Städteportraits: Walter Benjamin als Flaneur
In Frankreich kifft er, in Russland bestaunt er den Kommunismus ... Walter Benjamins Reiseberichte sind als Buch erschienen. Eine Leseprobe.
MARSEILLE (1931)
29. Juli. Um sieben Uhr abends nach langem Zögern Haschisch genommen. Ich war am Tage in Aix gewesen. Mit der unbedingten Gewissheit, in dieser Stadt von Hunderttausenden, wo niemand mich kennt, nicht gestört werden zu können, liege ich auf dem Bett. Und doch stört mich ein kleines Kind, das weint. Ich denke, es ist schon eine Dreiviertelstunde verstrichen. Aber nun sind es doch erst zwanzig Minuten … So liege ich auf dem Bett; las und rauchte. Mir gegenüber immer dieser Blick in den ventre von Marseille. Die Straße, die ich so oft sah, ist wie ein Schnitt, den ein Messer gezogen hat.
Ich verließ endlich das Hotel, mir schien die Wirkung auszubleiben oder so schwach werden zu sollen, daß die Vorsicht des Daheimbleibens unterlassen werden mochte. Erste Station das Café Ecke Cannebière und Cours Belsunce. Vom Hafen gesehen das rechte, also nicht mein gewöhnliches. Nun? Nur das gewisse Wohlwollen, die Erwartung, Leute einem freundlich entgegenkommen zu sehen. Das Gefühl der Einsamkeit verliert sich recht rasch.
Erst die kleine Bar am Hafen. Ich war schon grade wieder im Begriffe, ratlos kehrt zu machen, denn auch von dort schien ein Konzert und zwar ein Bläserchor zu kommen. Gerade daß ich mir noch Rechenschaft davon geben konnte, das sei nichts anderes als das Geheul der Autohupen. Auf dem Wege zum vieux port schon diese wundervolle Leichtigkeit und Bestimmtheit im Schritt, die den steinigen, unartikulierten Erdboden des großen Platzes, über den ich ging, mir zum Boden einer Landstraße machte, über die ich, rüstiger Wanderer, bei Nacht dahinzog. Denn die Cannebière vermied ich um diese Zeit noch, meiner regulierenden Funktionen nicht ganz sicher. (...)
Ist es nicht Rembrandt geschehen?
In jener kleinen Hafenbar begann dann der Haschisch seinen eigentlich kanonischen Zauber mit einer primitiven Schärfe spielen zu lassen, mit der ich ihn vordem wohl noch kaum erlebte. Nämlich er machte mich zum Physiognomiker, zumindest zum Betrachter von Physiognomien, und ich erlebte etwas in meiner Erfahrung ganz Einziges: ich verbiss mich förmlich in die Gesichter, die ich da um mich hatte und die zum Teil von remarkabler Rohheit oder Hässlichkeit waren.
Gesichter, die ich gemeinhin aus einem doppelten Grunde gemieden hätte: weder hätte ich gewünscht, ihre Blicke auf mich zu ziehen, noch hätte ich ihre Brutalität ertragen. Es war ein ziemlich weit vorgeschobener Posten, diese Hafenkneipe. (Ich glaube, der äußerste, der mir ohne Gefahr noch zugänglich war und den ich hier, im Rausche, mit derselben Sicherheit ermessen hatte, mit der man, tief ermüdet, ein Glas mit Wasser so genau randvoll und dass kein Tropfen überfließt, zu füllen weiß, wie man mit frischen Sinnen es niemals zustande bringt.)
Immer noch weit genug entfernt von der Rue Bouterie, aber doch saß da kein Bourgeois; höchstens neben dem eigentlichen Hafenproletariat ein paar Kleinbürgerfamilien aus der Nachbarschaft. Ich begriff nun auf einmal, wie einem Maler – ist es nicht Rembrandt geschehen und vielen anderen? – die Hässlichkeit als das wahre Reservoir der Schönheit, besser als ihr Schatzbehalter, als das zerrissene Gebirge mit dem ganzen inwendigen Golde des Schönen, erscheinen konnte, das aus Falten, Blicken, Zügen herausblitzte.
Gesellschaftsstudien im Moskauer Verkehr
MOSKAU (1926/27)
Der Bolschewismus hat das Privatleben abgeschafft. Das Ämterwesen, der politische Betrieb, die Presse sind so mächtig, dass für Interessen, die mit ihnen nicht zusammenfließen, gar keine Zeit bleibt. Es bleibt auch kein Raum. Wohnungen, die früher in ihren fünf bis acht Zimmern eine einzige Familie aufnahmen, beherbergen jetzt oft deren acht. Durch die Flurtür tritt man in eine kleine Stadt. Öfter noch in ein Feldlager. Schon im Vorraum kann man auf Betten stoßen. Zwischen vier Wänden wird ja nur kampiert, und meist ist das geringe Inventar nur Restbestand kleinbürgerlicher Habseligkeiten, die noch um vieles niederschlagender wirken, weil das Zimmer so dürftig möbliert ist.
