Plastikflut im Ozean: Paradies mit 373.000 angespülten Zahnbürsten
Millionen Plastikteile haben Forscher an den Stränden der entlegenen Kokos-Inseln gefunden. Und das ist nur der Müll, der sich an der Oberfläche ansammelt.
Etwa 2000 ozeanische Inseln gibt es auf der Welt. Die meisten davon könnten Paradiese sein – aber selbst die entlegensten von ihnen sind voll von Plastik. An ihren Stränden wird der Kunststoffmüll sichtbar, der zu Millionen Tonnen die Weltmeere verseucht und an dem jeden Tag unzählige Meerestiere qualvoll sterben. Wie viel Abfall es genau ist, weiß niemand. Dabei sind möglichst präzise Zahlen von verschiedenen Orten der Welt wichtig: um die Entwicklung zu verfolgen, vor allem aber um der Politik Argumente für Maßnahmen gegen immer mehr Plastik zu liefern. Eine Forschungsgruppe um die Meeresbiologin Jennifer Lavers vom Institute for Marine and Antarctic Studies an der Universität Tasmanien hat solche Zahlen jetzt für die abgelegenen Kokosinseln ermittelt. An deren Stränden hat sie die Müllmassen abgesammelt, geordnet und gewogen. Den meisten Kunststoff fanden die Wissenschaftler dabei nicht etwa auf, sondern unter der Oberfläche, wie sie im Fachblatt "Scientific Reports" schreiben.
Einsame Strände als "Monitor" der Vermüllung
Für solide Schätzungen, wie viel Müll sich an den Küsten befindet, eignen sich größtenteils unbewohnte Inseln besonders gut. Sie dienen sozusagen als Monitor für die Vermüllung der Meere. Dazu gehören auch die Kokosinseln, die auch Keelinginseln genannt werden. Sie bestehen aus 27 kleinen Eilanden und liegen 2100 Kilometer nordwestlich der australischen Küste im Indischen Ozean. Dort sammelte Lavers im Jahr 2017 gemeinsam mit fünf anderen Wissenschaftlern etwa zwei Wochen lang systematisch Müll auf. Bei ihrer Arbeit erhielten die Forscher Unterstützung von lokalen Gruppen, Bürgerwissenschaftlern und Umweltprojekten. An 25 Stränden von sieben Inseln suchten sie eine Fläche von etwa 1100 Quadratmetern ab.
Um vergleichbare Ergebnisse zu erhalten, wandten die Wissenschaftler dabei eine Methode an, die Lavers bereits vor einigen Jahren entwickelt hatte, als sie Müll auf dem noch abgelegeneren Henderson Island im Südpazifik analysiert hatte. An der Strandoberfläche liefen die Forscher 30 mal sechs Meter große Areale ab, steckten Holzrahmen in die Erde und gruben sich bis zu einer Tiefe von zehn Zentimetern in den Sandboden vor. Außerdem untersuchten sie das mit Pflanzen bedeckte Gebiet im Hinterland der Küsten.
Den gesamten Müll sortierten sie penibel nach Abfalltyp und wogen ihn ab. In etwa zwei Wochen sammelten die Forscher mehr als 23.000 einzelne Stücke Müll mit einem Gewicht von annähernd 100 Kilogramm. Daraus rechneten sie anschließend die Abfallmengen für die gesamte Inselgruppe hoch. Sie schätzen, dass sich an den Küsten der Kokosinseln insgesamt rund 414 Millionen Stücke menschlichen Mülls angesammelt haben, mit einem Gewicht von 238 Tonnen. Plastik machte mit 95 Prozent den Großteil des gesammelten Unrats aus, gefolgt von Schaumstoff (drei Prozent) und anderen Müllarten (Glas, Metall, Holz und Stoff).
Einweg-Produkte machen 25 Prozent des Mülls aus
Bei etwa 60 Prozent der Fundstücke handelte es sich um Mikro-Abfall, also zwei bis fünf Millimeter kleine Fragmente. Das ist vergleichbar mit den Ergebnissen, die Lavers 2017 über Henderson Island veröffentlichte. Schuhe und Konsumgüter, die man nach dem Benutzen wegwirft (wie Lebensmittelverpackungen, Flaschen, Strohhalme oder Zahnbürsten) summierten sich auf 25 Prozent allen Mülls. Insgesamt könne man allein an den Stränden der Kokosinseln etwa 373.000 Zahnbürsten und fast eine Million Schuhe finden, schreiben die Autoren. Und das auf einer Inselgruppe, auf der nur etwa 600 Menschen leben. Laut den Autoren wäre das eine der höchsten Müllmengen, die bisher auf so abgeschiedenen Inseln gefunden wurde.
