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Binäres Denken. Noch Rudolf Virchow wehrte sich gegen die Aufgabe, intersexuelle Säuglinge entweder zu Jungen oder zu Mädchen zu erklären. Das Foto zeigt die römische Skulpturengruppe „Satyr und Hermaphrodit“ im Alten Museum in Berlin.
© picture-alliance/ dpa/dpaweb

Intersexualität bei Neugeborenen: Erzwungenes Geschlecht

Wenn Kinder bei Geburt nicht eindeutig Junge oder Mädchen sind, werden sie oft an den Genitalien operiert. Das war nicht immer so. Kritik wird jedoch wenig gehört, die Folgen sind oft verheerend.

Medizinisch unnötige Behandlungen, die irreversibel in die geschlechtliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eingreifen, sind aus menschenrechtlicher Sicht unzulässig. Tatsächlich werden solche Operationen an den Genitalien ebenso wie Sexualhormonbehandlungen an Kindern und Jugendlichen aber weiterhin in einigen deutschen Kliniken durchgeführt, aller Kritik von Organisationen intergeschlechtlicher Menschen zum Trotz. Ein Überprüfungsprozess kommt in der Medizin nur schleppend in Gang.

Stattdessen waren es feministische Forscherinnen, die Anfang der 1990er Jahre begannen, die Geschlechter- und Sexualitätsnormen zu kritisieren, die der Diagnose Intersexualität eingeschrieben sind. Vier Kritikpunkte arbeiteten sie heraus: 1. Die Medizin gleicht das genitale Erscheinungsbild intergeschlechtlicher Personen idealen beziehungsweise ästhetischen Vorstellungen an und ignoriert die gewöhnliche Variabilität. 2. Die Behandlungsziele stellen auf stereotypes Geschlechtsrollenverhalten, heterosexuellen Geschlechtsverkehr und heterosexuelle Orientierung ab. 3. Grundlage dafür ist die Auffassung, dass nur eine eindeutig als Mann respektive Frau verortete Existenz lebenswert sei. 4. Die Medizin beharrt auf einem binären Geschlechterverständnis und wertet intergeschlechtliche Körper als krankhafte Entwicklungsstörung ab.

Erst seit Anfang des Jahrtausends regiert die Medizin

Ab Anfang der neunziger Jahre ergriffen intergeschlechtliche Menschen – zunächst in den USA, ab 1996 auch in Deutschland – selbst das Wort und wehrten sich gegen eine medizinische Praxis, die sie als Bevormundung und gewalttätige, traumatisierende Verstümmelung erlebten und forderten Selbstbestimmung über den eigenen Körper und über die geschlechtliche Verortung.

Erst Anfang des neuen Jahrtausends haben Medizin und Psychologie in Deutschland auf die Kritik reagiert. In Evaluationsstudien fragen sie intergeschlechtliche Menschen nach ihrer Behandlungszufriedenheit und Lebensqualität. Aber die pathologisierenden Begrifflichkeiten, die normativen Behandlungsstandards, das binäre Geschlechterverständnis und die primäre Zuständigkeit der Medizin für intergeschlechtliche Menschen überdenken sie bis heute nicht. Die Folgen sind gravierend.

Preußen ließ Hermaphroditen die Wahl

Die Meinung in der Ärzteschaft, intergeschlechtliche Neugeborene sollten möglichst schnell auf das männliche oder weibliche Geschlecht festgelegt und ihre Genitalien entsprechend operiert werden, hat sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt. Vereinzelt hatte es schon früher ähnliche Forderungen gegeben, doch das war nicht Lehrmeinung und auch rechtlich gab es mehr Spielraum.

So war es nach dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) von 1794 möglich, dass Hermaphroditen im Erwachsenenalter selbst ihren Status als Mann oder Frau wählen dürfen. Nur im rechtlichen Streitfalle sollten Sachverständige das überwiegende Geschlecht feststellen. Das Gesetz, das erst mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch am 1. Januar 1900 außer Kraft trat, machte keine genaueren Angaben zu den Sachverständigen. Nicht nur Mediziner kamen daher infrage, sondern auch Hebammen.

