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Zahlreiche Passanten sind auf der Schildergasse, einer der Haupteinkaufsstraßen Kölns, unterwegs.
© Marius Becker/dpa
Update

Reproduktionszahl und Neuinfektionen: Das Rätsel um den R-Wert

In Berlin liegt die Reproduktionszahl an drei Tagen hintereinander über 1,2 - eine „Corona-Ampel“ steht damit auf rot. Was sagt dieser Wert?

Von Carsten Werner

Der Wiederanstieg der sogenannten Reproduktionszahl in Berlin an drei Tagen hintereinander über die kritische Marke von 1,2 wird aufmerksam beobachtet, interpretiert und vielfach mit Sorge gesehen. Damit ist eine der drei Berliner Corona-Ampeln auf „rot“ gesprungen.

Politiker und Virologen hatten den in den vergangenen Wochen immer wieder zu einem der entscheidenden Kriterien für die Beurteilung der Infektionslage sowie der Maßnahmen gegen eine Verbreitung des neuartigen Coronavirus und möglicher Lockerungen erklärt.

Die Reproduktionszahl besagt, wie viele weitere Personen von einem mit dem Coronavirus infizierten Menschen - rein rechnerisch - neu angesteckt werden. Der Wert wird von Experten täglich neu anhand verschiedener Schätzungen berechnet. Die Angabe, wie viele weitere Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt, bildet dabei nicht die momentane Situation ab. Aus methodischen Gründen bezieht sich der Wert auf Infektionen, die schon vor einer gewissen Zeit stattfanden.

Der R-Wert bezieht sich nicht auf den heutigen Tag - er berechnet und beschreibt das Infektionsgeschehen von vor 8 bis 16 Tagen.

Deshalb ist der jeweils aktuelle Wert noch relativ unsicher und kann nach oben oder unten abweichen. Der R-wird wird erst rückwirkend verbindlicher und verlässlicher, weil zwischen Ansteckung und Erkrankung immer mehrere Tage bis zu einer Woche vergehen – und weil zwischen Erkrankung und Test, zwischen Test und Testergebnis bis zu dessen Übermittlung wiederum mindestens mehrere Tage vergehen: Man weiß also erst in etwa zwei Wochen, wie der R-Wert des heutigen Tages faktisch war – das macht ihn besonders bei insgesamt eher geringen Fallzahlen für Interpretationen relativ unsicher und für Sprünge nach oben oder unten anfälliger.

[Reproduktionszahl, Wachstumsfaktor, Nowcasting - hier erklären wir die Fachbegriffe der Corona-Pandemie und was sie bedeuten]

Auf Grundlage der Testergebnisse stellt der R-Wert dar, wie viele Menschen sich anstecken – er definiert also nicht direkt die Zahl der Erkrankten. Ein möglichst niedriger Wert ist wichtig, um Infektionsketten nachzuverfolgen und durch Quarantänemaßnahmen unterbrechen zu können. Die in den Statistiken angegebenen „aktiven Fälle“ werden momentan weniger, weil die tägliche Zahl der Genesenden die der Neuinfektionen derzeit übersteigt – die jeweils noch akut Erkrankten werden so momentan täglich etwas weniger. Laut RKI kann der R-Wert eigentlich nicht über längere Zeit über 1 liegen, während Zahl aktiver Fälle dauerhaft sinkt.

Während der R-Wert eine errechnete, technische Größe zur Interpretation der Zahlen ist, ist die Anzahl der akut erkrankten Menschen eine klar definierte, konkrete Zahl. Auch bei deren Darstellung und Deutung spielt aber der Zeitfaktor eine Rolle: Die jetzt genesenden Menschen, sind die Neuinfektionen von vor zwei, drei, vier oder mehr Wochen.

Deutschlandweit liegt der R-Wert seit einiger Zeit deutlich unter 1 - aber auch in diesem Zusammenhang ist er nur eine rechnerische Durchschnittsgröße. Laut dem Robert Koch-Institut (RKI) kann nicht abschließend bewertet werden, „ob sich der während der letzten Wochen sinkende Trend der Neuinfektionen weiter fortsetzt oder es zu einem Wiederanstieg der Fallzahlen kommt“. Das RKI hat immer wieder betont, um die Epidemie abflauen zu lassen, müsse die Reproduktionszahl unter 1 liegen. Anfang Mai lag der Wert nach RKI-Angaben über mehrere Tage zwischen 0,7 und 0,8, Mitte Mai war er über 1 gestiegen, inzwischen liegt er wieder darunter.

