Polemik zum Thema Gesichtsbehaarung: Bart ab!
Ohne Haare kein Gewinn am Kinn? Was früher nur was für Althippies und gestandene Faulpelze war, steht hier und heute für den kollektiven Individualismus der Mode-Geeks. Altgediente Gesichtshaarträger bringt das zur Verzweiflung.
Wenn ich aus dem Haus gehe, habe ich zwei Möglichkeiten. Rechts geht’s ins Brunnenviertel, in die Ausläufer des Wedding mit seinen grauen Neubauten, den Hörzu-Kiosken und türkischen Bäckern. Links, durch den Tunnel, zu den hübschen Altbauten und den Focaccia-Läden. Dort liegt neuerdings die verschärfte Gefahrenzone. Vollbartland. Flusennasenhausen.
Es ist ein echtes Problem geworden. Ich kann es nicht mehr sehen. Nein, anders: Ich kann MICH nicht mehr sehen.
Überall schaue ich mir selbst entgegen. Ich sitze in den Cafés und scrolle auf dem iPad; ich sitze vor dem Burgerladen und trinke Bionade; ich düse auf dem Hollandrad vorbei; selbst abends, in der Fußballkneipe, saß ich neulich schon da und hatte schlauerweise die letzten beiden freien Plätze für meine ebenfalls vollbärtigen Agenturkollegen reserviert.
Gerne schaut mir mein Bart in Kombination mit diesen runden Harry-Potter-artigen Hornbrillen entgegen. Und wenn dir die ersten Fashion-Models von den Plakaten in „Rasier mich Ken“-Optik nachstarren, weißt du, dass es wirklich zu spät ist. Ich hatte nie ein MacBook, ich hatte nie ein Start-up. Und jetzt haben sie mich doch gekriegt. Ich bin Teil dieses Teils dieser Stadt, der alles nach- und also gleichmacht. Kollektive Individualität – und ich mittendrin! Jetzt feiern sie auch noch den „Movember“, da lassen sich selbst gestandene Bart-Abstinenzler – immerhin nur – Schnurrbärte stehen und wollen damit für Spenden zur Prostatakrebsbekämpfung werben. Was kommt als Nächstes – der Bärtz? Geht Charity nicht auch ohne Bewuchs?
Dabei ging es doch einfach nur mit Faulheit los. Mit dieser Trägheit, die einen nur im Strandurlaub überkommt. Als ich damals, 2010, nach 14 Tagen zurückkam und in den Spiegel schaute, dachte ich, in aller Unschuld: Kann erst mal so bleiben. Kann ich morgens zehn Minuten länger liegen bleiben.
Als ich aus derart nichtigen Erwägungen zu meinem Bart kam, gab es in meinem Umfeld genau zwei weitere Vollbartträger. Der eine trug einen dunkelblonden Polarforscher-Pelz, Marke Fridtjof Nansen am 47. Expeditionstag, der andere das Modell Schifferkrause, also mit abrasiertem Schnauzteil, womit er irgendwo zwischen Abraham Lincoln und einem Fugger-Kaufmann lag. Früher, als ich klein war, hatten neben dem Weihnachtsmann genau zwei Typen einen Vollbart: der Räuber Hotzenplotz. Und Zachäus, der Zöllner, aus meinem Jesus-Bilderbuch.
Der Bart hilft beim Denken!
Und dann sah ich sie sich vermehren, die Gesichtshaare. Sie sprossen und sprossen, sie lauerten hinter immer mehr Ecken, aber erst in diesem Jahr ist die Grenze des Unerträglichen überschritten worden.
Ich habe versucht, da rauszukommen. Habe ihn wegrasiert, ratzeputz, vor ein paar Wochen. Die Reaktionen gespalten zu nennen, wäre Schönmalerei, „Konfirmand“ war noch eine der höflicheren. Nein, nicht nur die Menschen um mich herum, auch ich habe mich ja längst an ihn gewöhnt. Er hilft beim Denken, also auch beim Schreiben. Dieser Text wäre ohne ihn sicher nie entstanden.
Was also tun, wenn man durchaus seine paar Gründe hat, sich nicht täglich zu rasieren, wovon nur einer, wie ich seit neulich weiß, die unvorteilhafte Tendenz zum Doppelkinn ist? Ich könnte natürlich anfangen, die ganzen Möchtegern-Adorfs anzubrüllen, sie von ihren Milchkaffees aufzuscheuchen, vielleicht auch mit einer übergroßen Bastelschere drohen – aber solcherlei Übergriffigkeit liegt mir eigentlich nicht. Ich könnte Prenzlberg, Mitte und Kreuzkölln meiden, aber dann müsste ich immer über Moabit und Charlottenburg fahren, wenn ich irgendwo hinwill. Auch schwierig.
Ich habe also vorerst einen Deal abgeschlossen mit mir selbst: Wenn ich rechter Hand, im grundehrlichen Wedding, den ersten Vollbartträger unter 30 und ohne Migrationshintergrund entdecke, ziehe ich hier weg. Vielleicht aufs Land. Oder in den Wald, zu Öff!Öff!, dem Einsiedler. Dorthin, wo man den Gesichtspelz noch aus den ehrlichen Zwängen der eigenen Existenz trägt – und garantiert ohne jedes verdammte Modebewusstsein.