Erst ab 1900 mussten Ärzte entscheiden, ob ein Mann oder eine Frau geboren worden war

Erst im Zuge rechtlicher Neuregelungen des Personenstandswesens um 1900 erklärten juristische Kommentare explizit Ärzte zu den Experten, die bei „uneindeutigen“ Genitalien das „wahre“ – männliche oder weibliche – Geschlecht zu bestimmen hätten. Das Geschlechtswahlrecht sollte entfallen. Namhafte Mediziner wie Rudolf Virchow widersprachen. Es sei nicht möglich, in jedem Fall klar auf männliches oder weibliches Geschlecht zu erkennen. Um den neuen Regeln dennoch zu genügen, empfahlen manche Ärzte, eine Geschlechtsumstellung sowie Genitaloperationen vom Geschlechtszugehörigkeitsempfinden und dem Wunsch der jugendlichen oder erwachsenen Hermaphroditen abhängig zu machen. Nur so könne seelisches Leid der Betroffenen und ihrer Angehörigen mitsamt den sozialen Folgen verhindert werden.

Ärzte befürchteten eine Gefahr für den "gesunden Volkskörper"

Als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts rassenhygienisches und eugenisches Denken breitmachte, identifizierten Ärzte Hermaphroditen zunehmend als biologische „Gefahr“ für den „Volkskörper“. Sie ordneten Hermaphroditen als „minderwertig“ entwickelt ein und stützten sich dabei auf ein Kontinuum-Modell des Geschlechts, das sich schon um 1800 herausgeschält hatte. Dieses nahm einen nahtlosen Übergang der Geschlechter an, was sich auch im gemeinsamen Ausgangspunkt der embryologischen Entwicklung der Genitalien zeige.

Allerdings postulierte die Medizin zugleich die polar verstandene Geschlechterdifferenz als höchste Entfaltungsstufe des Lebens. Hermaphroditen repräsentierten in diesem Modell die geschlechtlich „indifferente“ embryologische Anlage und die „primitivsten“ Entwicklungsstadien, die auf dem Weg zu den „vollkommen“ ausdifferenzierten männlichen und weiblichen Geschlechtscharakteren überwunden werden mussten. Sie galten daher nach medizinischer Anschauung als Phänomene einer „gehemmten“ Geschlechtsentwicklung.

"Kein sicheres Kritierium für das ,wahre' Geschlecht"

Die eugenische Problematisierung der „minderwertigen“ Geschlechtsentwicklung intensivierte sich in der NS-Zeit, doch wurden Hermaphroditen nicht generell als „schwer erbkrank“ im Sinne des NS-Erbgesundheitsgesetzes eingestuft und einer Zwangssterilisierung zugeführt. Allerdings waren intergeschlechtliche Menschen aufgrund der gesellschaftlichen und medizinischen Stigmatisierung besonders gefährdet, Opfer der NS-Gewaltherrschaft zu werden.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts förderten neue Testverfahren zutage, dass verschiedenste Geschlechtschromosomensätze (etwa XXY beim „Klinefelter-Syndrom“, X0 beim „Turner-Syndrom“ oder auch Mosaike wie X0/XXY bei „gemischter Gonadendysgenesie“) beim Menschen vorkommen. Es wurde klar, dass die phänotypischen Geschlechtsmerkmale ebenso wie das Rollenverhalten und das Geschlechtsempfinden nicht unbedingt dem Genotyp entsprechen müssen. Im Jahr 1967 konstatierten die Gynäkologen Jürgen Hammerstein und Josef Nevinny-Stickel in einem juristischen Fachblatt, „daß es in Anbetracht der Vielschichtigkeit der menschlichen Geschlechtlichkeit kein sicheres Kriterium für das ‚wahre’ Geschlecht gibt“.

Diese Aussage, die die Komplexität und Unsicherheiten der Geschlechtsdiagnostik offenbart, charakterisiert bis in die Gegenwart die praktischen Probleme der medizinischen Einordnung intergeschlechtlicher Menschen.