Zum kleinbürgerlichen Einrichtungsstil aber gehört das Komplette: Bilder müssen die Wände bedecken, Kissen das Sofa, Decken die Kissen, Nippes die Konsolen, bunte Scheiben die Fenster. (Solche Kleinbürgerzimmer sind Schlachtfelder, über die der Ansturm des Warenkapitals siegreich dahingegangen ist; es kann nichts Menschliches mehr da gedeihen.) Von alledem ist wahllos nur das eine oder andere erhalten. Allwöchentlich werden die Möbel in den kahlen Zimmern umgestellt – das ist der einzige Luxus, den man mit ihnen sich gestattet, zugleich ein radikales Mittel, die „Gemütlichkeit“ samt der Melancholie, mit der sie bezahlt wird, aus dem Haus zu vertreiben. (...)
Selbst in überfüllten Wagen geht es freundlich zu
Beförderung in der Trambahn ist in Moskau vor allem eine taktische Erfahrung. Hier lernt der Neuling sich vielleicht am ersten ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung schicken. Auch wie einander technischer Betrieb und primitive Existenzform ganz und gar durchdringen, dies weltgeschichtliche Experiment im neuen Russland stellt eine Trambahnfahrt im Kleinen an. Die Schaffnerinnen stehen angepelzt auf ihrem Platz in der Elektrischen wie Samojedenfrauen auf dem Schlitten.
Ein zähes Stoßen, Drängen, Gegenstoßen bei dem Besteigen eines meistenteils schon bis zum Bersten überfüllten Wagens geht lautlos und in aller Herzlichkeit vonstatten. (Nie habe ich bei der Gelegenheit ein böses Wort vernommen.) Ist man im Innern, so beginnt die Wanderung erst. Durch die vereisten Scheiben kann man nie erkennen, an welcher Stelle sich der Wagen gerade befindet. Erfährt man es, so hilft es noch nicht viel. Der Weg zum Ausgang ist durch einen Menschenkeil verrammelt.
Da man nun hinten einzusteigen hat, aber vorn den Wagen verläßt, so hat man sich durch diese Masse durchzufinden.
Meist spielt sich die Beförderung freilich schubweise ab; an wichtigen Stationen wird der Wagen beinahe ganz geräumt. Also ist selbst der Moskauer Verkehr zum guten Teil ein Massenphänomen. So kann man denn auf ganze Schlittenkarawanen stoßen, die in langer Reihe die Straßen versperren, weil Fuhren, die ein Lastauto erfordern, auf fünf, sechs große Schlitten verladen werden. Die Schlitten hier bedenken erst das Pferd, danach den Fahrgast. Sie kennen nicht den kleinsten Überfluss. Ein Futtersack für den Gaul, eine Decke für den Benutzer – und das ist alles. (...)
Der "Zuckerbäcker" scheint nur in Moskau noch zu überleben
Grün ist der höchste Luxus des Moskauer Winters. Es leuchtet aber aus dem Laden in der Petrowka nicht halb so schön wie die papiernen Bündel künstlicher Nelken, Rosen, Lilien auf der Straße. Auf Märkten haben sie als einzige keinen festen Stand und tauchen bald zwischen Lebensmitteln, bald zwischen Webwaren und Geschirrbuden auf. Aber sie überstrahlen alles, rohes Fleisch, bunte Wolle und glänzende Schüsseln. Andere Sträuße kennt man zu Neujahr.
Auf dem Strastnajaplatz sah ich im Vorübergehen lange Gerten, beklebt mit roten, weißen, blauen, grünen Blüten, ein jeder Zweig von einer anderen Farbe. Wenn von Moskauer Blumen die Rede ist, darf man nicht die heroischen Weihnachtsrosen vergessen. Und nicht die riesenhohen Stockrosen aus Lampenschirmen, die der Verkäufer durch die Straßen führt. Auch nicht die gläsernen Kästchen voll Blumen, zwischen denen das Haupt eines Heiligen durchblickt. Und nicht das, was der Frost hier eingibt, die bäurischen Tücher, auf denen die Muster, die mit blauer Wolle ausgenäht sind, Eisblumen an den Scheiben nachbilden.
Endlich die glühenden Zuckerbeete auf Torten. Der „Zuckerbäcker“ aus den Kindermärchen scheint nur in Moskau noch zu überleben. Nur hier gibt es Gebilde aus nichts als gesponnenem Zucker, süße Zapfen, an denen die Zunge für die bittere Kälte sich schadlos hält. Am innigsten vereinen Schnee und Blüten sich im Zuckerguss; da endlich scheint die marzipanene Flora den Wintertraum von Moskau, aus dem Weiß zu blühen, ganz erfüllt zu haben.
