Forschungszentrum Matheon: „Berlin soll die Besten bekommen“
Das Forschungszentrum Matheon feiert sein 15-jähriges Jubiläum. Martin Skutella und Christof Schütte sprechen im Interview über Mathematik als Problemlöser, den Wettstreit um Talente und die Zukunft ihres Zentrums.
Herr Skutella, Herr Schütte, was ist die „Mission“ des Matheon?
SKUTELLA (S): Mathematik ist Motor für Innovationen. Der Ursprungsgedanke des Matheon war es, solche vorwiegend technischen Neuerungen durch Mathematik zu fördern. Das hat auch historische Gründe. Als das Matheon vor 15 Jahren als Forschungszentrum der Deutschen Forschungsgemeinschaft gegründet wurde, war durch die DFG kein Zentrum für reine Mathematik vorgesehen, sondern eines, das vorrangig anwendungsorientiert sein sollte, etwa in den Ingenieurwissenschaften. Wir haben mit ähnlichen Vorhaben konkurriert und den Zuschlag bekommen.
Gab es einen Mangel, ein „Zuwenig“ an Mathematik in Schlüsseltechnologien?
SCHÜTTE (SCH): Als das Matheon gegründet wurde, war dieses Defizit recht ausgeprägt. In 15 Jahren hat sich das grundsätzlich zum Besseren verändert. Mittlerweile ist die Mathematik in vielen Bereichen etabliert und wird auch von den Anwendern gesucht, um bei der Lösung schwieriger Probleme zu helfen. Die Mathematik hat einen ganz anderen Status bekommen.
S: Damals musste man Klinken putzen und die Leute in den Unternehmen davon überzeugen, dass die Mathematik helfen kann. Heute hat sich die Richtung geändert: Wir bekommen Anfragen, sind als Problemlöser gefragt.
Können Sie Beispiele nennen?
S: Da sind zum Beispiel Verkehrsprobleme in der Großstadt. Wir haben am Matheon den Berliner Busverkehr optimiert, ebenso wie den Taktfahrplan der U-Bahn. Beim Umsteigen verlieren die Fahrgäste jetzt weniger Zeit durch Warten auf den Anschlusszug. Aber das Ganze geht noch weiter, die technische Entwicklung schreitet schnell voran. Denken Sie etwa an Navigationssysteme auf Smartphones oder an entsprechende Geräte in Autos; da stecken eine Menge Mathematik und schnelle Algorithmen drin. Die Zukunft wird im Zeichen des autonomen Fahrens stehen, da kommen ganz neue Anforderungen auf die Verkehrssteuerung zu. Die Betreiber werden ganze Fahrzeugflotten durch unsere Verkehrsnetze jagen und sie vermutlich zentral steuern. Hier lässt sich die mathematische Spieltheorie anwenden: Viele „Spieler“ wollen ans Ziel kommen, jeder ist auf seinen eigenen Nutzen bedacht – und muss doch Rücksicht nehmen, wenn das System funktionieren soll. An Herausforderungen mangelt es also nicht!
SCH: Einer der großen Gasnetzbetreiber steckt in einem Projekt mit uns und lässt sich eine Art Navigator für Gasnetze bauen. Wie muss das Gas in die Pipelines gepumpt werden, damit überall das ankommt, was benötigt wird? Wo sollen die Pumpstationen und Verteilerstandorte liegen? Viele Einflüsse sind zu berücksichtigen, auch das Wetter spielt eine Rolle, weil es die Temperatur und damit die Flussgeschwindigkeit des Gases ändert. Am Ende sitzt jemand in einer Steuerzentrale und navigiert die Gasströme aufgrund unserer mathematischen Empfehlungen. Ein anderes Beispiel: Gemeinsam mit der Charité haben wir ein Schmerzmedikament ausschließlich am Rechner entworfen. Jetzt wird es in klinischen Versuchen getestet und hat sich bislang sehr gut bewährt.
Wo steht die Berliner Mathematik heute?
