Gender in der Biologie: Es gibt mehr als zwei Geschlechter
Nur „weiblich“ und „männlich“ ist zu wenig. Es gibt mehr als zwei Geschlechter. In der Biologie ist das inzwischen anerkannt.
Die Wissenschaftszeitschrift „Nature“ – sie gehört zu den anerkanntesten in der Disziplin Biologie – veröffentlichte unlängst einen Übersichtsartikel, der gesellschaftliche Gewissheiten auf den Kopf stellt. Biologisches Geschlecht sei nicht einfach in zwei Varianten – „weiblich“ versus „männlich“ aufzuteilen. „Die Annahme, es gebe zwei Geschlechter, ist zu simpel“, erläutert Claire Ainsworth im Artikel „Sex redefined“. Sie fasst damit den Forschungsstand der Biologie zusammen, der von einem größeren Spektrum geschlechtlicher Entwicklungsmöglichkeiten ausgeht.
Kombinationen galten lange als "Störungen"
In der Biologie ist diese Sichtweise nicht so neu. Ganz im Gegenteil: Die Biologie nahm ihren Ausgangspunkt aus der sicheren Überzeugung, dass jeder menschliche Embryo in seiner Entwicklung zunächst das Potenzial habe, sich in weiblicher und in männlicher Richtung zu entwickeln. Es könnten bei den sich entwickelnden Menschen dabei Merkmale weiblichen Geschlechts deutlicher hervortreten oder solche männlichen Geschlechts. Bei anderen Menschen würden Kombinationen auftreten – lange Zeit untersuchte man diese mit den Mitteln der modernen Biologie und Medizin genauer, beschrieb sie aber bald als „Störungen“ und versuchte sie zu vernichten.
Die Furcht vor Ambiguität schwindet
Mittlerweile ändert sich die Perspektive. Auch in den westlichen Gesellschaften verschwindet zunehmend die Furcht vor geschlechtlicher und sexueller Ambiguität, im Sinne von Widersprüchlichkeit und Widerspenstigkeit. In den anderen Weltregionen war die Toleranz gegenüber Ambiguität ohnehin deutlicher ausgeprägt, wie der Leibniz-Preisträger und Arabist Thomas Bauer in seinem Werk „Die Kultur der Ambiguität“ (2011) zeigt. Erst die moderne europäische Wissenschaft nahm auch dort ihr fragwürdig Erscheinendes ins Visier, deutete und tilgte es.
Seit den 1970er/80er Jahren wurden auch in der Biologie die Einwände gegen biologische Modelle strikter geschlechtlicher Zweiteilung wieder deutlicher. Zentrale Denkanstöße gaben Arbeiten feministischer Wissenschaftskritik. Für die Diskussion geschlechtlicher Vielfalt waren hier unter anderem Veröffentlichungen der US-amerikanischen Naturwissenschaftlerinnen Anne Fausto-Sterling und Evelyn Fox Keller bestimmend. Fausto-Sterling publizierte als Extrakt ihrer Untersuchungen 1985 ein Buch, das unter dem Titel „Gefangene des Geschlechts“ kurz darauf auch auf Deutsch erschien. Darin diskutiert sie aktuelle biologische Theorien kritisch – und konfrontiert sie mit gegenläufigen Beobachtungen und Studien. Mit ihren Aufsätzen „Die fünf Geschlechter: Warum männlich und weiblich nicht genug sind“ (Zeitschrift The Sciences, 1993) und „Die fünf Geschlechter erneut betrachtet“ (The Sciences, 2000) legte sie die Grundlage für weiterführende Debatten und bot wissenschaftliche Unterstützung für die Kämpfe der Intersexuellen-Bewegung.
