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Zurück in der Klasse: Jetzt wird wieder gebüffelt.
© Symbolbild picture alliance / dpa
Update

Schwedens Schulkurs in der Corona-Pandemie: „Es gibt einige Leute, die denken, dass wir damit richtig lagen“

Beim Schutz der Alten hat man versagt, gibt Schweden zu. Aber die Strategie der offenen Schulen sei richtig, davon ist die Regierung weiterhin überzeugt.

Die Regierung hat sich in der Coronavirus-Krise stets bemüht, den Eindruck eines „schwedischen Sonderwegs“ zu zerstreuen. Es stimme nicht, dass in dem Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern im Norden Europas alles anders sei, sagte Außenministerin Ann Linde am 20. April: „Es ist ein Mythos, dass das Leben in Schweden so weitergeht wie gewöhnlich.“

Abgesehen davon, dass Geschäfte und Gastronomie die ganze Zeit geöffnet blieben, war eins definitiv anders im dem Staat am nördlichen Rand der EU: Für die Schüler bis zu Klasse 9 ging der Schulbetrieb bis zum Beginn der Sommerferien am 10. Juni weiter, nur für die älteren Schüler und Studierenden gab es Fernunterricht. Auch die Kindertagesstätten waren geöffnet.

Nach mehr als acht Wochen Ferien hat am vergangenen Mittwoch für rund 1,7 Millionen schwedische Kinder wieder der Schul- und Kitalltag begonnen. Und die Gymnasiasten unter ihnen kehren ebenfalls zurück in die Klassenzimmer.

„Das, was am meisten diskutiert wurde und was wir in Schweden anders gemacht haben, war, die Schulen nicht zu schließen. Inzwischen gibt es einige Leute, die denken, dass wir damit richtig lagen“, sagt Schwedens Premier Stefan Löfven nun in einem Interview mit der Tageszeitung „Dagens Nyheter“.

Auch die schwedischen Entscheidungsträger in der Pandemie mit dem Staatsepidemiologen Anders Tegnell von der nationalen Gesundheitsbehörde (FHM) an der Spitze, hatten erwogen, die Schulen zu schließen. Letztlich entschieden sie sich dagegen. Ein Kurs, der auch im Land durchaus umstritten war und ist – vor allem, weil Schweden sich zu einem Hotspot der Pandemie entwickelte und bisher 5810 Covid-19-Tote gemeldet hat. Das sind 568 pro eine Million Einwohner und damit fast so viele wie Italien (586).

Schwedens Epidemiologe Tegnell ist gegen Lockdown

FHM und Regierung setzten ansonsten auf Freiwilligkeit, forderten die Bürger auf, Abstand zu halten, soziale Kontakte zu minimieren, Ältere besonders zu schützen, Hygienemaßnahmen zu beachten, bei geringsten Krankheitssymptomen zu Hause zu bleiben und wenn möglich generell im Homeoffice zu arbeiten. Versammlungen von mehr 50 Menschen wurden untersagt, seit dem 1. April gilt ein Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen. Eine Maskenpflicht gibt es bis heute nicht.

Vor- und Nachteile verschiedener Maßnahmen müssten gegeneinander abgewogen werden, sagte Tegnell. „Man darf nicht vergessen, dass ein Lockdown auch gesundheitliche Folgen haben kann.“ Isolation und Quarantäne könnten Langzeitschäden an Körper und Geist auslösen. Und dies betreffe Kinder ganz besonders.

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Die Entscheidung, die Schulen offen zu halten, hatte auch einen klaren Vorteil für Familien – und die Gesellschaft. Beide Eltern konnten weiter arbeiten – und dass Mutter und Vater voll arbeiten ist in Schweden häufiger als in anderen EU-Ländern. Tegnell betonte immer wieder, wie wichtig dies besonders dafür sei, dass das Gesundheitssystem weiter funktioniere. Zudem blieb Kindern der Alltag erhalten; sie bekamen weiter das in Schweden kostenlose Schulessen. Besonders für Familien aus einkommensschwachen Schichten ein nicht zu vernachlässigender Faktor.

Inzwischen liegen auch erste Studien zur Verbreitung des Coronavirus bei Kindern in Schweden vor. Für eine haben Wissenschaftler der medizinischen Hochschule Karolinska-Institut bei Stockholm Fälle von Kindern untersucht, die in der Hauptstadtregion wegen einer Covid-19-Erkrankung behandelt wurden. Insgesamt gab es im Untersuchungszeitraum 13. März bis 14. Mai dort demnach 63 Fälle.