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Das RKI erklärte mehrfach, dass statistische Schwankungen durch insgesamt niedrigere Zahlen verstärkt werden - was seine Bedeutung und Interpretation schwieriger macht. Ohnehin sei der R-Wert immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, die Reproduktionszahl könne nicht alleine als „Maß für Wirksamkeit/Notwendigkeit von Maßnahmen“ herangezogen werden. Betont wurde aber: „Der Anstieg des geschätzten R-Wertes macht es erforderlich, die Entwicklung in den nächsten Tagen sehr aufmerksam zu beobachten.“

Dazu gehört, auch die absolute Zahl der täglichen Neuinfektionen. die Schwere der Erkrankungen, besonders betroffene Gruppen und Orte sowie die Verfolgbarkeit der Infektionsketten zu betrachten: Die absolute Zahl der Neuinfektionen müsse klein genug sein, um eine effektive Nachverfolgung von Kontaktpersonen zu ermöglichen und die Zahl der verfügbaren Intensivbetten nicht zu überlasten. Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro Tag ist nach einer RKI-Übersicht seit Anfang April - mit Schwankungen - insgesamt rückläufig gewesen.

R und sozialer Kontakt
R und sozialer Kontakt
© Tsp

Im Verlauf der vergangenen Wochen war die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Deutschland meist zur Wochenmitte leicht angestiegen, bevor sie am Wochenende wieder sank: Aufgrund der Meldeverfahren liegt die Zahl der durch Tests nachgewiesenen Neuinfektionen in der zweiten Wochenhälfte auch regelmäßig höher als am Wochenanfang.

Am Wochenende sind viele Meldungen nicht vollständig, innerhalb der Woche gehen offenbar auch mehr Menschen zum Arzt oder in Krankenhäuser, um sich testen zu lassen. Von Bedeutung ist dabei natürlich auch, wie viele Tests in einzelnen Regionen, Städten oder Betrieben überhaupt durchgeführt werden - und auch, ob diese wegen eines konkreten Infektionsverdachtes durchgeführt werden oder ob es beispielsweise Reihentests zur Arbeitssicherheit in ganzen Betrieben oder anderen Gruppen sind, wie sie zum Beispiel die Fußball-Bundesliga und viele Krankenhäuser derzeit durchführen.

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Wenn in Landkreisen oder kreisfreien Städten mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche registriert werden, müssen die Kreise mit konkreten Maßnahmen reagieren. In einer Zählung des Tagesspiegels zufolge, die auf aktuellen Daten aus den Landkreisen beruht, zeigt sich, dass nur einzelne Städte und Landkreise diesen Durchschnittswert noch überschreiten, viele aber zwischen 20 und 30 Neuinfektionen pro 100.000 ihrer Einwohner innerhalb einer Woche gezählt haben. Darunter sind derzeit (Stand 25. Mai 2020) zum Beispiel Regensburg, Osnabrück, Hof, Bremen, Gera und Frankfurt am Main.

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Mehr Ansteckungen durch mehr Bewegung?

Auch Dirk Brockmann, Experte für Modellierungen von Infektionskrankheiten an der Humboldt-Universität in Berlin, betont, dass der R-Wert nur eine grobe Schätzung und von vielen Faktoren abhängig sei. Trotzdem ließe sich etwa aus dem Anstieg von 0,65 auf über 1 Mitte Mai eine Hypothese ableiten. Brockmann geht davon aus, dass sich darin widerspiegelt, dass die Menschen bereits vor den damals erst gerade beschlossenen Lockerungen langsam zur Normalität zurückgekehrt waren - man traf sich wieder etwas mehr und sei generell mehr unterwegs gewesen. Das führte zu mehr Ansteckungen, so seine These. Generell müsse die Entwicklung des Infektionsgeschehens aber über einen längeren Zeitraum beobachtet werden. Bund und Länder hatten eine deutliche Lockerung der Coronavirus-Auflagen vereinbart, zugleich aber beschlossen, dass sofort wieder ein konsequentes Beschränkungskonzept umgesetzt wird, wenn in Landkreisen oder kreisfreien Städten mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche registriert werden. (mit dpa, AFP)

Korrektur: In einer vorigen Version dieses Textes stand, dass am vergangenen Freitag 1894 Neuinfektionen gemeldet wurden. Das ist falsch. Es waren 1164. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen. Alle aktuellen Zahlen finden Sie in unserer Übersicht.

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