zum Hauptinhalt
Verhängnisvoller Dreiklang. Am Entstehen krebserregender genetischer Veränderungen haben Vererbung, Zufall und Umwelt Anteil. US-Forscher berechneten ihre Bedeutung für 18 Tumorarten bei Frauen in Großbritannien. Deutlich wird, dass die Vererbung „riskanter“ Erbanlagen insgesamt eine eher untergeordnete Rolle spielt (links), während Lebensstil und Umwelt (rechts) einen deutlich größeren Einfluss auf das Krebswachstum haben. Insgesamt jedoch dominiert der Zufall (Mitte).
© Tsp/Schmidt

Neue Studie zu genetischen Mutationen: Krebs ist meist blanker Zufall

Eine neue Studie macht deutlich: Vererbung spielt bei den Ursachen von Krebserkrankungen nur eine untergeordnete Rolle. Schuld sind meist zufällige Kopierfehler.

Warum ich? Was habe ich falsch gemacht? Diese Fragen stellen sich vermutlich so gut wie alle Krebspatienten. Eine neue Studie gibt darauf eine provokante Antwort: In zwei von drei Fällen beruht der Tumor auf blankem Zufall, auf „Tippfehlern“ beim Kopieren der genetischen Information vor der Zellteilung. Auf gut Deutsch: Krebs ist meist Pechsache, ein schicksalhaftes Ereignis, an dem der Kranke völlig unschuldig ist.

Der Kopf hinter der Untersuchung ist kein Geringerer als der Amerikaner Bert Vogelstein, einer der bekanntesten und meistzitierten Tumorforscher. Zusammen mit zwei Kollegen von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore hat der Mediziner berechnet, welcher Anteil bei der Krebsentstehung jeweils auf das Konto von Vererbung, Umwelt und Zufall geht. Veröffentlicht sind die Ergebnisse im Fachblatt „Science“.

Mutationen sind Auslöser für Wucherungen

Als Ursache für Krebs gelten in erster Linie genetische Veränderungen, Mutationen. Sie sind Auslöser des ungehemmten und zerstörerischen Wucherns der Tumorzellen. Die Geschwulstentstehung ist ein meist langwieriger und stufenweiser Prozess. Jede Mutation, die ein wachstumsförderndes „Krebsgen“ entfesselt, macht die Krankheit wahrscheinlicher. Drei dieser Krebsgene sind erforderlich, um aus einer gesunden eine Tumorzelle zu machen – zumindest ist das die vereinfachte Grundannahme in der Modellrechnung der Wissenschaftler. In der Realität sind meist deutlich mehr mutierte Gene im Spiel.

Eine entscheidende Rolle spielen die Stammzellen des betroffenen Organs. Das sind jene Zellen, die das Gewebe erneuern, indem sie sich teilen. Nach der Teilung wird die eine der beiden Tochterzellen an das Organ „delegiert“ (etwa in die Darmschleimhaut), während die andere Stammzelle bleibt und sich bei Bedarf erneut teilt. Bei jeder Zellteilung kommt es zu durchschnittlich drei zufälligen Kopierfehlern beim Verdoppeln des Erbguts. Meist sind diese belanglos. Sie können aber auch aus einer harmlosen Erbanlage ein „Krebsgen“ machen. Befinden sich die Mutationen in der Stammzelle, sind diese besonders folgenschwer, da sie unter Umständen an Milliarden Tochterzellen weitergegeben werden.

"Es ist nicht Ihr Fehler"

Auf dieser Kopierfehler-Konstante fußt die erste Annahme der Wissenschaftler. Je mehr Stammzellen ein Organ hat, umso größer die Zahl der Mutationen – und demnach das Krebsrisiko. Einen solchen Zusammenhang konnten die Forscher eindeutig nachweisen, und das auf einer riesigen Datengrundlage. Sie sammelten Informationen von 423 Krebsregistern in 68 Ländern zu 17 Tumorarten und verglichen diese mit der Zahl der Stammzellteilungen. Wer Krebs habe, obwohl er stets gesund gelebt habe, könne sich durch dieses Ergebnis getröstet fühlen, sagt Vogelstein. „Es ist nicht Ihr Fehler. Nichts, was Sie getan oder unterlassen haben, war ursächlich für Ihre Krankheit.“

Im zweiten Teil ihrer Untersuchung gingen die Forscher der Frage nach, welchen Anteil die drei Faktoren Anlage (vererbte Krebsgene), Umwelt (zum Beispiel Rauchen oder bestimmte Viren) und Zufall (Kopierfehler) an den zum Krebs führenden Mutationen haben. Dieses Mal nahmen sie die Mutationen in 32 Krebsarten unter die Lupe. Mithilfe des Krebsgenom-Atlasses des Nationalen Krebsinstituts der USA sowie Bevölkerungsdaten des britischen Krebsforschungszentrums „Cancer Research UK“ entwickelten sie ein mathematisches Modell, um die drei Komponenten Erbe, Umwelt und Zufall auseinanderzuhalten.

Vorsorge ist trotzdem wichtig

Ergebnis: Betrachtet man alle 32 Tumorarten zusammen, so sind 66 Prozent der Krebsmutationen auf zufällige Kopierfehler, 29 Prozent auf Lebensstil und Umwelt und fünf Prozent auf Vererbung zurückzuführen. „Kopierfehler sind eine wesentliche Quelle von Krebsmutationen, die wissenschaftlich bislang unterschätzt wurde“, sagt der Mitautor und Mathematiker Cristian Tomasetti. Die Studie liefere eine erste Hochrechnung, um diesen Faktor abzuschätzen und einzuordnen. Dabei sehen die Forscher ihre Untersuchung im Einklang mit bisherigen Studien. Nach denen können annähernd 40 Prozent aller Krebskrankheiten durch gesunden Lebensstil und das Vermeiden schädlicher Umweltbedingungen verhütet werden. In den 60 Prozent der Fälle, in denen dies nicht gelinge, sind ihrer Ansicht nach meist zufällige Kopierfehler im Spiel.

Je nach Tumor sind die Einflüsse von Erbe, Umwelt und Zufall unterschiedlich groß. Beim Lungenkrebs sind 65 Prozent der krebserzeugenden Mutationen auf die Umwelt, vor allem das Rauchen, zurückzuführen, die restlichen 35 Prozent sind zufallsbedingt. Beim Prostata- oder beim Knochenkrebs und bei Hirntumoren dagegen sind mehr als 95 Prozent der krankmachenden genetischen Veränderungen Ergebnis zufälliger Kopierfehler.

Die jetzt vorgelegte Studie ergänzt eine erste, 2015 ebenfalls in „Science“ veröffentlichte Untersuchung um eine Vielzahl neuer Analysen und Ergebnisse. Die damalige Publikation hatte viel Wirbel und Verärgerung vor allem unter Gesundheitswissenschaftlern ausgelöst, die ihre Botschaft „Vorbeugung ist wichtig“ in Gefahr sahen. Die Autoren heben daher ausdrücklich hervor, dass auch ihnen dieses Ziel wesentlich ist. Schließlich könne man 40 Prozent der Krebsleiden durch Vorbeugung verhüten. Doch müsse künftig auch das rechtzeitige Entdecken und Behandeln mehr gefördert werden.

Zur Startseite