Digital Health: Mathe gegen Krebs: Krankheiten früher erkennen
Bei der Auswertung großer medizinischer Studien liefert die Mathematik notwendige Werkzeuge, um verlässliche Aussagen ableiten zu können.
„Die üblichen Impfungen halt.“ Die junge Mutter zuckt mit den Schultern. Sie ist mit ihrem Kind nach dessen Unfall in der Notaufnahme einer Klinik gelandet. Dort hat die Ärztin sie gerade gefragt, ob ihr Kind gegen Tetanus geimpft ist. Die Antwort findet sich im Impfpass. Doch der ist zuhause. Und auch dort ist er nicht immer leicht aufzufinden, wie die Kampagne „Deutschland sucht den Impfpass“ mit einfallsreichen Plakaten demonstriert.
Natürlich kann man als moderne Mutter die Seiten dieses gelben Büchleins – in dem nach den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation die Immunisierungen allesamt mit Datum und Stempel eingetragen sind – abfotografieren und für alle Fälle im Smartphone bei sich tragen. Noch besser wäre es allerdings, dort eine übersichtliche digitalisierte Liste zu haben. Und dazu verständliche, verlässliche Informationen zu den einzelnen Impfungen und ihrem Nutzen. Beides bietet eine App, deren Vorzüge kürzlich mit einer Studie belegt wurden. An der Publikation, die in den „Preventive Medicine Reports“ veröffentlicht wurde, waren Kinderärzte von der Charité, Mitglieder der internationalen „Vienna Vaccine Safety Initiative“ und Mitarbeiter des Berliner Robert Koch-Instituts (RKI) beteiligt.
Es geht auch darum, wie viele Kinderleben gerettet werden können
Nicht zuletzt wirkten aber auch Mathematiker vom Berliner Forschungszentrum Matheon mit. Gerade bei der Auswertung sehr großer medizinischer Studien, etwa wie hier im Bereich der Impfsicherheit, liefert die Mathematik die notwendigen Methoden und Werkzeuge, um verlässliche Aussagen ableiten zu können. Das mag zunächst sehr trocken klingen. Doch es geht auch darum, wie viele Kinderleben durch eine Impfung gerettet werden können. Und ob gut gemachte Informationsprogramme Eltern helfen, sich besser daran zu erinnern, welche Immunisierungen ihr Kind schon hatte. „Wir bieten die Mittel der Mathematik an als Werkzeug für Partner, die dann auf ihrem Gebiet mehr damit machen können“, sagt Tim Conrad, Leiter der Arbeitsgruppe „Medizinische Bioinformatik“ an der Freien Universität Berlin und der Gruppe „Bioinformatik in der Medizin“ am Zuse-Institut Berlin.
Durch die Zusammenarbeit mit dem RKI stießen die Mathematiker auf ein weiteres Gebiet, in dem ihre Werkzeuge gebraucht werden: Es geht darum, auf der Grundlage von Informationen aus anderen Regionen der Erde mittels statistischer Verfahren abzuschätzen, wann Influenza-Ausbrüche zu erwarten sind, wie früh Impfungen erfolgen sollten und welche Grippe-Erreger auf dem Vormarsch sind. „In diesen Bereichen können wir uns als Biomathematiker wirklich austoben“, freut sich der engagierte Wissenschaftler.
Im Unterschied zu der – ebenfalls bedeutsamen – reinen Mathematik sei anwendungsorientierte mathematische Forschung im öffentlichen Bewusstsein noch wenig präsent. „Dabei sollten wir den Kindern schon früh erzählen, dass man mit Mathe etwas in der echten Welt bewirken kann.“
In der Flut klinischer Daten gehen unscheinbare Änderungen leicht unter
Zu wenig bekannt ist wohl auch, dass heute zu dieser „echten Welt“ die „Omics“ gehören: neben dem menschlichen Genom, also der Gesamtheit der Gene, auch das Proteom, die Gesamtheit der Eiweiße, deren Produktion von den Genen gesteuert wird. Zu beidem können heute dank moderner Techniken in kurzer Zeit und mit immer weniger finanziellem Aufwand riesige Datenmengen erhoben werden. Das Proteom ist verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, weil Veränderungen in der Konzentration der verschiedenen Eiweißstoffe auf Krankheiten hindeuten können. In der Flut klinischer Daten gehen indes unscheinbare, versteckte Änderungen leicht unter. Setzt man sie aber miteinander in Beziehung, entsteht ein präziseres Bild. Die Mathematiker entwickeln hierfür Algorithmen, mit denen neue „Fingerabdrücke“ gefunden werden. Ziel ist es, Krankheiten anhand dieser Charakteristika früher zu erkennen.
Tim Conrad und seine Kollegen arbeiten dafür mit Wissenschaftlern internationaler Universitätskliniken wie der Berliner Charité und dem Inselspital in Bern zusammen. Gemeinsam mit Lungenspezialisten des Helios-Klinikums Emil von Behring in Zehlendorf haben sie sich zudem schon auf die Suche nach den charakteristischen Fingerabdrücken verschiedener Formen von Lungenkrebs gemacht. Bei dieser Krebsform stellt sich immer wieder die Frage, ob man nicht ein Screening für Menschen entwickeln kann, die zwar noch keine Beschwerden haben, aber zum Beispiel als Raucher besonders gefährdet sind.
Mediziner, Molekularbiologen und Mathematiker: Tim Conrad ist überzeugt davon, dass solchen gemischten Teams in der Erforschung von Krankheitsursachen sowie bei der Entwicklung von präziser Diagnostik und passgenauen Therapien die Zukunft gehört. Die Interdisziplinarität sieht er als Chance, aber auch als Herausforderung. „Wir sind ein Team, das verschiedene Sprachen spricht.“