Kunststoff in der Atmosphäre: Mikroplastik ist überall – sogar in der Luft
Wissenschaftler weisen durch Proben in der Arktis nach, dass Kunststoffteilchen auch in der Luft schweben. Die Folgen für den Menschen sind unbekannt.
Plastik ist einfach überall. In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler kleinste Kunststoffpartikel nicht nur im Oberflächenwasser, sondern auch im Meereis und in der Tiefsee gefunden. Und Kameraaufnahmen belegen, dass die Menge von Plastikmüll auf dem Meeresboden der Framstraße bei Spitzbergen in den vergangenen 15 Jahren stetig gestiegen ist. Auch im Sediment ist er massenweise zu finden.
Bisher gingen Wissenschaftler davon aus, dass die Partikel dort vor allem über Meeresströmungen eingetragen werden. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ein Team von Forscherinnen und Forschern des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in Bremerhaven hat zusammen mit einem Kollegen des WSL-Instituts für Schnee- und Lawinenforschung in Davos nun herausgefunden, dass die Teilchen auch über große Distanzen in der Atmosphäre transportiert und dann aus der Luft ausgewaschen werden. Das passiert vor allem durch Schneefall. Und es führt dazu, dass Mikroplastik sogar im Schnee abgelegener Regionen wie den Alpen oder der Arktis zu finden ist. Ihre Ergebnisse haben die Forscher im Fachmagazin „Science Advances“ veröffentlicht.
Mikroplastik im Meer und der Atmosphäre
Bisher gab es zur Herkunft von Mikroplastik, etwa in der Arktis, vergleichsweise wenig Forschung. „Der Haupteintragsweg für die Partikel ist sehr wahrscheinlich der Golfstrom, mit dem sie sich etwa von Europa oder dem Atlantik weiter nach Norden bewegen“, sagte Melanie Bergmann, Erstautorin der Studie, im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Es gab bereits Hinweise, dass Mikroplastik auch in der Atmosphäre transportiert wird. Wissenschaftler hatten solche weniger als fünf Millimeter kleinen Teilchen etwa in den Pyrenäen und in der Nähe großer Städte in Frankreich und China nachgewiesen. Da bekannt ist, dass Schnee Verunreinigungen aus der Luft wäscht und mit zu Boden nimmt, beschlossen die Forscher, Schneeproben zu untersuchen. „Wir haben uns gedacht: Alles, was im Schnee ist, war vorher einmal in der Luft“, sagt Bergmann.
Insgesamt nahmen sie 21 Proben an verschiedenen Orten, darunter neun auf Eisschollen in der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen sowie fünf auf Spitzbergen selbst. Zum Vergleich analysierten sie Schnee auf Helgoland, in Bremen sowie den Bayerischen und den Schweizer Alpen. Dafür schmolzen sie den Schnee und filterten das Schmelzwasser. Die ausgefilterten Teilchen vermaßen sie mithilfe eines Infrarot-Spektrometers. Je nach Typ reflektieren und absorbieren verschiedene Materialien Licht unterschiedlich. So entsteht für verschiedene Arten von Mikroplastik gleichsam ein jeweils eigener Fingerabdruck.
Sehr kleine Partikel mit ungewisser Wirkung
Bei der Verteilung zeigte sich das erwartete Bild: Schnee aus Europa enthielt wesentlich mehr Mikroplastik als die Proben aus der Arktis. Die höchste Konzentration fand sich in einer der drei Proben aus den Bayerischen Alpen, nämlich 154 000 Partikel pro Liter. Aber auch auf den Eisschollen, die die Wissenschaftler per Helikopter anflogen, fanden sich die kleinen Kunststoffpartikel. Der höchste Wert lag hier bei 14 400 Partikeln pro Liter. Im Durchschnitt waren es in der Arktis 1800 Teilchen pro Liter.
„Uns haben diese Zahlen überrascht, so viel hatten wir nicht erwartet“, sagt Gunnar Gerdts, Meeresmikrobiologe am AWI und Mitautor der Studie. In der Nordsee habe man mit der gleichen Methode maximal Tausend Teilchen Mikroplastik pro Kubikmeter gefunden, also etwa ein Teilchen pro Liter, im arktischen Meerwasser etwa 0,5 pro Liter. Die nun gemessenen Konzentrationen im Schnee sind also um ein Vielfaches höher. Das liege vor allem daran, dass in den unterschiedlichen Medien auch unterschiedliche Mechanismen wirken. Der Vergleich mit den Zahlen anderer Forscher sei jedoch schwierig, sagt Bergmann.
Vielfach würden Partikel, die unter dem Mikroskop wie Plastik aussehen, per Hand aussortiert und dann verifiziert, dass es sich auch wirklich um Mikroplastik handle. So finden manche Wissenschaftler zum Beispiel nur Partikel über 100 Mikrometern Größe. „In unseren Studien zeigt sich allerdings, dass über 90 Prozent der Partikel deutlich kleiner sind und von diesen Methoden dann nicht erfasst werden“, sagt Bergmann.
Sie und ihre Kollegen konnten mit ihrer Infrarot-Methode Partikel bis zu einer Größe von elf Mikrometern nachweisen. Die meisten Partikel fanden sich in dem Bereich, der gerade noch erfasst werden konnte. Deshalb gehen Bergmann und ihre Kollegen davon aus, dass die Konzentrationen noch kleinerer Teilchen noch höher sein könnten.