Intersexuelle werden bis heute pathologisiert, selbst wenn sie völlig gesund sind

Dessen ungeachtet erlangten Mediziner ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich die Expertenstellung, die sie seit Langem gefordert hatten. Dazu trug nicht zuletzt der steile Anstieg der Krankenhausgeburten bei (1930er Jahre 50 Prozent, 1970 fast 100 Prozent). Ärzte konnten dadurch häufiger Intergeschlechtlichkeit gleich bei der Geburt feststellen und die Geschlechtszuweisung vornehmen. Von den 1950/60er Jahren an wurden in den USA, in der BRD und in der DDR sowie in vielen anderen Ländern systematisch Genitaloperationen an Kindern durchgeführt, die das Erscheinungsbild an das männliche respektive weibliche Ideal anpassen sollen, mit dem erklärten Ziel, eine eindeutige Geschlechtsidentitätsentwicklung zu befördern.

In diesem Zusammenhang etablierte sich im deutschen Sprachraum der Ausdruck „Störung der Geschlechtsentwicklung/sexuellen Differenzierung“. Nach der internationalen Nomenklatur ist inzwischen der englische Begriff „Disorders of Sexual Development“ (DSD) gebräuchlich. Beide Begriffe beinhalten, dass intergeschlechtliche Menschen, gemessen an der Norm des männlichen und weiblichen Körpers, nicht in Ordnung seien und legen eine Behandlungsbedürftigkeit nahe.

Der Deutsche Ethikrat spricht weiter von der "Uneindeutigkeit" des Geschlechts

Ein weiteres Problem der internationalen Nomenklatur ist die Absonderung von intergeschlechtlichen Menschen mit „46, XX-DSD“, worunter vor allem Personen mit XX-Chromosomen und Eierstöcken fallen, bei denen ein erheblicher Cortisolmangel zu einer verstärkten Ausschüttung von Androgenen führt („Adrenogenitales Syndrom“, AGS). Bei diesen Personen sei trotz zum Teil ausgeprägter äußerlicher Vermännlichung das Geschlecht eindeutig weiblich. Die Betroffenen würden sich weit überwiegend als weiblich identifizieren und könnten schwanger werden, weshalb feminisierende Genitaloperationen im Kindesalter empfehlenswert seien.

Der Deutsche Ethikrat, der in seiner Stellungnahme von 2012 diese Sichtweise trotz ihm vorliegender kritischer Expertisen unterstützte, definierte solche Operationen bei – aus medizinischer Sicht – „eindeutiger geschlechtlicher Zuordnung“ als „geschlechtsvereindeutigend“. Diese unterschied der Ethikrat von „geschlechtszuordnenden“ Eingriffen, die bei gegebener „Uneindeutigkeit“ des Geschlechts das körperliche Erscheinungsbild als männlich oder weiblich festlegen. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Deutsche Ethikrat von „Eindeutigkeit“ und „Uneindeutigkeit“ des Geschlechts spricht, offenbart, dass er von der Basisannahme ausgeht, dass biologisch zwei klar unterschiedene Geschlechter existieren würden; eine Annahme, für die, wie oben gezeigt, die Medizin keine belastbare Grundlage liefert.

Die jüngsten Entwicklungen zeigen erneut, wie stark die medizinischen Definitionen von Geschlecht von gesellschaftlichen Normen durchdrungen sind. Die Geschichte gibt wenig Grund darauf zu vertrauen, dass die Medizin einsichtig wird und ihre Behandlungsleitlinien radikal ändert. Stattdessen fordern Intersex-Organisationen, dass der Gesetzgeber aktiv wird und ihre Menschenrechte sicherstellt, indem er nicht selbst eingewilligte kosmetische Eingriffe untersagt und eine geschlechtliche Selbstbestimmung ermöglicht.

Die Autorin ist Psychologin und forscht derzeit am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität.

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Ulrike Klöppel

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