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Erstklässler sitzen in einem Klassenraum und melden sich eifrig.
© dpa

Hilfe für Kinder mit Lese- und Rechenschwäche: Frustrierte Schüler, verzweifelte Lehrer

Jedes zehnte Kind hat besondere Schwierigkeiten, das Lesen, Schreiben oder Rechnen zu lernen. Am 30. 9., dem Tag der Legasthenie und Dyskalkulie, soll nun jedes Jahr daran erinnert werden.

Ob es wirklich einen Zusammenhang gibt zwischen der vielen roten Farbe, die einst den Rand seiner Diktathefte verunzierte, und der Tatsache, dass Bodo Ramelow heute für eine „rote“ Partei Politik macht, sei einmal dahingestellt. Fest steht: Der Ministerpräsident des Freistaats Thüringen kann sich inzwischen solche Scherze leisten. Er bekennt sich bewusst dazu, dass seine Bildungslaufbahn durch eine Lese-Rechtschreibschwäche erschwert wurde. „Für mich waren Umlaute, Dehnungs-Hs, V und F Buchstaben, die wild durcheinander kullern.“ Zehn Jahre seien nach dem ersten Schultag vergangen, bis die Diagnose Legasthenie gestellt wurde.

Nachteile sollen ausgeglichen bei der Benotung ausgeglichen werden

Kein Zweifel: Die Situation für Kinder, denen es besonders schwer fällt, in der Schriftsprache Fuß zu fassen, oder die Probleme im Umgang mit Zahlen haben, hat sich inzwischen verbessert. Dazu tragen die Möglichkeit des sogenannten Nachteilsausgleichs und der zeitweiligen Aussetzung der Benotung in bestimmten Fächern bei – die allerdings in den Bundesländern nicht einheitlich geregelt sind.

Jedes zehnte Kind ist nach Auskunft des Bundesverbands Legasthenie und Dyskalkulie e.V. (BVL) von einem der beiden Probleme mehr oder weniger stark betroffen.  Zusammen mit der Deutschen Kinderhilfe will der BVL von nun an jedes Jahr am 30. September mit einem bundesweiten Tag der Legasthenie und Dyskalkulie darauf aufmerksam machen, dass die Lage immer noch alles andere als zufriedenstellend ist.

Lange Zeit bis zur Diagnose - bis zum chronischen Scheitern

Zweieinhalb Jahre habe es gedauert, bis bei seinem Sohn die Diagnose stand, berichtete bei einer Pressekonferenz im Vorfeld des bundesweiten Tages Knut Janßen, Vater von zwei Kindern mit Legasthenie. Zweieinhalb Jahre, in denen ein Kind oft sauer und wütend nach Hause kommt, in denen es Ängste und Verhaltensauffälligkeiten entwickeln kann, und nicht zuletzt eine sich verfestigende Abneigung gegen die Schule. „Sekundärprobleme“, sagt der Vater nüchtern.

Michael von Aster, Chefarzt der Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an den DRK-Kliniken Berlin und gelernter Sonderpädagoge, sieht viele dieser Heranwachsenden in seiner Sprechstunde.  „Bleiben die frühen Hilfen aus, dann führt das zu Misserfolgs-Erlebnissen, chronischem Scheitern, zu Vermeidung und einem sich verfestigenden Bild von sich selbst.“ Früherkennung könne schon in der Kita beginnen, wo manche Kinder sich mit Silben und Reimen schwertun. „Am besten wäre es, den Nachteil erst gar nicht entstehen zu lassen.“

Keine Krankheit, doch die Folgen können gravierend sein

Seine Fachgesellschaft hat der Lese-Rechtschreibschwäche im letzten Jahr eine eigene Leitlinie gewidmet, die den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu Diagnostik und Therapie zusammenfasst und von anderen Fachgesellschaften mitgetragen wird. Das bedeute nicht, dass Ärzte die Lese-Rechtschreibschwäche als „Krankheit“ werteten, betont von Aster. Doch es gibt diese Störung, sie hat unterschiedliche Ausprägungsformen, man kann sie mit geeigneten Tests feststellen, und wenn man nicht adäquat darauf reagiert, kann das weitere Nachteile für das Kind mit sich bringen. „Gesunde Kinder dürfen nicht psychisch krank werden, weil ihre Legasthenie oder Dyskalkulie nicht erkannt wird“, fordert deshalb Rainer Becker, Vorsitzender der Deutschen Kinderhilfe e.V.

Schreiben und Lesen sind vergleichsweise junge Kulturtechniken. Besonderheiten in den Strukturen des Gehirns, die ihren Erwerb erschweren, waren deshalb über weite Strecken der Menschheitsgeschichte nicht von Bedeutung. Inzwischen weiß man aus der Forschung schon viel darüber. „Dieses Wissen hat sich allerdings in der Lehrerausbildung noch nicht genügend niedergeschlagen“, kritisiert Kinderpsychiater von Aster.

Ideal wären zwei Lehrkräfte gleichzeitig in einer Klasse

„Alle Lehrkräfte sollten im Studium oder in Fortbildungen etwas darüber lernen“, forderte auch Tanja Scherle, die sich im BVL engagiert, als Gymnasiallehrerin arbeitet und selbst drei Kinder mit Legasthenie hat. Pädagogen müssen zunächst erkennen, dass ein Kind betroffen sein könnte, damit sie den Anstoß dafür geben können, es zu Kinder- und Jugendpsychiatern und Schulpsychologen zu schicken. Und dafür, dass es in der Schule besonders gefördert wird.

Scherle kritisierte allerdings auch, dass es in den Schulen vielmals an zusätzlichen Förderlehrkräften und an Räumen für ihre Arbeit fehle. „Engagierte Lehrkräfte verzweifeln oft selbst an dieser unbefriedigenden Situation.“  „Ich träume von einer Zukunft, in der Pädagogen in den Klassen immer zu zweit sind“, kommentierte Ramelow.

Unermüdliche Unterstützung durch die Eltern

In manchen Fällen fehle es bei Lehrern und Lehrerinnen aber auch an Offenheit gegenüber Instrumenten wie dem Nachteilsausgleich, berichtete Scherle. Dazu trägt sicher bei, dass es schwierig ist, dem Rest der Klasse klarzumachen, warum ein Mitschüler das Tafelbild mit seinem Handy abfotografieren darf, das alle anderen mühselig abschreiben müssen. „Viel zu oft hängt wegen all dieser Probleme der schulische Erfolg Betroffener von der unermüdlichen und über das Maß notwendigen Unterstützung der Eltern ab“, monierte Scherle.

Von nun an soll in Schulen und in der Öffentlichkeit an jedem 30. 9. über das Thema informiert werden. Um diese Zeit im Jahr, ein paar Wochen nach Beginn des neuen Schuljahrs, nähmen die Anmeldungen bei Kinder- und Jugendpsychiatern deutlich zu, berichtet von Aster. Nach Auskunft des BVL gab es für die Wahl des Datums aber noch einen weiteren Grund: Die Ziffern 3 und 9 stellen für betroffene Kinder beim Schreiben oft eine besondere Hürde dar.

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