Neapel steckt voller Festmotive
NEAPEL (1925)
Jemand kniet auf dem Asphalt, neben sich ein Kästchen, und es ist eine der belebtesten Straßen. Mit bunter Kreide malt er auf den Stein einen Christus, darunter etwa den Kopf der Madonna. Indessen hat ein Kreis sich geschlossen, der Künstler erhebt sich, und während er neben seinem Werk wartet, eine Viertelstunde, eine halbe, fallen spärliche, gezählte Münzen aus der Runde auf Glieder, Kopf und Rumpf seiner Figur. Bis er sie aufliest, alles auseinandergeht und in wenigen Augenblicken das Bild zertreten ist.
Unter solchen Fertigkeiten ist nicht die letzte, Maccaroni mit den Händen zu essen. Gegen Entgelt zeigt man es Fremden. Anderes macht sich nach Tarifen bezahlt. Händler geben einen festen Preis für die Stummel von Zigaretten, die nach Schluß der Cafés aus den Ritzen geklaubt werden. (Früher ging man mit Windlichtern auf die Suche.) Neben den Resten aus Speisewirtschaften, gekochten Katzenschädeln und Muscheln werden sie an den Ständen im Hafenviertel verkauft. – Musik zieht umher: nicht trübselig für die Höfe, sondern strahlend für Straßen. Der breite Karren, eine Art Xylophon, ist mit Liedertexten farbig behangen. Hier kann man sie kaufen. Einer dreht; der andere, daneben, erscheint mit dem Teller vor jedem, der träumerisch stehen bleiben sollte. So ist alles Lustige fahrbar: Musik, Spielzeug, Eis verbreiten sich durch die Straßen.
Keine Stadt kann schneller welken als Neapel
Rückstand der letzten und Vorspiel der folgenden Feiertage ist diese Musik. Unwiderstehlich durchdringt der Festtag einen jeden Werktag. Porosität ist das unerschöpflich neu zu entdeckende Gesetz dieses Lebens. Ein Gran vom Sonntag ist in jedem Wochentag versteckt und wieviel Wochentag in diesem Sonntag!
Dennoch kann keine Stadt in den paar Stunden Sonntagsruhe schneller welken als Neapel. Es steckt voller Festmotive, die sich ins Unscheinbarste eingenistet haben. Läßt man vors Fenster Jalousien fallen, so ist das, als ob anderswo Fahnen gehisst werden. Bunte Knaben angeln in tiefblauen Bächen und sehen zu rot geschminkten Kirchtürmen auf. Hoch über die Straßen ziehen sich Wäscheleinen, an denen wie gereihte Flaggen das Zeug hängt. Zarte Sonnen entzünden sich in den Glasbottichen mit Eisgetränken. Tag und Nacht strahlen diese Pavillons mit den blassen aromatischen Säften, an denen selbst die Zunge lernt, was es mit der Porosität für eine Bewandtnis hat.
Ist aber Politik oder Kalender irgend danach angetan, so schießt all dieses Heimliche und Aufgeteilte zum lauten Fest zusammen. Und regelmäßig bekrönt es sich mit einem Feuerwerk über dem Meere. Ein einziger Feuerstreif läuft an den Abenden von Juli bis September die Küste zwischen Neapel und Salerno entlang. Bald über Sorrent, bald über Minori oder Prajano, immer aber über Neapel, stehen feurige Kugeln. Hier hat das Feuer Kleid und Kern. Es ist Moden und Kunstgriffen unterworfen. Jede Kirchengemeinde hat das Fest der benachbarten durch neue Lichteffekte zu schlagen.
Das Fest von Piedigrotta ist ein dröhnendes Spektakel
Dabei zeigt das älteste Element des chinesischen Ursprungs, der Wetterzauber in Gestalt der drachenartig entfalteten Raketen, sich weit dem tellurischen Prunk überlegen: den Sonnen, die am Boden kleben, und dem vom Elmfeuer umlohten Kruzifix. Am Strande bilden die Pinien des Giardino Pubblico einen Kreuzgang. Fährt man in der Festnacht darunter hin, so nistet der Feuerregen in allen Wipfeln. Aber auch hier nichts Träumerisches. Erst der Knall gewinnt jeder Apotheose die Volksgunst. Zu Piedigrotta, dem Hauptfest der Neapolitaner, setzt diese kindische Lust am Getöse ein wildes Gesicht auf. In der Nacht zum 8. September ziehen Banden, bis zu hundert Mann stark, durch alle Straßen. Sie blasen auf riesigen Tüten, deren Schallöffnung mit grotesken Masken verkleidet ist. Gewaltsam, wenn nicht anders, wird man eingekreist, und aus zahllosen Röhren dringt der dumpfe Ton zerreißend ins Ohr. Ganze Gewerbe beruhen auf dem Spektakel. „Roma“, „Corriere di Napoli“ ziehen die Zeitungsjungen wie die Gummistangen im Munde lang. Ihr Schrei ist städtische Manufaktur.
Die hier abgedruckten Texte sind gekürzte Auszüge aus „Walter Benjamin: Über Städte und Architekturen“, einer neuen Sammlung seiner Städteporträts, herausgegeben von Detlev Schöttker. Das Buch ist gerade erschienen (Dom Publishers, 280 Seiten, 28 Euro).