In der Studie heißt es, die Ergebnisse deuteten auf eine geringe Häufigkeit schwerer Erkrankungen aufgrund von Covid-19 bei schwedischen Kindern hin, „obwohl Kindertagesstätten und Grundschulen geöffnet blieben“. Dies lege nahe, dass die schwedische Strategie den Verlauf der Pandemie für Kinder in Schweden nicht verschlimmert hat, wenn man sie mit Ländern vergleicht, in denen es einen Lockdown gab.“

Zwei Studien zu Corona bei Kindern in Schweden

Die Auswirkungen der Strategie der offenen Schulen auf die Gesamtübertragung von Sars-CoV-2 innerhalb der schwedischen Gesellschaft seien jedoch unbekannt. Der potenzielle Grad der Übertragung von Covid-19 von Kindern auf Erwachsene und seine Folgen für Krankenhausaufenthalte und Todesfälle bei Erwachsenen würden den Rahmen der Studie sprengen, so die Wissenschaftler.

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In einer anderen Untersuchung wurden die Infektionsfälle von Kindern in Finnland, das in einen Lockdown ging, und Schweden verglichen. In beiden Ländern ist es unter Schulkindern im Alter bis zu 19 Jahren einem Bericht auf SFGate.com zufolge im untersuchten Zeitraum zu keinen messbaren Unterschieden in Anzahl beziehungsweise Häufung von Coronavirus-Fällen gekommen.

Infektionsärztin sieht kein erhöhtes Risiko für Lehrer

Hanna Nohynek, Chefärztin der Abteilung für Infektionskrankheiten der finnischen Gesundheitsbehörde und Mitautorin der Studie, die von den beiden nationalen Gesundheitsbehörden in Auftrag gegeben wurde, bewertet Ergebnisse so: „Es sieht derzeit so aus, dass Kinder viel seltener und weniger schwer an Covid-19 erkranken. Und auch ihre Rolle bei der Übertragung der Lungenkrankheit auf andere Menschen scheint erheblich kleiner als zum Beispiel bei Erkrankungen wie der Influenza zu sein.“ Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die negativen Effekte von Schulschließungen höher zu bewerten seien als die positiven Effekte, die eine solche Maßnahme bei der Eindämmung des Coronavirus habe.

Gut besucht: Eine Badestelle in Stockholm vergangene Woche.
Gut besucht: Eine Badestelle in Stockholm vergangene Woche.
© Fredrik Sandberg/TT News Agency/AP/dpa

Hierfür spricht, dass finnische Kinder nach zwei Monaten Fernunterricht im Mai zurück an die Schulen gingen. Und anders als von Skeptikern behauptet, ist es seither nicht zu einer Steigerung, sondern zu einer weiteren Absenkung der nationalen Infektionsraten gekommen.

Auch ein erhöhtes Risiko für Lehrerinnen und Lehrer konnte im Untersuchungszeitraum nicht nachgewiesen werden. Dennoch warnt auch Nohynek, dass es für ein abschließendes Urteil viel zu früh sei. Es würden noch weitaus mehr Daten benötigt, um „die Rolle der Kinder bei der Übertragung von Covid-19 abschließend beurteilen zu können“.

Ähnliche Erfahrungen in Dänemark und Norwegen

Auch andere Länder im Norden Europas haben ähnliche Erfahrungen mit ihren Schulen gemacht. Island, Dänemark und Norwegen schlossen die Schulen, öffneten sie aber nach und nach wieder. Die Befürchtung, dies könnte eine neue Infektionswelle auslösen, hat sich in keinem der Länder bestätigt. Die Konsequenz: Abstandsregeln oder das Unterrichten in Kleingruppen wurden wieder aufgehoben.

Es gibt aber auch andere Studien – auf diese verwies am vergangenen Wochenende in einem Debattenbeitrag in der Zeitung „Dagens Nyheter“ (DN) kurz vor dem Schulstart eine Gruppe von 26 Forschern, darunter unter anderem Epidemiologen, Virologen und auch Lungenfachärzte. Viele der Unterzeichner kritisieren den Kurs der FHM seit Beginn der Pandemie.