SCH: Da hat sich viel geändert. Das Matheon hat mit dafür gesorgt, dass Berlin eines der drei weltweiten Top-Standorte für angewandte Mathematik ist. Es gibt in der Stadt fünf mathematische Institute – drei an den Universitäten und mit dem Weierstraß- und dem Zuse Institut zwei außeruniversitäre Einrichtungen. Wir sind in den 15 Jahren zusammengewachsen. Heute ist weltweit von „der“ Berliner Mathematik die Rede. Wenn ich auf Konferenzen bin, steht auf meinem Namensschild manchmal „Berlin University“. Das ist die Sicht von außen!
S: Darauf sind wir stolz. Wir erreichen gemeinsam viel mehr als jedes einzelne Institut und können gemeinsam Erfolg haben. In dieser Hinsicht sind wir ein Vorbild für die Berliner Universitäten.
"Wir dürfen Google das Feld nicht kampflos überlassen"
Mit welchen Institutionen konkurrieren Sie?
SCH: Wenn es um angewandte Mathematik geht, sind sicher noch amerikanische Einrichtungen ganz vorn dabei, zum Beispiel das Courant-Institut in New York. Aber die haben einen anderen Schwerpunkt, kümmern sich mehr um finanzwissenschaftliche Fragen.
Welche großen Themen sehen Sie für die Zukunft?
S: Dass in vielen Bereichen Daten erhoben und gesammelt werden, verändert die Gesellschaft enorm. Da gibt es viele Herausforderungen.
SCH: Wir haben uns lange und sehr intensiv mit dem Thema „Mathematik in Schlüsseltechnologien“ auseinandergesetzt. Jetzt weitet sich der Blick, wir gehen stärker in Richtung Gesellschaftswissenschaften und Beratung von Unternehmen und Politik. Nehmen Sie das Beispiel Klimaerwärmung – da kann die Mathematik beim Erstellen von Prognosen helfen, etwa: Wie verändert der Klimawandel wirtschaftliche Prozesse?
Künstliche Intelligenz wird auch als Risiko wahrgenommen. Übernehmen die Maschinen eines Tages die Macht?
S: Natürlich ist das ein faszinierendes Thema, dass die Leute aus dem Kino kennen. Aber ich halte diese Horrorszenarien mindestens für die nächsten Jahrzehnte für völlig überzogen. Diese Technologien bieten wahnsinnige Chancen, die wir nutzen sollten. Nur, wenn wir die mathematischen Modelle verstehen, auf denen zum Beispiel das autonome Fahren basiert, können wir am Ende für alle zufriedenstellende Ergebnisse erzielen. Wir brauchen Verständnis für neue Technologien, um sie in eine sinnvolle Richtung zu entwickeln.
SCH: Ich glaube auch nicht, dass die Gesellschaft in 20 Jahren von einer Art Künstlicher Intelligenz beherrscht wird. Aber ich glaube schon, dass die Marktmacht bestimmter Unternehmen, die über globale Datenströme verfügen, weiter wachsen wird. Die öffentlich finanzierte Forschung darf Google das Feld nicht kampflos überlassen! Wir müssen hier präsent sein. Nehmen Sie das Beispiel Medizin: Da geht es nicht so sehr um den gläsernen Menschen, sondern eher darum, mit Hilfe einer guten Datenbasis Krebs viel früher als bisher zu erkennen. Mir wäre erheblich wohler, wir würden die entscheidende Forschung in öffentlich finanzierten Institutionen machen als sie privaten Anbietern zu überlassen.
Wie sieht es mit der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses aus?
SCH: Zusammen mit der Berlin Mathematical School, einer Graduiertenschule der Berliner Universitäten, sind wir da sehr gut aufgestellt. Wir wollen natürlich die wirklich Besten nach Berlin bekommen. Dabei hilft uns, dass die Stadt für junge Leute unglaublich attraktiv ist.
Und die werden dann von der Privatwirtschaft abgeworben?
SCH: Viele Abwerbungen freuen uns. Seit Bestehen des Matheon sind mehr als 100 unserer Mitarbeiter auf Professuren berufen worden. Das ist eine enorme Zahl! Aber viele gehen auch in die Industrie, bevor sie überhaupt ihre Abschlussarbeit fertig haben, da freut man sich nicht immer so. Wir können gar nicht so schnell ausbilden, wie uns junge Kollegen „weggekauft“ werden.
