Debatte um Uniprüfungen im Digitalsemester: Klausur mit Überwachungskamera im WG-Zimmer
Zwischen Open book-Klausur und Videoprüfung: Im Digitalsemester wird mehr online geprüft. Sind die Anforderungen für Studierende in der Pandemie zu hoch?
Wenig Kontakt zu Mitstudierenden, ein noch immer eingeschränkter Zugang zu den Bibliotheken - und mit dem digitalen Semesterprogramm allein zu Haus. Die Coronakrise ist für die Mehrzahl der Studierenden, von denen viele auch noch ihren Nebenjob verloren haben, eine harte Prüfung. Doch jetzt läuft die eigentliche Prüfungszeit - ist sie womöglich noch härter?
Auf den ersten Blick wirkt vieles erst einmal lockerer. Weil Präsenzprüfungen wegen der geltenden Abstandsregeln vielerorts nur eingeschränkt möglich sind, bieten die Hochschulen bundesweit Open book-, Koffer- beziehungsweise Take home-Klausuren an. Dabei dürfen die Prüflinge "beliebige Materialien wie Bücher und Aufzeichnungen" verwenden, wie etwa die Universität Paderborn in ihren Bestimmungen zu digitalen Prüfformaten in der Pandemie festhält.
Das Setting einer solchen Klausur wird so beschrieben: Eine digitale Klausuraufsicht im Sinne von Überwachung ist nicht vorgesehen und ein Austausch der Studierenden untereinander wahrscheinlich. Deshalb seien für die Klausuren "offene Fragen mit komplexen Problemlösungen vorteilhaft", wird den Lehrenden geraten.
Hilfsmittel dürfen benutzt werden
"Die Studierenden müssen sich nicht identifizieren, dürfen Hilfsmittel benutzen, denn es geht ja um die Prüfung der Kompetenzen und um die Transferleistung", sagt auch Oliver Jahraus, Vizepräsident für den Bereich Studium an der LMU München, wo die Prüfungsphase noch bis in den September reicht.
[Lesen Sie als Plus-Abonnierende auch: Darauf müssen sich Studierende und Lehrende im Wintersemester einstellen.]
Doch was ist, wenn es um "echte Klausuren" geht, wenn beispielsweise in der Medizin anatomisches Wissen mit Fachbegriffen abgefragt wird, das angehende Ärztinnen und Ärzte parat haben müssen, ohne nachzuschlagen?
Präsenz- und Onlineprüfungen parallel
Für diese Fälle hat die LMU der Datenschutzbeauftragte des Landes Hinweise gegeben, denen die LMU folgen will. Die Universität muss die Präsenz- und Online-Prüfung parallel, also termingleich, anbieten. Wer einwilligt, sich bei der Online-Klausur mit einer Webcam kontrollieren zu lassen, kann zu Hause teilnehmen.
Wer das nicht möchte, schreibt die Klausur unter Aufsicht in einem Hörsaal - mit gebührendem Abstand zu den Kommilitonen. Allerdings sei das Parallel-Modell mit kameraüberwachten Online-Prüfungen und Präsenzklausuren sehr aufwendig, weshalb die Unileitung für Open book-Formate plädiere, sagt LMU-Vizepräsident Jahraus.
Hochschulen, die keine Option der Überwachung zu Hause haben, und trotzdem dem "Spicken" vorbeugen wollen, behelfen sich anders: "Über eine entsprechende Zeitbegrenzung und eine zufällige Reihenfolge der Fragen kann ein möglicher Austausch minimiert werden", heißt es aus Paderborn.
Erschwert werden soll die Kollaboration von Studierenden auch durch unterschiedliche Aufgaben-Sets, die immer nur eine Handvoll Studierender nach dem Zufallsprinzip erhält. Dabei kann allerdings nach der Klausur der Vergleich untereinander unterschiedliche Schweregrade zeigen - ein Gerechtigkeitsproblem.
Die Zeitbegrenzung kann online zur Falle werden
Auch die Zeitbegrenzung kann zur Falle werden, wenn die ohnehin überlasteten Netze die Prüflinge aus der Klausur werfen und sie kostbare Minuten verlieren, die am Ende für die Beantwortung der Fragen fehlen. In Paderborn soll in digitalen Prüfungsformaten sichergestellt werden, dass die Studierenden bei Netzproblemen ausreichend Zeit zur Problembehebung und einen telefonisch erreichbaren Ansprechpartner haben.
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Mündliche Prüfungen können ebenfalls digital stattfinden - per Videokonferenz. So geschieht es auch an den Berliner Unis. Die Universität Duisburg-Essen lässt sie nur für Personen zu, die coronabedingt nicht zu einer Präsenzprüfung erscheinen können.
"Vor dem Beginn der Prüfung muss der gesamte Raum einmal mit der Kamera überprüft werden", heißt es. Damit werde sichergestellt, dass sich keine weiteren Personen oder unzulässige Hilfsmittel in Reichweite befinden. Die Prüfenden haben das Recht, während der Befragung einen weiteren Kameraschwenk durch den Raum zu verlangen. Um digitale Einflüsterungen auszuschließen, sind Kopfhörer verboten.
Heikel beim Datenschutz
Wie auch immer digitale Prüfungen durchgeführt werden – sie bleiben aufwändig, beim Datenschutz ist es oft heikel. Auch deswegen findet an der TU Berlin die überwiegende Zahl der Prüfungen schriftlich und in Präsenz statt - "vor allem in den Bachelor-Studiengängen mit vielen Studierenden", sagt Hans-Ulrich Heiß, TU-Vize für Lehre.