Tegnell-Kritiker führen Zahlen aus Schweden an

Sie bemängelten in dem Beitrag, dass die FHM davon ausgehe, dass Kinder weniger schwer krank würden und sie weniger infektiös seien. Sie werfen der Behörde vor, Untersuchungen zum Beispiel aus Südkorea und den USA zu ignorieren, die ein anderes Bild zeichneten. Als ein Beispiel führen sie Israel an, das sich früh zu einem Lockdown entschloss, dann am 17. Mai neben anderen Teilen der Gesellschaft auch die Schulen wieder öffnete. „Zehn Tage später schoss die Zahl der Neuinfektionen in Jerusalem in die Höhe. Und 41 Prozent der positiv Getesteten waren 10- bis 19-Jährige“, schreiben die Forscher.

Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell.
Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell.
© TT News Agency/Ali Lorestani

Und die Tegnell-Kritiker verweisen auf Zahlen aus ihrem eigenen Land. In Schweden habe die Zahl der Neuinfektionen zehn Tage nach Ferienbeginn, als die Kinder aus den Schulen waren, abgenommen – von einem Sieben-Tage-Mittelwert von 1299 auf 395 Fälle am 14. Juli.

Zudem führen sie Daten an, die zeigen sollen, dass Kinder sehr wohl schwer erkranken können. Zwar hätten die meisten tatsächlich nur milde Symptome, aber 147 hätten in Kliniken behandelt werden müssen, 32 davon intensivmedizinisch, ein Kind sei gestorben. Zudem seien die Langzeitfolgen von Covid-19-Erkrankungen nicht bekannt. Die Unruhe, die es im Land vor dem Schulstart gebe, sei berechtigt.

„Wir wollen keine Schulen schließen“, sagt die Bildungsministerin

Es gibt zwar ein paar Empfehlungen für den Schulbetrieb seitens der rot-grünen Minderheitsregierung von Premier Stefan Löfven, auf die Bildungsministerin Anna Ekström am Mittwoch noch einmal hinwies – wie zum Beispiel Klassenräume umstrukturieren, Abstand halten in Kantinen und Bibliotheken oder zeitlich versetzte Anfangs- und Pausenzeiten. Sollte sich die Lage deutlich verschlimmern, könne für Gymnasien auch wieder Fernunterrichtet angeordnet werden. „Die Regierung ist bereit, Maßnahmen zu ergreifen, aber wir wollen keine Schulen schließen“, sagte Ekström.

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Die Wissenschaftler hatten in ihrem Artikel allerdings verpflichtende Maßnahmen für alle Schulen gefordert. Wenn von höherer Instanz nichts unternommen werde, um die Situation an den Schulen zu verbessern, sollten die Eltern ihre eigenen und andere Kinder schützen und Rücksicht auf das Schulpersonal nehmen: „Das macht man, in dem man darauf achtet, dass mein Kind einen Mundschutz trägt.“

Tegnell wettert gegen Maskenpflicht

Tegnell sagte zum Thema Maskenpflicht generell, er werde sie erst empfehlen, wenn es einen Beweis gebe, dass sie wirksam sind. „Das Resultat, das man durch die Masken erzeugen konnte, ist erstaunlich schwach, obwohl so viele Menschen sie weltweit tragen.“ Länder wie Spanien oder Belgien hätten ihre Bevölkerung Masken tragen lassen – trotzdem seien die Infektionszahlen hochgegangen. „Zu glauben, dass Masken unser Problem lösen können, ist jedenfalls sehr gefährlich“, sagte er der „Bild“ erst am 10. August. Vergangene Woche sagte er der Zeitung DN: „Lehrerinnen und Lehrer seien nicht stärker erkrankt als andere Berufsgruppen auch.“

Die Gastronomie wie hier in Stockholm an Ostern blieb geöffnet.
Die Gastronomie wie hier in Stockholm an Ostern blieb geöffnet.
© Imago Images/TT/Patrikx Österberg

Dass ein wichtiger Teil der schwedischen Strategie – Ältere besonders zu schützen - dramatisch gescheitert ist, hat Tegnell inzwischen mehrfach zugegeben. Offiziellen Angaben zufolge waren fast 80 Prozent der bisherigen Covid-19-Toten Pflegebedürftige. „Unser großes Versagen lag im Bereich der Langzeit- und Altenpflege. Die regionalen Ämter hätten besser vorbereitet sein müssen, dann hätte es weniger Tote gegeben“, sagte er der „Bild“.

Ein Punkt, der Tegnell immer wieder vorgeworfen worden ist, war, er wolle in Schweden so schnell wie möglich die sogenannte Herdenimmunität erreichen. Dies sei nicht die Strategie der Behörde FHM, entgegnete Tegnell stets auf diesen Vorwurf. Es gehe darum, die Zahl der Infizierten so gering zu halten, dass das Gesundheitswesen nicht überlastet werde.