"Ich erforsche abgelegene Inseln seit etwa 15 Jahren, also habe ich dieses Ausmaß irgendwie erwartet", sagte Lavers dem Tagesspiegel. Auf den Kokosinseln habe sie allerdings besonders überrascht, wie viel Plastik sich unterhalb der Oberfläche der Strände fand. "Ich grub mich immer tiefer ins Sediment, und manchmal wurde es einfach nicht weniger", sagte Lavers. Die Autoren schätzen, dass nahezu 340 Millionen Abfallteilchen ein bis zehn Zentimeter unter der Oberfläche versteckt sein könnten. Diese Menge wäre etwa 26-mal so groß wie die des sichtbaren Abfalls. Die Wissenschaftler folgern daraus, dass bisherige Schätzungen die Müllmenge an den Stränden weltweit deutlich unterschätzt haben könnten, weil sie sich vor allem auf die Strandoberflächen konzentriert hätten.
"Das Sediment ist ein Archiv, in dem der Plastikmüll über lange Zeit konserviert wird", sagt Mark Lenz, Meeresbiologe am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Werde der Strand nicht durch Wellen oder Tiere umgewühlt, reichere sich der Kunststoff eben in der Tiefe an. Diese Erkenntnis sei für ihn daher wenig überraschend. Darüber, welche Effekte Mikroplastik auf Kleinstlebewesen habe, die dort leben, wisse man allerdings noch zu wenig. Eine mögliche Folge sei, dass dort abgelegte Eier von Meeresschildkröten sich nicht entwickeln können, weil die kleinen Plastikpartikel wärmeisolierend wirken und der Strand deshalb zu kühl bleibe.
Hochrechnungen über die Gesamtmenge des Mülls sind schwierig
Was die Gesamtmenge des ermittelten Mülls angeht, fällt Lenz eine Einschätzung schwer, da es weltweit nicht viele Studien gebe, die zudem wegen unterschiedlicher Methodik nicht gut vergleichbar seien. "Außerdem bleibt die Frage, wie akkurat die Hochrechnung tatsächlich ist", sagt Lenz. Schließlich habe man nur etwa ein Hunderttausendstel der Inselfläche abgesucht. Es komme darum ganz darauf an, wie gleichmäßig der Müll verteilt sei. Die Meeresbiologin Lavers betont, sie habe alles getan, damit ein repräsentatives Ergebnis entstehe. So habe ihr Team sowohl Küsten analysiert, die zum Ozean hin gelegen sind, als auch solche, die in Richtung der von den Inseln geformten Lagune zeigen, wo naturgemäß weniger Müll angespült wird. Außerdem habe sie sowohl Sand- und Steinstrände als auch das Hinterland untersucht.
Trotz möglicher Ungenauigkeiten sei die Forschung sinnvoll und wichtig, sagt Lenz. "Wir müssen das Plastikproblem im Meer und an den Küsten quantifizieren, das ist entscheidend, damit Politiker aktiv werden." Zwar seien Müllsammelaktionen nicht zuletzt deshalb sinnvoll, weil sie Menschen für das Problem sensibilisieren. Langfristig lösen lasse es sich aber nur, wenn man es an der Wurzel bekämpft. "Vor allem in Asien muss schnellstmöglich eine Infrastruktur geschaffen werden, die verhindert, dass noch mehr Müll in die Meere gelangt", sagt Lenz. Aktuell aber strömt weltweit immer mehr Plastik in die Ozeane. Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich die Menge in der Zeit von 2015 bis 2025 sogar verzehnfachen könnte.
Lavers ist es wichtig zu betonen, dass jeder Einzelne etwas dagegen tun kann. "Vor allem bei Gegenständen, die man nur einmal benutzt, sollte man sich Alternativen suchen, die nicht aus Kunststoff bestehen." So waren Einwegrasierer, Plastikgeschirr und Coffee-to-go Becher unter den Dingen, die sie am häufigsten am Strand der Kokosinseln gefunden habe. Manchmal stoße sie bei ihrer Arbeit auf so viel Müll, dass sie nicht mehr weiter arbeiten könne und eine Pause brauche. Jennifer Lavers sagt: "Diese Inseln verändern dich."