S: Andererseits erhalten wir erstaunliche Bewerbungen auf Promotionsstellen. Eine exzellente junge Mathematikerin bekommt dann von uns ein Angebot, und vielleicht noch eines aus Harvard und eines aus Princeton. Nicht selten kommt es vor, dass sich die Kollegin für uns entscheidet. Da sind wir natürlich stolz drauf!
Die Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist 2014 ausgelaufen, seitdem finanziert Sie das Land Berlin. Allerdings müssen Sie mit deutlich weniger Geld auskommen. Belastet Sie das?
S: Wir können leider nicht mehr alle guten Ideen entsprechend fördern. Aber wir befinden uns in einer Übergangsphase und hoffen, bei der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder erfolgreich zu sein. Uns schwebt ein Berliner Zentrum für Mathematikforschung vor, unter dem Namen „Math+“. Im September 2017 wurden wir aufgefordert, einen Vollantrag zu stellen. Im September 2018 fällt dann die Entscheidung, ob Berlin den Exzellenzcluster „Math+“ bekommt.
SCH: Wir hoffen, dass die Erfolgsgeschichte des Matheon damit weitergeht. Damit wir international bestehen können, braucht das neue Zentrum schon eine gewisse Größe.
Mathe als Schulfach ist nicht besonders beliebt. Aber Sie haben sich darum bemüht, das Fach in der Öffentlichkeit populärer zu machen.
S: Ich glaube, wir haben eine ganze Menge bewirkt, viele Initiativen waren erfolgreich. Unser mathematischer Adventskalender bietet schon seit mehr als zehn Jahren statt Schokolade kleine oder auch größere Matheaufgaben, die Oberstufenschüler herausfordern. Er ist ein Riesenerfolg! Inzwischen haben wir eine deutlich fünfstellige Zahl von Teilnehmern in der ganzen Welt. Der Kalender wird nun auch auf Englisch publiziert. Wir machen auch Veranstaltungen für ein breites interessiertes Publikum, etwa zum Thema Mathematik und Musik: „Mathe klingt gut“ hieß die. Wir präsentieren unsere Arbeit in der Urania und haben den „Matheathlon“ etabliert, bei dem Schüler laufen und dann Matheaufgaben lösen müssen, ähnlich wie beim Biathlon. Der erfreut sich großer Beliebtheit bei den Berliner Schulen.
SCH: An unserem Adventskalender haben mittlerweile etwa eine Million Schüler teilgenommen. Das zeigt: Mathe ist zwar bei manchen verhasst, aber es gibt auch Kinder, die sich interessieren. Man muss einfach die richtigen Angebote machen. In diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben sollte das Deutsche Zentrum für Lehrerbildung in der Mathematik, das wir zusammen mit der Telekom-Stiftung auf den Weg gebracht haben. Da geht es um moderne Methoden der Mathematikvermittlung.
Sie benutzen Mathematik als Werkzeug, um technische Probleme zu lösen. Was halten Sie von der Idee, dass unsere Welt und das ganze Universum letztlich auf Mathematik basieren? Diese Theorie vertritt etwa der Physiker Max Tegmark.
S: Schon Galileo hat gesagt, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist. Man kann viele Dinge in unserer Umwelt bis hin zum Universum mathematisch beschreiben. Aber es gibt auch Dinge, die dafür nicht zugänglich sind. Zum Beispiel die Musik: Einerseits gibt es da Überschneidungen – aber warum sie so faszinierend ist, kann die Mathematik nicht erklären.
SCH: Gödels Unvollständigkeitstheorem besagt, grob ausgedrückt, dass eine komplexe mathematische Theorie nicht aus sich selbst heraus als widerspruchsfrei bewiesen werden kann. Das heißt: Mathematik hat Grenzen. Mathematik ermöglicht eine objektive und sehr sachliche Sichtweise auf die Welt, das ist ihr großer Vorzug. Sie erlaubt keinen Selbstbetrug – entweder ein Sachverhalt ist richtig oder falsch, es gibt keine Grauzone. Man muss Farbe bekennen!
Das Gespräch führte Hartmut Wewetzer.
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