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Staatsepidemiologe Anders Tegnell ist vom Kurs überzeugt.
© imago images/TT/Nilsson Nils Petter

Weniger Infektionen, kaum noch Tote: Schweden feiert Etappenerfolg in der Corona-Pandemie

Schweden wurde für seinen Kurs teils heftig kritisiert. Während sich in anderen Staaten die zweite Corona-Welle aufbaut, ist die Positiv-Rate dort nun niedrig wie nie.

Schweden hat in den vergangenen zehn Tagen im Schnitt nur noch je einen Covid-19-Toten verzeichnet. Dies sagte der Direktor der staatlichen Gesundheitsbehörde FHM, Johan Carlson, bei einer Pressekonferenz. Auch die Zahl der Patienten auf Intensivstationen habe sich deutlich reduziert. Aktuell würden landesweit noch 13 Menschen intensivmedizinisch behandelt.

Auch die Zahl der Neuinfektionen bleibe im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in Europa inzwischen weiter auf einem niedrigen Niveau, obwohl mehr getestet werde. „In der Kalenderwoche 36 hatten wir fast 126.000 Tests, davon waren nur 1,2 Prozent positiv“, sagte Carlson am Dienstag. Im Frühjahr hatte das Niveau noch über Wochen um die 19 Prozent gelegen.

Allerdings: Das Robert-Koch-Institut meldete am Mittwoch bei gut einer Million Tests in der Zeit vom 31. August bis zum 6. September eine Positivrate von 0,74 Prozent.

Die FHM – sozusagen das schwedische RKI – mit dem Staatsepidemiologen Anders Tegnell hatte sich in der Pandemie von Beginn gegen einen Lockdown ausgesprochen. Das Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern fuhr einen moderaten Kurs und ließ beispielsweise Schulen bis zur 9. Klasse, Geschäfte und auch die Gastronomie geöffnet. Die Regierung setzte stattdessen auf die Eigenverantwortung der Bürger sowie auf Abstandsregeln und ein gutes Hygieneverhalten. Eine Maskenpflicht hält Tegnell bis heute für überflüssig.

Besuche in Altenheimen sind verboten

Eine der Empfehlungen: Die Schweden sollten bei den geringsten Krankheitssymptomen zu Hause bleiben und nach Möglichkeit generell im Homeoffice arbeiten. Diese Empfehlung der FHM wurde bereits auf den Herbst ausgedehnt. Ein wirkliches Verbot gab und gibt es für den Besuch von Altenheimen – dies trat Anfang April in Kraft – zu spät, wie Kritiker monierten.

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Die Strategie hinter dem international gern als „schwedischer Sonderweg“ bezeichneten Kurs war und ist, sich auf eine Verlangsamung der Virus-Ausbreitung zu konzentrieren, da sich der Krankheitserreger ohnehin nicht ausrotten lasse, wie Tegnell immer wieder betonte.

„Die Menschen haben ihr Leben ziemlich dramatisch verändert“, sagte Ministerpräsident Stefan Löfven vergangene Woche nach einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Berlin. Für eine endgültige Auswertung der Coronavirus-Krise sei es zudem zu früh, sagte Löfven. „Wir sind vielleicht noch mitten in der Pandemie.“

Schweden hat vergleichswiese viele Corona-Tote zu beklagen

Für ihren Ansatz wurden FHM und die rot-grüne Minderheitsregierung von Premier Stefan Löfven auch international heftig kritisiert – zumal das Land vergleichsweise hohe Fallzahlen verzeichnet.

Insgesamt gibt es Stand Mittwoch bisher 5842 Covid-19-Tote und 85.880 Infektionen – das sind 175 neue positive Tests mehr als am Vortag. Auf eine Million Einwohner berechnet liegt Schweden mit 573 Toten und 8402 Infektionen deutlich höher als die Nachbarländer Dänemark (108/3198) und Norwegen (50/2168) oder auch als Deutschland (113/3058). Diese Staaten waren alle in einen Lockdown gegangen.

