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Eine Studentin arbeitet zu Hause an ihrem Schreibtisch, auf dem Laptop läuft eine Videokonferenz.
© imago images/Marcel Mücke/M.i.S

Start ins zweite digitale Sommersemester: Macht wenigstens die Mensen und die Bibliotheken auf!

Hochschulen zwischen Lockdown und Lethargie: Das verkachelte Sommersemester darf nicht zur Normalität werden. Weckruf eines besorgten Professors.

Berlin-Dahlem, Frühjahr 2030: Sektkorken knallen an der früheren Rostlaube der Freien Universität, als das neue Zentrum für Gesundheitstechnologie des Landes Berlin eröffnet wird. Schon ein Jahr früher hatte die Humboldt-Universität ihr ehrwürdiges Hauptgebäude Unter den Linden der Staatsbibliothek und dem Humboldt-Forum als Erweiterungsflächen zur Verfügung gestellt.

Denn im Fortgang der Corona-Pandemie hatte sich der Übergang in die virtuelle Universität am Anfang der 2020er Jahre Zug um Zug verfestigt. Studierende als Zoom-Kacheln, Lehrende und Verwaltung im Homeoffice – warum eigentlich nicht?

Das bleibt hoffentlich ein Schreckensszenario. Und doch befinden sich die Berliner Hochschulen auf dem Weg dorthin, wenn nicht bald andere Signale gesetzt werden. Das jetzt beginnende Sommersemester ist das dritte „Online-Semester“ in Folge; ein viertes im Wintersemester 2021/22 ist schon absehbar.

Die am meisten Vergessenen in der Pandemie

In ganz Deutschland gehören die Universitäten und die Studierenden zu den am meisten Vergessenen in der Pandemie. Der gegenwärtige Ruf nach einem „neuen Lockdown“ stößt angesichts ihrer Lage bitter auf. Denn die drei Millionen Studierenden sind nie aus dem Lockdown herausgekommen, der für sie nun schon mehr als ein Jahr andauert.

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In Berlin mit seinen knapp 200.000 Studierenden ist die Lage besonders beklagenswert. Landespolitik und Hochschulleitungen scheinen seit einem Jahr nach einem Prinzip zu verfahren, das lautet: Schutzschirm statt Unterstützung. Der Schutzschirm ist wohlfeil, er kostet scheinbar nichts und beruhigt das Gewissen.

So ergießt sich eine Flut von Wohltaten über die Studierenden: Nicht bestandene Prüfungen gibt es nicht; Fristen für Hausarbeiten werden „gehemmt“, sprich: auf Monate ausgesetzt. Ob das sinnvoll ist, fragt keiner.

Ein Porträtbild von Paul Nolte, der in einem Garten steht.
Unser Gastautor Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.
© Bernd Wannenmacher

Besser wäre es, Anforderungen und Motivation hoch zu halten. So wird Frustration produziert – und unnötige Studienzeitverlängerung. Die volkswirtschaftlichen Kosten für eine Akademikergeneration, die mit ein oder zwei Jahren Verzögerung in den Arbeitsmarkt tritt, sind lange nicht in die Corona-Kosten eingepreist.

Wo ist die Offensive des Landes und der Unis?

An konkreter Unterstützung, an der Bereitstellung einer pandemiegerechten Infrastruktur mangelt es dagegen eklatant, nicht nur für die Studierenden, doch sie tragen die größte Last. Zugleich ist hier das Berliner Versagen besonders auffällig. Landauf, landab haben Mensen geöffnet – mit Hygienekonzept, was denn sonst!

Ob im benachbarten Potsdam oder in München, mit dem sich Berlin wissenschaftlich so gerne misst: Essen können Studierende dort auch in den Semesterferien; das Minimum sind Angebote „to go“. Die Verweigerung des Berliner Studierendenwerks, das nach einem Jahr Pandemie gerade mal zwei Food-Trucks Studentenwohnheime ansteuern lässt (mit denen Berlin sowieso, als Folge jahrzehntelanger Versäumnisse, unterversorgt ist), ist ein stiller Skandal.

[Stimmen von Studierenden und Lehrenden vor dem zweiten digitalen Sommersemester: "Ich beiße mich komplett alleine durch"]

Nach dem Essen brauchen Studierende nichts dringender als einen vernünftigen Arbeitsplatz. Viele sind auf Bibliotheken angewiesen, weil es im WG-Zimmer oder bei den Eltern zu unruhig ist – das Lern- und Studierverhalten hatte sich längst vor der Pandemie in diese Richtung verändert. Nun fehlen die Arbeitsplätze. Bibliotheken mühen sich redlich.

