Der "überflüssige" Lockdown?: Ja, der R-Wert sank schon vor der Kontaktsperre – aber...
Die Virusverbreitung, gemessen am Reproduktionswert R, ist derzeit wichtig für politische Entscheidungen. Um sie zu kritisieren, muss man R aber verstehen.
Gegen eine sachliche Debatte über mögliche und besser unmögliche Lockerungen der Kontaktbeschränkungen im Alltag in Deutschland. ist nichts einzuwenden. Sie ist auch deshalb nötig, weil Virologen und Epidemiologen zwar immer mehr Informationen über die Pandemie und das Virus sammeln, aber es eben auch Unwägbarkeiten wegen fehlenden Wissens gibt.
Wer aber etwa die Kontaktverbote in Deutschland ab dem 23. März als "überflüssig" kritisiert, weil sich das Virus, gemessen am Reproduktionswert R, schon vorher nur noch wenig verbreitet habe, der sollte verstanden haben, wie dieser Richtwert überhaupt zustande kommt und was er aussagt - und was nicht.
Hobby-Epidemiologen und die Reproduktionsrate R
Man kennt das Phänomen vom Fußball: Zu Weltmeisterschaftszeiten gibt es in Deutschland schätzungsweise 80 Millionen Experten, die es besser wissen als der Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft, was denn nun zum WM-Titel führt und was nicht.
Und derzeit fühlen sich offenbar viele, zumindest jene, die mit Zahlen umgehen zu können meinen, zum Epidemiologen oder Virologen berufen. So etwa der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg vom Institut für Öffentliche Finanzen der Universität Hannover.
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Er behauptet in einem inzwischen viel geklickten Youtube-Video, der Lockdown des Geschäftslebens in Deutschland sei unnötig gewesen, weil der Gradmesser für die Virusverbreitung, die Reproduktionszahl R, nach einer Grafik des Robert-Koch-Instituts schon vor Einführung dieser Maßnahmen auf etwa 1 gesunken sei. Der Lockdown habe „nichts gebracht“, weil der Wert seitdem in etwa bei 1 geblieben wäre.
Homburg liegt falsch. Ohne den Kontext, was der R-Wert, Infektionszahlen und ihr Zustandekommen bedeuten – wofür man nun mal epidemiologisches und virologischen Wissen braucht –, lässt sich die Grafik (siehe unten) nicht verstehen.
Der R-Wert des heutigen Tages etwa – 0,9 – kommt zustande durch ein Verfahren namens Nowcasting: Auf Basis der aktuellen Meldezahlen über Infizierte wird der Diagnose- und Meldeverzug eingerechnet und damit eine Prognose erstellt, wie viele Menschen bereits erkrankt sind, obwohl sie erst innerhalb der nächsten Tage und Wochen getestet, diagnostiziert und gemeldet werden. „Es ist also eine Echtzeitprognose“, eine Modellierung, sagte eine RKI-Sprecherin dem Tagesspiegel. Auf Basis dieses Nowcastings wird dann die Reproduktionszahl geschätzt.
Wichtige Verhaltensänderung der Bevölkerung schon vor dem Lockdown
Zuverlässig könne man R nur im Nachhinein bestimmen. Es gebe einen Verzug von zehn bis elf Tagen. „Dass R bereits am 22. März auf etwa 1 gesunken ist, wusste das RKI halbwegs zuverlässig frühestens Anfang April“, sagte die Sprecherin. Sobald diese dann nicht mehr prognostischen, sondern gesicherten Zahlen vorlagen, veröffentlichte das RKI sie in Form einer Grafik im „Epidemiologischen Bulletin“.
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Der Vorwurf Homburgs aber, der Lockdown sei gemessen an diesen R-Zahlen also gar nicht mehr nötig gewesen, ist nicht haltbar. Denn zum einen hat es bereits vor Beschluss der Kontaktverbote am 9. März die Absage von Großveranstaltungen gegeben und ab 16. März wurden die Schulen und Kitas geschlossen.
Und auch schon lange vor dem eigentlichen Lockdown gab es wichtige Verhaltensänderungen in der Bevölkerung – viele arbeiteten schon im Homeoffice, mieden Restaurants, Cafés und größere Veranstaltungen, wie Bewegungsstudien zeigen. Darauf weißt auch der bekannte TV-Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar in einem Video hin, in dem er auf Homburgs Behauptungen reagiert.
All das habe dazu geführt, dass man Hot Spots stilllegte, also Orte und Situationen, wo besonders viel Virus-Übertragungen stattfinden. „Das hat sich in der R-Zahl schnell widergespiegelt“, sagte die RKI-Sprecherin. „Und nur weil R mal unter 1 rutscht, heißt das nicht, dass sie dort stabil bleibt.“
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Die Kontaktverbote ab 23. März hätten dazu geführt, dass R so niedrig bleibt. Außerdem lag die Zahl der Neuerkrankungen damals noch um die 4000 bis 5000, was selbst bei einer geringeren Reproduktionszahl zu hoch sei, bei der nur ein Mensch einen weiteren ansteckt.
Das Gesundheitssystem würde dann immer noch überbelastet. „Man kann diese beiden Werte, R und die Neuerkrankungszahl, nie entkoppelt voneinander betrachten“, sagte die RKI-Sprecherin.
Die Kontaktbeschränkungen waren nötig, um den Erfolg der Schul- und Kitaschließungen und der Versammlungsverbote zu verstetigen. Denn man müsse ja trotzdem verhindern, dass sich wieder ein neues Cluster, ein neuer Hotspot bildet.
Außerdem wird der R-Wert über Deutschland gemittelt, das heißt, in einzelnen Regionen kann er durchaus bei 1,3 liegen. Und dass man in Deutschland die Pandemie wesentlich besser kontrollieren könnte, wenn R nicht in der Nähe von 1, sondern unter 0,3 läge, das dürfte jetzt jedem klar sein – mit Ausnahme von selbst ernannten Hobby-Epidemiologen, versteht sich.