Die Zahl der positiven Tests in Schweden liegt seit Ende August im Schnitt bei unter 250. Der deutliche Abfall der Kurve der Neuninfektionen seit Ende Juni sei „der Effekt der ergriffenen Maßnahmen, aber auch die Konsequenz aus der Spitze, die wir durch die vermehrten Tests in den Wochen vorher bekommen hatten“, erklärte Tegnell gegenüber dem Tagesspiegel.

Die Zahl der Covid-19-Toten führen die Verantwortlichen in Schweden vor allem auf die hohe Sterberate unter Pflegebedürftigen zu Beginn der Coronavirus-Krise zurück. Die Todesrate in den Heimen sei „schrecklich“, sagte der 64-Jährige. Offiziellen Angaben zufolge waren fast 80 Prozent der bisherigen Covid-19-Toten Pflegebedürftige.

„Unser großes Versagen lag im Bereich der Langzeit- und Altenpflege. Die regionalen Ämter hätten besser vorbereitet sein müssen, dann hätte es weniger Tote gegeben“, sagte Tegnell bereits vor Wochen. Eine von der Regierung eingesetzte Kommission soll unter anderem dies untersuchen.

[Mehr zum Thema: Warum Schweden von seiner Strategie überzeugt ist. Lesen Sie hier eine Zwischenbilanz.]

Zudem behauptete Tegnell schon in der Frühphase der Pandemie, die Zahl der Covid-19-Toten werde sich im Vergleich mit anderen Ländern im Verlauf der Pandemie angleichen. Ob sich diese These bewahrheiten wird, bleibt abzuwarten.

Tegnell erwartet einen ruhigen Virus-Winter in Schweden

Fakt ist, Schweden steht aktuell mit Blick auf das Infektionsgeschehen besser da als andere europäische Staaten wie zum Beispiel Frankreich, Spanien oder Italien. Diese Länder verordneten einen harten Lockdown. Nach Lockerungen werden die Auflagen dort inzwischen wieder deutlich verschärft, weil die Infektionszahlen drastisch ansteigen und von der Regierung in Paris auch wieder mehr schwere Krankheitsverläufe erwartet werden.

Tegnell hatte bereits vor zwei Wochen die Ansicht geäußert, angesichts der Entwicklung der vergangenen Wochen, brauche Schweden keine Wiederholung der Situation wie im Frühjahr zu befürchten. „Im Herbst werden wir es wohl mit sehr lokalen Ausbrüchen zu tun haben“, sagte er.

Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:

Den lokalen Ausbrüchen solle mit einem klaren System für lokale Beschränkungen, Tests und Nachverfolgung der Infektionsketten begegnet werden. Eine flächendeckende Ausbreitung des Virus werde es nicht mehr geben. „Ich bin sicher, dass dabei die Immunität eine Rolle spielt, aber wie groß der Anteil ist, lässt sich zum heutigen Tag schwer beurteilen. Um dies zu analysieren, bedarf es mehr Zeit.“

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Tegnell war immer wieder vorgeworfen worden, für Schweden möglichst schnell die sogenannte Herdenimmunität angestrebt und damit bewusst Leben aufs Spiel gesetzt zu haben. Der Epidemiologe hatte mehrfach dementiert, dass dies Teil der FHM-Strategie sei.

Es gehe darum, dass Infektionsgeschehen so flach zu halten, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet werde. Wie in allen anderen Ländern klagte das medizinische Personal über extreme Belastung, die Intensivbetten waren in der Pandemie bisher allerdings nie alle belegt – auch weil die Kapazitäten ausgebaut wurden.

„Unsere Strategie war konsequent und nachhaltig. Wir haben wahrscheinlich ein geringeres Ausbreitungsrisiko als andere Länder“, bilanzierte nun auch der Epidemiologie-Professor Jonas Ludvigsson vom Karolinska Institutet in Stockholm. Schweden dürfte seinen Worten zufolge nun eine höhere Immunität in der Bevölkerung haben als die meisten anderen Länder. „Ich glaube, wir profitieren jetzt stark davon“, betonte Ludvigsson.

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