Weil nicht so viele Studierende wie üblich in einem Hörsaal zugelassen sind - im Audimax nur 97 bei fast 1200 Sitzplätzen - ziehen sich die Prüfungen dieses Mal bis tief in den August. Die TU hat auch das Estrel-Hotel in Neukölln angemietet, um größere Gruppen auf einmal prüfen zu können.
Sind die Anforderungen an die Studierenden wegen der ungewöhnlichen Umstände und Prüfungsformate nun härter oder nicht? Dass die Bedingungen der Coronapandemie nicht zwangsläufig zu Einbrüchen bei den Leistungen führen muss, zeigte das Berliner Abitur: Es fiel sogar besser aus als in den vorangegangenen Jahren. Großflächige Erhebungen dazu fehlen aus den Hochschulen noch, die Prüfungszeit läuft ja schließlich vielerorts noch.
Stichprobenartige Einblicke zeigen ein disparates Bild. So sagt TU-Vize Heiß, am Notenschnitt und den Durchfallendenquoten habe sich bislang nichts geändert - repräsentativ sei das indes nicht.
Ein Eindruck: Viele Studierende melden sich ab
Womöglich liegt das aber auch daran, dass sich viele Studierenden derzeit gar nicht erst für Klausuren melden. Das hat Jurik Stiller beobachtet, Erziehungswissenschaftler im Grundschullehramt an der HU. Für das von ihm betreute Modul hätten sich überhaupt nur sehr wenige zur Prüfung angemeldet - was ihn umso mehr überrascht habe, als üblicherweise fast alle Studierenden ihre Lehrveranstaltungen direkt nach dem Semester mit einer Prüfung abschließen und viele die Regelstudienzeit in seinem Fach einhalten würden.
Von den 180 Teilnehmenden hätten bei ihm jetzt nur acht eine Prüfung abgelegt, sagt Stiller. Rechne man noch die Prüflinge seiner Kollegin dazu, kommt man zusammen auf höchstens ein Drittel der ursprünglich eingeschriebenen Studierenden. Ob das daran liege, dass die mündliche Prüfung dieses Mal digital per Videokonferenz stattfand oder womöglich schon der Stoff digital schwerer als sonst zu vermitteln war, kann Stiller nur spekulieren. Er hofft, dass seine Studierenden ihre Prüfung später nochmal angehen - und nicht komplett ihr Studium abbrechen.
Bis zu 50 Prozent Rücktritte in einzelnen Prüfungen
Auch die Historikerin Gabriele Metzler, Dekanin der Philosophischen Fakultät der HU, sagt, aus den Instituten ihrer Fakultät bekomme sie allererste Signale, dass die Zahl derjenigen, die von Prüfungen zurücktreten, höher ist als sonst. In ihren eigenen Lehrveranstaltungen bemerke sie allerdings "keine spektakulären Veränderungen", was etwa Hausarbeiten angeht: "Die Hälfte schafft es fristgemäß, die anderen haben gute Gründe, warum nicht und bekommen in der Regel eine Nachfrist."
Für die TU ergibt sich laut TU-Vize Heiß ein gemischtes Bild. Das Prüfungsreferat melde aktuell weniger Rücktritte als sonst. Bei großen Klausuren melden sich nach Heiß’ Eindruck vor Ort allerdings mehr Studierende als sonst in letzter Minute ab: Das betreffe 20 bis 50 Prozent der Prüflinge, normalerweise liege die Quote bei 20 bis 30 Prozent. Für die FU liegen noch keine Daten vor.
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Um die Anforderungen des Digitalsemesters abzufedern, haben einige Länder wie NRW befristet Freiversuche gestattet – sprich: wenn ein Prüfling durchfällt, zählt der Versuch nicht. Studierendenvertreter fordern das auch für Berlin vehement. FU, TU und HU lehnen eine solche Lösung aber ab. TU-Vize Heiß würde diese auch aus Gleichbehandlungsgründen für problematisch halten: "Studierende aus anderen Semestern könnten sich zurecht fragen, warum das dann nicht auch für sie galt."
Streit um Freiversuche
Im Akademischen Senat der HU kam es vor kurzem zu einer heftigen Debatte über das Instrument des Freiversuchs. Letztlich wurde ein Antrag der Studierendenvertreter, diese einzuführen, in eine zweite Lesung verwiesen, die erst im November sein wird. Für die Studierendenvertreter ist das ein „Schlag ins Gesicht“: „Wir sind enttäuscht, dass Universität und Land es bisher versäumt haben, diese Regelung einzuführen“, erklärten sie im Anschluss an die Sitzung.
Allerdings zeigten sie sich im AS wenig kompromissbereit. Vorschläge vonseiten der Professorenschaft, zunächst einmal zu evaluieren, ob sich tatsächlich weniger Studierende anmelden und die Noten schlechter ausfallen, und dann aus dieser Evaluation Konsequenzen zu ziehen, lehnten die Studierenden ab.
Für die HU-Historikerin Metzler sind Sonderregelungen für Prüfungen in diesem Semester nicht nötig: Die Lehrenden seien ohnehin "zu Kulanz bereit ohne Ende“. Ihrer Meinung nach wird viel zu selten thematisiert, dass eine generelle Freiversuchsregel für Lehrende nochmals Mehrarbeit bedeute - und das in einem Semester, das für viele der Kolleginnen und Kollegen bereits ein "Kraftakt ohnegleichen" war: "Es gibt Wiederholungsmöglichkeiten, wenn eine Prüfung nicht bestanden wurde. Aber den Lehrenden zu sagen, sie müssten Hausarbeiten darüber hinaus gegebenenfalls mehrfach begutachten, das möchte ich nicht verantworten."