Zweite Coronavirus-Welle in Frankreich: Mehr als zehn Mal so viele Neuinfektionen wie vor zwei Monaten
Frankreich meldet so viele positive Tests wie nie in der Pandemie, die Angst vor einem neuen Lockdown wächst. Und: Es werden mehr schwere Fälle erwartet.
In Frankreich findet gerade eine der größten Sportveranstaltungen der Welt statt – die Tour de France rollt. Doch statt der Radfahrer gerät nun die Pandemie im Land wieder mehr und mehr in den internationalen Fokus: Denn das Coronavirus breitet sich wieder rasant in Frankreich aus.
In den vergangenen 24 Stunden seien 8550 Neuinfektionen festgestellt worden, teilten die Gesundheitsbehörden am Samstagabend mit. Am Vortag war mit 8975 Neuansteckungen so viele positive Tests wie noch nie seit Beginn der Pandemie verzeichnet worden. Der bisherige Höchstwert wurde mit 7578 Fällen am 31. März verzeichnet.
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Auf dem französischen Festland breite sich das Virus weiter exponentiell aus, heißt es daher nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP von den Behörden. „Die Dynamik der stark zunehmenden Ansteckungen ist besorgniserregend. In Frankreich entwickelt sich die Viruszirkulation exponentiell.“ Seit Anfang Juli habe sich die Zahl der registrierten Patienten mehr als verdoppelt, die Zahl der Neuansteckungen liege sogar zwölf Mal so hoch wie vor zwei Monaten. Und der Gesundheitsminister warnt, es werde bald wieder mehr Patienten auf den Intensivstationen geben.
Mit jetzt 30.730 Covid-19-Toten ist das Land mit seinen knapp 67 Millionen Einwohnern eines der am schwersten von der Coronavirus-Pandemie betroffenen Länder Europas. Insgesamt sind bisher rund 347.300 bestätigte Infektionen registriert worden.
Wirklich klar wird das Ausmaß erst, wenn man auf die Zahlen pro eine Million Einwohner schaut. Hier verzeichnet Frankreich 459 Covid-19-Tote und 5184 bestätigte Fälle. Das sind sehr viel mehr als in Deutschland (112/3027).
Die Bilder aus Frankreich erschütterten im Frühjahr auch viele Menschen in Deutschland, die Angst vor einem ähnlichen Szenario wie im Nachbarland war groß. Zeitweise meldete Frankreich vierstellige Todeszahlen pro Tag. Die Kapazitäten der Intensivstationen waren erschöpft, Berichte über das Triage-Verfahren in Kliniken machten die Runde. Präsident Emmanuel Macron sprach von „Krieg“.
Nach ersten Gegenmaßnahmen im Februar zog die Regierung Mitte März die Notbremse und beschloss einen der schärfsten Lockdowns in Europa inklusive Ausgangssperren. Der Höhepunkt der ersten Ansteckungswelle war in Frankreich dann bereits Anfang April erreicht.
Danach konnte die Ausbreitung des Erregers Sars-CoV-2 weitgehend effektiv eingedämmt werden. Ende Mai fiel die Zahl der Neuinfektionen im Schnitt unter die Marke von 500 Fällen pro Tag. Die Lage schien beherrschbar.
Seit Mitte Mai wurden die Auflagen gelockert, das öffentliche Leben nahm wieder Fahrt auf. Treffen unter Freunden, in Cafés und Parks wurden wieder zur Normalität, die Schulen öffneten, nach und nach auch Kinos und Museen. Seit Mitte Juni sind Reisen vom und ins europäische Ausland wieder möglich.
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Eine Maskenpflicht gab es lange nur im öffentlichen Nahverkehr. Erst seit einigen Wochen ist sie in Geschäften ebenso Pflicht, auch am Arbeitsplatz müssen seit Anfang des Monats Masken getragen werden. Paris, Marseille und andere Städte ordneten eine Maskenpflicht auch im Freien an – eine der Reaktionen auf die veränderte Lage.
Nach Angaben der Gesundheitsbehörden wurden binnen einer Woche mehr als eine Million Tests vorgenommen. Der Anteil der positiven Tests stieg innerhalb einer Woche von 4,0 auf 4,5 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland ist die Positivrate trotz ebenfalls erheblich ausgeweiteter Untersuchungen auf 0,74 Prozent zurückgegangen. Doch der starke Anstieg der registrierten Fälle könne nicht allein mit der Ausweitung der Tests erklärt werden, hieß es am Samstag von den französischen Gesundheitsbehörden.
Warum die Zahl der Neuinfektionen in Frankreich aber so stark steigt, ist nicht ganz klar. Dass sich viele Urlauber nach dem Ende der Ferien testen lassen, gilt als ein Grund. Aber auch zunehmende Nachlässigkeit bei den Hygiene- und Abstandsregeln wird diskutiert. Auch illegale Feste – beispielsweise eines mit bis zu 10.000 jungen Menschen auf einem Feld in Südfrankreich oder Pool-Partys an der Côte d'Azur – werden als Ursache vermutet.
