ja eine Erkältung. Geht’s noch?
Fenster auf, Klimaanlagen an, Ventilatoren aufstellen – seit bekannt ist, dass Coronaviren über Aerosole in der Luft verbreitet werden, herrscht in Deutschland der Durchzug, Zugluft zieht durch jeden Raum, wehende Winde sind überall willkommen… Moment… Nein? Doch nicht? Im Gegenteil? In der S-Bahn verrammeln Menschen mit muffeliger Mimik die wenigen Fenster? Die Schulleiter erreichen böse Elternbriefe, ihre Kinder hätten sich in der „gefährlichen Zugluft erkältet”, die seit Schulstart stets durch die Klassenzimmer weht? Die Arbeitskollegin meint mit Ventilatorluft nicht leben und schon gar nicht arbeiten zu können?
In deutschen Landen hält sich kaum etwas so hartnäckig wie das Gerücht, dass „Erkältungen”, also etwa Schnupfen, ein geröteter, schmerzender Hals oder andere Atemwegserkrankungen, durch kühle Luftbewegungen verursacht werden könnten.
An dem Gerücht ist nichts dran.
Oder sagen wir wissenschaftlich korrekt: Dafür gibt es keinen stichhaltigen Hinweis. Damit eine Infektionskrankheit – und dazu zählen Schnupfen, Halsschmerzen, Husten – entstehen kann, braucht es Viren (zumeist Rhinoviren) und/oder Bakterien. Sie sind es, die zu den Symptomen wie laufender Nase, schmerzendem Rachenraum und mitunter auch Fieber und Gelenkschmerzen führen.
Das Märchen, dass irgendeine Form von Auskühlung des Körpers durch die Zug-, Ventilator- oder Klimaanlagenluft die Erkrankung auslösen würde, ist … eben nur ein Märchen.
Es ist vielleicht aufgrund der Beobachtung entstanden, dass eine Erkältungserkrankung oftmals mit einem Frösteln beginnt, ausgelöst durch die frühe Reaktion des Immunsystems mit Signalstoffen, die nicht nur Immunzellen, sondern auch die Wärmeregulation des Körpers beeinflussen.
Die „Erkältung": ein hartnäckiger Mythos
Soll heißen: Man steht noch in der S-Bahn, fühlt sich bis auf dieses Frösteln noch pudelwohl und zufällig sind die Fenster auf. Erst am nächsten Tag erliegt man dann den Viren so richtig – und dem Trugschluss, dass die „Zugluft” etwas damit zu tun gehabt hätte. Ein klassischer Fall von Korrelation statt Kausalität. Ein Mythos.
Aber nun ist es natürlich dennoch nicht ratsam, sich versuchsweise beim nächsten Wintersturm zwei Stunden lang nackt zweistelligen Minustemperaturen auszusetzen. Selbstverständlich kann der Körper dann gefährlich auskühlen und es drohen Erfrierungen und so weiter. Über Schnupfen haben sich Scott und Amundsen auf dem Weg zum Südpol aber, meines Wissens, nicht beklagt…
Im Ernst: Sicher können zu kühle Klimaanlagen oder ungeheizte zugige Klassenzimmer das Immunsystem in Mitleidenschaft ziehen, wie auch die Schleimhäute im Nasen- und Rachen-Raum, die entweder zu trocken oder zu kühl werden können, um ihre Schutzfunktion gegen Keime zu erfüllen.
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So zeigt eine Studie von Forschern der Yale University in den USA, dass sich Rhinoviren in Schleimhautzellen, die in einer gekühlten Zellkultur im Labor wuchsen, besser vermehren. Dennoch braucht es am Ende – Kälte und Zugluft hin oder her – nun mal solche infektiösen Erreger, um das auszulösen, was wir, fälschlich, „Erkältung” nennen.
Vorteile von Zugluft: mehr lüften gegen Viren
Und aktuell geht es hierzulande ja eher nicht um antarktische Temperaturen. Beim Durchlüften von Klassen, Bussen, Bahnen und Büros reden wir derzeit um sommerlich warme Luft, in den vergangenen Tagen bei um die 30 Grad Celsius. Da ist weder mit Auskühlung, noch mit Erfrierungserscheinungen des Immunsystems zu rechnen.
Im Gegenteil. Niemand kann es jetzt schon wissen, aber es ist durchaus plausibel, dass ein spürbares Mehr an Lüften, ein Mehr an Aufenthalten im Freien und Achten von Abstands- und Hygieneregeln und Maskentragen dazu führt, dass nicht nur Sars-CoV-2, sondern auch die üblichen Schnupfenviren es schwerer haben werden, sich zu verbreiten.
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Für Influenzaviren, die Auslöser der „echten” Grippe, deren Verbreitung seit Jahren gut überwacht wird, ist das bereits belegt.
Kampf gegen das Coronavirus: Wind, um den Sturm zu verhindern
Aber natürlich wird es – ganz egal wie viel wir lüften – weiter Schnupfenfälle und auch fiese Halsentzündungen und dergleichen geben. Dass jetzt, in den ersten Wochen der Schulzeit, eine erkleckliche Zahl an Kindern über Schnupfen oder Halsschmerzen klagt, kann indes mehrere Gründe haben: Zum einen besonders aufmerksame Eltern und Lehrer, die in den vergangenen Jahren die eine oder andere laufende Nase vielleicht nicht so recht ernst genommen haben, jetzt aber hinter jedem Unwohlsein Covid-19 befürchten. Zu Recht. Solche Aufmerksamkeit ist wichtig, verzerrt aber die objektive Wahrnehmung von Häufigkeit.
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Zum anderen kommen zum Schulanfang Kinder zusammen, die zuvor in unterschiedlichen Kitas oder zuhause waren, die nun fröhlich ihre verschiedenen Rhinovirus-Typen untereinander austauschen und deren Immunsysteme erst einmal die jeweils noch fremden Erreger kennenlernen müssen – was eben mit Schnupfen- oder anderen Atemwegssymptomen einhergeht.
Mit „Zugluft” dürfte die derzeitige Schnupfenhäufung, wenn es sie denn tatsächlich gibt, indes nichts zu tun haben. Lasst uns also die Fenster aufreißen, solange es noch geht und die eventuell herumschwebenden Coronaviren hinwegwehen, verteilen, ausdünnen, austrocknen, ausmerzen. Ganz einfach mit bewegter Luft, sei es nun Frischluft, Zugluft oder Wind. Um den Sturm zu verhindern.
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