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Christian Drosten, Direktor Institut fuer Virologie der Charité Berlin.
© imago images/Reiner Zensen

Virologe Drosten sieht Lockerungen skeptisch: „Wir sind vielleicht gerade dabei, unseren Vorsprung zu verspielen“

Sind geöffnete Malls jetzt wirklich sinnvoll? Christian Drosten kritisiert die Lockerungen der Corona-Maßnahmen und deren Auslegungen ungewöhnlich deutlich.

Eigentlich hält sich Christian Drosten mit eigenen Meinungen über politische Maßnahmen zurück. In seinem NDR-Podcast betonte der Charité-Chefvirologe stets, dass nicht Wissenschaftler, sondern Politiker die Entscheidungen fällen und dass er keine Position dazu einnehmen will.

Doch angesichts der von Bund und Ländern beschlossenen Lockerungen der Corona-Maßnahmen fand Drosten in seinem Podcast drastische Worte. „Ich bedauere es in diesen Tagen so sehr, dass wir vielleicht gerade dabei sind, unseren Vorsprung in Deutschland komplett zu verspielen“, sagte der Coronavirus-Experte.

„Man muss sich da schon fragen, ob das alles noch sinnvoll ist“, sagte Drosten im Bezug auf wieder eröffnete Shoppingmalls in Deutschland. Drosten betonte, dass Deutschland einen großen Vorsprung vor anderen Ländern habe. Man habe hier sehr früh angefangen, Corona-Fälle zu diagnostizieren und Distanzierungsmaßnahmen einzuführen.

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Andere Länder wie Frankreich hätten dies erst getan, als es bereits Todesfälle gab. Das bedeute aber, dass sie Maßnahmen mit einem Monat Verzögerung einführten; in etwa die Zeit von einer Infektion bis zum Tod. „In Deutschland haben wir diesen Monat nicht verpasst“, sagte Drosten. Bereits Ende Januar konnten alle Unikliniken im Land diagnostizieren, die Labore zogen schnell nach. Außerdem seien zufällige Tests durchgeführt worden.

So sei der Vorsprung zustande gekommen, den Deutschland eventuell gerade verspiele. Deutschland stehe als bevölkerungsreiches, transparentes Land an der Spitze der Statistik. „Jetzt sehen wir diese Geschichten von Einkaufsmalls, die wieder voller Leute sind“, sagte Drosten.

Er gab zu bedenken, dass der Lockdown in Deutschland sehr milde gewesen sei, insbesondere im Vergleich zu Ländern wie Frankreich oder Spanien, wo niemand mehr einfach so das Haus verlassen durfte. Trotz dieser milden Maßnahmen hätte man in Deutschland „unglaublich viel erreicht“. Nur deswegen sei etwa die Helmholtz-Gemeinschaft zu dem Schuss gekommen, dass in Deutschland die Möglichkeit besteht, das Virus fast komplett auszulöschen.

Die Politik habe sich gegen eine Auslöschung des Virus entschieden

Eine Fortsetzung des milden Lockdowns von nur wenigen Wochen hätte die Reproduktionsziffer R, die die Ansteckungsrate beschreibt, in einen Bereich von 0,2 herunterdrücken können. „Die Politik hat sich dagegen entschieden“, sagte Drosten. Es sei jetzt vor allem wichtig, R bei unter eins zu halten, dass also eine infizierte Person weniger als eine weitere Person ansteckt.

„Es ist sehr wichtig, dass uns das jetzt nicht entgleitet“, sagte Drosten. Wir seien in „einem fragilen Bereich“. Derzeit liegt R laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) wieder bei 0,9, einige Tage zuvor lag die Zahl noch bei 0,7. Wie der Epidemiologe Michael Meyer-Hermann führte auch Drosten diesen Wert auf die Osterwoche zurück, in der weniger Infektionen gemeldet worden seien.

Drosten kritisierte, dass es nun von allen Seiten der Gesellschaft „freie Interpretationen“ der Lockerungen gäbe, die von der Politik so wahrscheinlich nicht intendiert waren. „Ich sehe, wie viel Fantasie in allen Bereichen der Wirtschaft entsteht“, sagte der Virologe. Dabei dürfe es auch mit Masken und Abstand nach wie vor keine großen Ansammlungen von Menschen geben, wenn R nicht wieder über 1 steigen solle.

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Bereits jetzt eine deutliche Übersterblichkeit wegen Corona

Angesichts der vielen Einzelauslegungen würde er sich nicht wundern, wenn im Mai oder im Juni eine Situation entstünde, „die wir nicht mehr kontrollieren können“. Drosten wiederholte, dass sich die Grundvoraussetzungen der Pandemie geändert haben. Das Virus verbreite sich auch unter dem Deckel der Maßnahmen weiter im ganzen Land, die lokalen Konzentrationen würden langsam aufgelöst. Aufgrund von Lockerungen könnten plötzlich an vielen Orten gleichzeitig neue Infektionsketten starten. Außerdem würden zunehmend auch ältere Menschen betroffen sein, was zu höheren Todesraten führt.

Anhand von Statistik-Auswertungen der „New York Times“ und Zahlen aus Großbritannien lasse sich schon jetzt feststellen, dass es aufgrund des Coronavirus eine Übersterblichkeit gebe, also eine erhöhte Sterberate im Vergleich zu Vorjahren.

Man sehe, wie die Sterblichkeit in diesem Jahr deutlich hochschieße, sagte Drosten. „Das ist ein sehr deutlicher Effekt.“ In vielen Ländern gebe es eine Verdoppelung der momentanen Sterblichkeit. Damit sei auch mit dem Mythos aufgeräumt, dass Covid-19 nicht schlimmer als die Grippe sei.

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