Intersexuelle Menschen galten als Problemfälle
Fausto-Sterling fokussierte in diesen Aufsätzen die vielfältigen geschlechtlichen Ausprägungsformen, die in der biologischen und medizinischen Forschung (und Behandlungspraxis) als „Störungen“ eingeordnet und als behandlungsbedürftig betrachtet wurden, und wandte sich gegen die Einordnung intersexueller Menschen als „Problemfall“. In weiteren Arbeiten wie dem Buch „Sexing the Body“ (2000) sezierte sie biologische Theoriebildung etwa in Bezug auf Geschlechtshormone. Da die als männlich betrachteten Hormone „Androgene“ und die als weiblich betrachteten Hormone „Östrogene“ in allen Menschen vorkommen und wichtige physiologische Funktionen übernehmen, sollten sie nicht als „Geschlechtshormone“ bezeichnet werden, sondern vielmehr als Wachstumshormone, argumentierte Fausto-Sterling.
Chromosomen - Diktatorinnen der Zelle?
Auch lieferte sie kritische Betrachtungen zu Studien, die zeigen wollten, dass Frauen diese und Männer jene Gehirne hätten. Sie diskutierte die Studien für ihre gewählten Methoden und konfrontierte sie mit anderen Ergebnissen. Noch in den 1990er Jahren und zu Beginn der 2000er Jahre erntete Fausto-Sterling für ihre Ansätze Kritik und Auseinandersetzung. Mittlerweile ist anerkannt, dass sie wesentlich zur kritischen Reflexion methodischer und inhaltlicher Setzungen der Biologie beigetragen hat. In der Biologie wurden – und werden oft noch immer – die Proband_innen schon zu Beginn einer Studie in die Gruppen „weiblich“ und „männlich“ aufgeteilt, und diese Einteilung präformiert bereits die Ergebnisse. Regelmäßig wurde dabei die Bedeutung männlichen Geschlechts überhöht. Neu war die Erkenntnis mehrerer Geschlechter aber auch bei Fausto-Sterling nicht mehr. Hingegen hatte etwa Richard Goldschmidt in den 1920er Jahren eine „lückenlose Reihe geschlechtlicher Zwischenstufen“ postuliert, und das nachdem einige Jahre zuvor die für die Geschlechtsbestimmung als wichtig angenommenen Chromosomen X und Y gefunden und benannt worden waren. Was ist in einer Gesellschaft los, die bei Nennung von X- und Y-Chromosom gleich an Zweigeschlechtlichkeit glaubt? Und warum kam Goldschmidt zu einer solch anderen Einordnung? Goldschmidt sah die Chromosomen nicht als „Diktatorinnen“ der Zelle an, vielmehr ordnete er sie in ein komplexes System weiterer wirkender Faktoren ein.
Der Blick auf die biologische Geschlechtsentwicklung ist kritischer geworden
In der Folgezeit wurde aber das Paradigma der Erblichkeit in der Biologie bestimmend. Die Erbsubstanz DNS wurde in der Biologie als Schaltzentrale angenommen, Fördergeld floss in Massen in ihre Untersuchung. Schließlich wurde versucht, für die einzelnen körperlichen und psychischen Merkmale „Gene“ zu finden, die sie codieren sollten, wie bei einer zu entschlüsselnden Geheimschrift. Der Rest der Zelle wurde als nachrangig betrachtet oder gleich gar nicht untersucht. Das galt auch für das Geschlecht. Hier ging man davon aus, dass es ein zentrales Gen für die Ausbildung von Hoden geben müsste oder zumindest ein Gen, das als zentraler Schalter fungierte und die Entwicklung auf „männlich“ schaltete. Diese einfache Sicht wurde für das Geschlecht zunächst auch dann noch aufrechterhalten, als in anderen Forschungsfeldern der Genetik differenziertere Modelle der Regulation und Wirkung von Genen etabliert wurden. Schließlich relativierte das Humangenomprojekt die Bedeutung von Genen. Es zeigte, dass die Spezies Mensch kaum mehr Gene als der unscheinbare Fadenwurm Caenorhabditis elegans hat. Ein diesbezüglich bemerkenswertes Buch stammt von Evelyn Fox Keller: „Das Jahrhundert des Gens“ (deutsch 2001).