Emails von Tegnell werfen Fragen auf

Im Gegensatz dazu stehen Emails Tegnells unter anderem an seinen finnischen Kollegen Mika Salminen, über die internationale Medien wie der britische „Guardian“ gerade berichteten. Demnach diskutierte Tegnell im Frühjahr das Konzept. Am 14. März schrieb Tegnell demnach an Salminen: „Ein Punkt, der dafür spricht, die Schulen offenzulassen, wäre, die Herdenimmunität schneller zu erreichen.“

[Warum Schweden von seinem Weg überzeugt ist, lesen Sie hier.]

Dies würde aber der Aussage widersprechen, dass Kinder keine große Rolle bei der Verbreitung des Virus‘ spielten. „Mein Kommentar bezog sich auf einen möglichen Effekt, nicht auf einen erwarteten“, teilte Tegnell dem Blatt zufolge dem schwedischen Journalisten Emanuel Karsten, der die Mails veröffentlicht hatte, mit. Dies sei Teil der Beurteilung der Angemessenheit der Maßnahme gewesen. „Die Schulen offen zu halten, um Immunität zu erlangen, war daher nie relevant“, schrieb Tegnell demnach.

Zahl der Neuinfektionen sinkt in Schweden

Ob und wenn ja, wie sich das Infektionsgeschehen durch den Schulbeginn verändert, wird nicht nur in Schweden genau verfolgt werden. Fakt ist, dass die Zahl der Neuinfektionen dort seit Anfang Juni deutlich sinkt. Mittwoch wurden 192 neue Fälle gemeldet. Zum Vergleich: In Deutschland registrierte das RKI 1510.

Aktuell kommen täglich einige Hundert neue positive Tests hinzu. Die Gesamtzahl der Infizierten liegt bei rund 85.220. Die Zahl der Covid-19-Toten ist auf wenige pro Tag zurückgegangen. Auf den Intensivstationen liegen heute deutlich weniger Coronavirus-Patienten.

Allerdings beobachtet die FHM einen leichten Anstieg der Infektionszahlen vor allem in Stockholm, wie der Chef der Behörde, Johan Carlson, am Dienstag sagte. Es sei zu früh, um zu sagen, ob es sich wieder um eine Trendwende handele. „Es ist aber absolut nicht unwahrscheinlich, dass es sich um einen Urlaubseffekt handelt.“

Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:

Zuvor hatte sich bereits Tegnell besorgt gezeigt, dass jüngere Menschen ein neuer Motor in der Pandemie sein könnten. Daten aus Schweden zeigen, dass in der Woche bis zum 9. August 40 Prozent der Infizierten 20 bis 29 Jahre alt sind. Und auch bei Teenagern nehmen die Infektionen zu, wie Tegnell sagte. „Es gibt mehrere Anzeichen, dass diese Gruppe den Empfehlungen nicht mehr so konsequent folgt“, zitierte die Zeitung DN Tegnell.

Für eine Bilanz der Coronavirus-Krise ist es zu früh

Dessen Kurs wurde auch in Deutschland von vielen heftig kritisiert, der Zusammenbruch des schwedischen Gesundheitssystems prophezeit. Dazu ist es nicht gekommen – und da auch das Land im Norden Kapazitäten aufgebaut und Erfahrungen gesammelt hat, ist es unwahrscheinlich, dass es noch dazu kommt.

Auf Twitter schrieb ein User: „Wer zuletzt lacht, lacht in Schweden.“ Für eine Bilanz ist es aber sicher viel zu früh. Fakt ist, dass Schwedens Wirtschaft auch getroffen ist, aber derzeit nicht so stark wie die der gesamten Eurozone.

Inzwischen wird hierzulande von allen Seiten bekräftigt, ein zweiter Lockdown sei nicht durchzustehen und müsse mit allen Mittel verhindert werden. Die Frage, die inzwischen immer häufiger gestellt wird, lautet: Wie viel Schweden steckt im aktuellen deutschen Weg?

Zu dem vermeintlichen „schwedischen Sonderweg“ schreibt der Hamburger FDP-Politiker und Professor an der dortigen International School of Management (ISM), Andreas Moring, in Beitrag für das Debattenmagazin „The European“: „Von genau diesen Erfahrungen, also den Erfahrungen des ,unverantwortlichen und gefährlichen‘ Kurses in Schweden, scheint nun ganz Europa und auch Deutschland zu profitieren. Und macht es den Skandinaviern nach. Natürlich ohne es so zu nennen (…).“

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