Herkunft unbekannt
Die Art des Plastiks, das die AWI-Forscher fanden, unterschied sich stark. In der Arktis stießen sie etwa auf Teilchen aus Nitrilkautschuk, der etwa für Dichtungen und Schläuche verwendet wird, aber auch auf Acrylate und Reste synthetischer Farben. In der bayerischen Probe mit der höchsten Mikroplastik-Konzentration dominierten hingegen verschiedene Arten von Gummi.
Die Proben in Europa stammten aus frisch gefallenem Schnee. Bei jenen aus der Arktis könne man hingegen nicht genau sagen, wann er gefallen ist, sagt Bergmann. Trotzdem ist sie sicher, dass das dort gefundene Mikroplastik ebenfalls größtenteils aus der Luft stammt. Es sei auch „nicht wirklich überraschend“, selbst in der Arktis Mikroplastik nachzuweisen, wenn man wisse, dass auch Saharasand in der Atmosphäre über etwa 3500 Kilometer in den Nordostatlantik transportiert wird oder Weidenpollen innerhalb von drei Tagen von Mitteleuropa nach Spitzbergen fliegen kann.
Woher die gefundenen Partikel konkret kommen, könne man nicht bestimmen, sagt Gerdts. Auch, wie genau der Transport des Mikroplastiks in den höheren Luftschichten erfolgt und welchen Anteil er im Vergleich mit dem Eintrag durch Meeresströmungen hat, sei noch unklar. Der Verbreitungsweg über die Luft könnte aber eine Erklärung liefern, warum die Forscher in den vergangenen Jahren immer mehr Mikroplastik im arktischen Eis und in der Tiefsee gefunden haben.
Bergmann und Gerdts fordern deshalb, bei der weiteren Forschung zu Mikroplastik die Atmosphäre mehr in den Fokus zu rücken. Genauso wie mögliche Effekte auf den Menschen.
„Bisher wurde ich immer gefragt, was passiert, wenn wir Fische und Muscheln essen und damit Mikroplastik aufnehmen“, sagt Bergmann. Jetzt aber, da man wisse, dass Mikroplastik in der Luft transportiert werde, liege die Annahme nahe, dass Menschen die mikroskopisch kleinen Teilchen schlicht einatmen könnten.
Alle Fragen zu gesundheitlichen Folgen sind offen
Ob und in welchem Ausmaß sich etwa in der menschlichen Lunge Mikroplastik findet und welche möglichen Auswirkungen das hat, dazu gibt es immer noch kaum Erkenntnisse. In einer Studie postulierten Forscher vergangenes Jahr, dass es sowohl auf die Länge als auch den Durchmesser der Teilchen ankomme, ob sie in der Lunge verbleiben oder ausgehustet werden. Schon 1998 hatten Wissenschaftler Plastikpartikel im tiefen Lungengewebe von Menschen nachgewiesen. Und bereits 1975 waren in Gewebeproben aus Lungen von Arbeitern aus der Textilindustrie Ansammlungen von Fremdkörpern gefunden worden, die sich als Acryl-, Polyester und Nylonstaub entpuppten.
Als mögliche Mechanismen, wie Mikroplastik dem Menschen schaden könnte, werden etwa Entzündungsreaktionen und eine Erhöhung des Lungenkrebsrisikos diskutiert. Allerdings beziehen sich manche der wenigen Erkenntnisse in erster Linie auf Fasern, die – vor allem, wenn sie besonders lang sind – schlecht vom Immunsystem beseitigt werden können.
In ihrer aktuellen Studie, sagt Bergmann, habe man zwar Fasern mitgezählt, mit der verwendeten Methode aber nicht bestimmen können, woraus genau sie bestehen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung teilte auf Tagesspiegel-Anfrage mit, es lägen keine belastbaren Erkenntnisse zu toxischen Wirkungen von eingeatmetem Mikroplastik vor. Auch eine Risikobewertung für den Verzehr von mit Mikroplastik verunreinigten Lebensmitteln sei derzeit nur eingeschränkt möglich. Es gebe einfach zu wenige Daten.
Die Tüte von heute ist das Mikroplastik von übermorgen
Gunnar Gerdts betont denn auch, dass weitere Forschung dringend nötig sei. Ihn interessiert vor allem der Gehalt von Mikroplastik in der Atemluft. Deshalb habe man Kontakt mit dem Umweltbundesamt aufgenommen. Über dessen Luftmessnetz wolle man versuchen, mehr Daten zur Luftbelastung zu bekommen, in Ballungszentren etwa.
„Im Moment weiß man weder, wie viel Mikroplastik in der Luft ist, noch, welche Auswirkungen das Einatmen auf den menschlichen Körper hat.“ Ähnlich äußert sich auch der Umweltmediziner Wolfgang Straff vom Umweltbundesamt. Es seien schlicht „noch viele Fragen offen“.
Schon jetzt allerdings, sagt Gerdts, sei eines klar: „Ziel muss es sein, den Plastikverbrauch drastisch zu reduzieren, vor allem beim Verpackungsmaterial.“ Ein Plastiktütenverbot, wie es Umweltministerin Svenja Schulze derzeit fordert, wäre ein erster Schritt. Doch das Problem ist international. In anderen Ländern endet weitaus mehr Plastik in der Umwelt als in Deutschland. Doch auch hier sind es geschätzt mehr als 10 Prozent, die nicht recycelt oder sachgerecht verbrannt werden.
Ein Kollege, erinnert sich Gerdts, habe einmal gesagt, dass: „eine große Plastiktüte junges Mikroplastik“ sei. Denn einmal in die Umwelt gelangt, entsteht aus Plastik durch äußere Einflüsse – UV-Strahlung, Reibung, Wellengang – irgendwann immer Mikroplastik. Und das bekommt man nie wieder aus der Natur heraus.