X- und Y-Chromosomen kommt bei manchen Säugetieren nicht vor
Seitdem ist auch der Blick auf biologische Geschlechtsentwicklung kritischer geworden. Es werden nun differenzierte Aussagen getroffen, die nicht stets „weiblich“ oder „männlich“ schon in der Untersuchungsfrage voraussetzen. Komplexe Modelle werden für alle Merkmale und „Ebenen“ verfolgt, die in der biologischen Geschlechtsentwicklung Bedeutung haben: Chromosomen; Gene; Regulation der Gene; Hormone; Rezeptoren, an die die Hormone sich anbinden können; Keimdrüsen (Hoden, Eierstöcke, Mischgewebe); innere Genitalien; äußere Genitalien; weitere Bestandteile des Genitaltraktes. So wurden etwa in der Genetik in Modellversuchen an Mäusen mittlerweile ungefähr 1000 Gene als möglicherweise an der Geschlechtsentwicklung beteiligt beschrieben, von denen gerade einmal 80 etwas untersucht sind, durchaus mit widersprüchlichen Befunden. Die allermeisten dieser Gene finden sich im Regelfall nicht auf dem X- oder dem Y-Chromosom. Bei einigen Säugetierarten konnte die Unterscheidung eines X- und Y-Chromosoms überhaupt nicht gezeigt werden.
Gene und DNS sind nur Faktoren in einem komplexen Zusammenspiel
Und nun – nach den ernüchternden Ergebnissen des Humangenomprojekts – werden die Zelle und die weitere Umgebung wieder wichtiger genommen, so wie es Goldschmidts Ansatz war. Galt bis vor wenigen Jahren noch die DNS als heimliche „Diktatorin“ der Zelle, so wird sie nun entthront. Heute heißt es, dass die DNS nicht schon Information beinhalte und die Zelle über Abläufe informieren würde, vielmehr gibt es in der Zelle ein ganzes Netzwerk von Faktoren, die miteinander in Wechselwirkung stehen, sich zusammenlagern und letztlich entscheiden, welches tatsächlich wirksame Produkt hergestellt wird und wie ein Abschnitt der DNS abgelesen, das Produkt verändert und schließlich gefaltet werden muss, damit ein wirksames Produkt entsteht. Kurz gesagt: „Gene“ und DNS sagen eben nicht die Entwicklung eines Organismus beziehungsweise hier eines „Genitaltraktes“ voraus. Vielmehr stellen sie lediglich einen Faktor im komplexen Zusammenspiel von Faktoren der Zelle dar. So zeigte sich für einige Gene, die als bedeutsam für die Geschlechtsentwicklung angenommen werden, dass aus ein und demselben Gen mehr als zwei Dutzend unterschiedliche Produkte gebildet werden, die in der Zelle unterschiedliche Aufgaben erfüllen.
Das einfache Modell der Zweigeschlechtlichkeit hat ausgedient
Claire Ainsworth fasst den Forschungsstand für die Geschlechtsentwicklung nun in ihrem Überblicksartikel zusammen. Es gibt demnach nicht nur zwei Geschlechter. Einen differenzierten Einblick in die Thematik bietet in deutscher Sprache das Buch „Geschlecht: Wider die Natürlichkeit“ (Voß 2011). Beiträge von Biolog_innen, die zum Weiterdenken über die Gehirnforschung einladen, sind etwa: „Wie kommt das Geschlecht ins Gehirn?“ (Sigrid Schmitz 2004, online) und „Warum Frauen glauben, sie könnten nicht einparken – und Männer ihnen Recht geben“ (Kirsten Jordan/Claudia Quaiser-Pohl 2007).
Eines scheint dabei gesichert: Das einfache Modell biologischer Zweigeschlechtlichkeit, das sich an der europäischen Geschlechterordnung mit ihrer Zurücksetzung der Frauen orientierte, hat ausgedient.
Der Autor ist als diplomierter Biologe Professor für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg.
Heinz-Jürgen Voß