Wie die „New York Times“ berichtete, sind rund 30 Prozent der Neuinfizierten in Frankreich in einer relativ jungen Altersgruppe: zwischen 15 und 44 Jahren. Bekannt ist, dass junge Infizierte seltener schwere Symptome entwickeln. Auf der anderen Seite tragen junge Menschen ohne Symptome das Virus oft unbemerkt weiter – und können es auch in die gefährdeteren und älteren Bevölkerungsgruppen verteilen.
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In der Region in und um Paris ist das offenbar so: Anfang August sei eine Zirkulation des Virus in allen Altersgruppen beobachtet worden, auch in den Altersgruppen von 45 bis 65 Jahren und darüber, sagte Nicolas Péju von der Ile-de-France-Gesundheitsbehörde der Zeitung „Le Monde“.
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Nach Angaben des Leiters des medizinischen Zentrums Croix-de-Chavaux im Pariser Vorort Montreuil, Sébastien Bogajewski, handelte es sich derzeit oft um wenig symptomatische Fälle, meist bei den 35- bis 60-Jährigen. Wenn es nur wenige schwere Fälle gebe, werde man wie bei einer Grippeepidemie im Gesundheitssystem damit fertig, sagte er der Zeitung Mitte August. Allerdings: Das Problem sei, dass man es nicht wisse und auf Sicht fahre, sagte er.
Auch Mircea Sofonea, Epidemiologe an der Universität Montpellier, ist der Ansicht, die Situation sei nicht mit jener vor dem Lockdown vergleichbar. Die Todeszahlen und die Zahl der schweren Fälle in den Krankenhäusern sei weiterhin relativ gering, zitierte ihn die NYT Mitte des vergangenen Monats. Dem Bericht zufolge lag die Auslastung der Intensivstationen im April bei 140 Prozent, Ende der ersten Augustwoche bei sieben Prozent.
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Aber auch hier wird nun eine Trendwende befürchtet – und erwartet. Frankreich müsse wachsam bleiben, da in den nächsten zwei Wochen mehr Menschen auf Intensivstationen eingeliefert werden würden, sagte Gesundheitsminister Olivier Veran nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters am Samstag. „Wir befinden uns nicht auf der gleichen Epidemiewelle wie im vergangenen Frühjahr. Wir sehen einen langsameren Trend, aber es ist einer, der uns alarmieren muss“, sagte Veran.
In der vergangenen Woche seien täglich 55 Patienten auf Intensivstationen eingeliefert worden. Die aktuellen Zahlen der Krankenhauseinweisungen spiegelten Infektionen wider, die vor zwei Wochen erfolgt seien. „Es ist also offensichtlich, dass es in den nächsten 15 Tagen eine Zunahme geben wird, sie wird nicht massiv sein, aber es wird dennoch eine Zunahme der Anzahl schwerer Fälle und der Zahl der Krankenhauseinweisungen und Patienten auf den Intensivstationen geben“, sagte Veran.
Experten befürchten, dass die Infektionszahlen weiter steigen. Es deute in Frankreich derzeit nichts auf eine rasche Trendwende hin. Gemessen an der Sieben-Tage-Inzidenz – also der Anzahl der neu gemeldeten Ansteckungen aus dem Zeitraum der zurückliegenden sieben Tage im Verhältnis zur Bevölkerung – zeigen sich im Süden des Landes Spitzenwerte von gut 150 Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern.
Die Regierung hat bereits 21 Départements im Land als Risikogebiete klassifiziert. Dort herrscht erhöhte Ansteckungsgefahr. Diese sogenannten roten Zonen liegen vorwiegend – aber nicht ausschließlich – an der Mittelmeerküste und rund um die Hauptstadt Paris.
Für die Region Provence-Alpes-Côte d'Azur am Mittelmeer wie auch für den Großraum Paris gilt eine Reisewarnung der Bundesregierung. Nicht ausgeschlossen ist, dass sie auf ganz Frankreich ausgeweitet wird. Für Rückkehrer aus Risikogebieten gilt in Deutschland die Testpflicht, die mit entsprechenden Quarantäne-Auflagen verbunden ist.
Die Regierung in Paris steht nun vor der schwierigen Situation, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, ohne dass die Akzeptanz der Franzosen gegenüber den Corona-Auflagen noch weiter sinkt. Einen weiteren, landesweiten Lockdown möchte die Regierung unbedingt verhindern. Allerdings hat Premierminister Jean Castex erklärt, dass im Notfall Pläne für national geltende Beschränkungen bereitliegen. „Wir müssen jetzt einschreiten“, sagte er bereits Ende vergangener Woche.