Aber wo ist die Offensive des Landes und der großen Universitäten, an geeigneten Orten solche Plätze mit durchdachtem Hygiene- und Nutzungskonzept zur Verfügung zu stellen? Viel Platz, Tisch, Stuhl, Steckdose, W-Lan – fertig. Das soll nach einem Jahr Pandemie nicht möglich sein?

Studierende sitzen in einer Mensa, essen und unterhalten sich.
Mehr als Essen. Blick in die Mensa "Veggie-No 1" der Freien Universität Berlin (vor Corona).
© Kitty Kleist-Heinrich

Gewöhnung an eine Realität, die keine sein darf

All das sind Alarmzeichen für eine stille Gewöhnung an eine Normalität, die keine sein darf, an ein Verschrumpeln der Erwartungen. Es passt allerdings ins größere Bild des deutschen Krisenmanagements.

Von den Studierenden selbst hört man wenig. Ihnen fällt die Organisation und die Artikulation von Interessen, soziale Medien hin oder her, in der Pandemie extrem schwer. Mehr hören sollte man von den Hochschulleitungen – und von den Verbänden. Aber die treten im großen Chor der Corona-Debatte nur mit Piepsstimme auf.

[Lesen Sie auch unseren Bericht über die studentische Initiative #NichtNurOnline: Perspektive für die Rückkehr an die Uni gefordert]

Sie präsentieren der breiteren Öffentlichkeit gar ein schiefes, weichgezeichnetes Bild der universitären Verhältnisse. Die neueste Verlautbarung der Hochschulrektorenkonferenz (vom 18. März) spricht von einer „differenzierten Mischung von digitalen und Präsenz-Lehrangeboten“, zu der es „derzeit keine Alternative“ gebe. Mischung?

Sie kommen ins dritte Online-Only-Semester

Sicher, eine Prise Salz auf zehn Liter Suppe ergibt auch eine Mischung. In den Ohren der großen Mehrheit der Studierenden, die nun ins dritte Online-Only-Semester gehen, muss das wie Hohn klingen.

So kann es nicht weitergehen. Anderswo gelten die Hochschulen mehr als in Deutschland, und damit ist nicht zuerst eine höhere Priorität bei der Impfung gemeint. In Berlin sind die Studierenden offenbar auch im nationalen Vergleich auf den hintersten Platz gesetzt.

Die Folgen der virtuellen Universität, des Studierens aus dem WG-Zimmer aber sind hierzulande besonders gravierend. Denn Deutschland hat ohnehin ein Defizit im außerakademischen studentischen Gemeinschaftsleben. Freizeit, Sport, zivilgesellschaftliches Engagement ankern kaum an der Hochschule, und auch das ist in Berlin noch weniger der Fall als in Freiburg oder Jena, Greifswald oder Göttingen.

Studierende und Forschende sitzen in der Sächsischen Landesbibliothek.
Studentisches Lernen und Forschen hat sich seit langem von Privaträumen in die Bibliotheken verlagert.
© picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

So kann es nicht weitergehen, weil die Gewöhnung an die virtuelle Universität ein schleichendes Gift ist. So kann es nicht weitergehen, weil die Schäden schon jetzt erkennbar sind.

Eine Zeitlang sind Videokonferenzen des Fakultätsrats in Ordnung, aber auf Dauer beschädigen sie Institutionen, die immer auch des Schmiermittels persönlicher Nähe bedürfen. Man braucht keine großangelegte Untersuchung, um als Hochschullehrer zu erkennen, dass psychosoziale Probleme bei den Studierenden stark zugenommen haben. Diejenigen, die mit den schwächsten Ressourcen an die Uni kommen – pardon, sich vor den Bildschirm setzen –, materiell und im familiären Bildungshintergrund, leiden am meisten; die Ungleichheit wächst.

Die Pandemie lässt sich nicht weghexen. Aber mit einer Vogel-Strauß-Politik, in der sich die Berliner Akteure besonders wohlzufühlen scheinen, sollte man ihr nicht begegnen. Macht die Mensen auf! Schafft studentische Arbeitsplätze! Das verkachelte Sommersemester darf nicht zur neuen Normalität werden.

Paul Nolte

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