Diskussion über Bildungsideale der OECD: „Erst kommt die Pflicht, dann die Kür“
Warum setzt Deutschland die für den Erfolg bei Pisa maßgeblichen 21st Century Skills nicht um? Darüber diskutierte das Nationale Bildungsforum in Wittenberg.
Exponentialfunktionen gehören zum Formelwissen in der Schulmathematik. Generationen von Oberschülern lernten sie in der 10. Klasse kennen, viele verstanden sie nicht – und hatten im Studium eine unangenehme Wiederbegegnung. Doch dann kam Corona – und mit der Pandemie „ein hervorragendes Beispiel für exponentielle Prozesse“.
Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) in Paris, klingt ehrlich begeistert, als er diese Chance für einen modernen Mathematikunterricht – beziehungsweise für den fächerübergreifenden Projektunterricht – beim Nationalen Bildungsforum in Wittenberg vorträgt.
„Kann ich wie ein Naturwissenschaftler denken, kann ich experimentieren, kann ich wie ein Historiker denken, das Narrativ einer Gesellschaft verstehen – und wie es zerfällt, wenn sich der Kontext ändert?“ Schleicher, der per Videoschaltung teilnimmt, wirbt für das Konzept der 21st Century Skills, das Kinder und Jugendliche zu kommunikativen, kritischen, kreativen und kooperativen Akteuren machen soll.
[Wie Deutschland beim jüngsten OECD-Bildungsbericht abgeschnitten hat, lesen Sie hier: Bildung auf einen Blick 2020]
Die Kompetenzen für das 21. Jahrhundert, die Arbeitnehmer von morgen davor bewahren sollen, durch Roboter ersetzt zu werden, sind seit gut zehn Jahren zum Maßstab der Aufgaben im internationalen OECD-Schulleistungstest Pisa geworden. In Deutschland werden sie, anders als etwa in Finnland, nur in einzelnen Modellschulen umgesetzt.
Schleicher kritisiert das „Beharrungsvermögen von Schulen“. Das deutsche System sei traditionell gut darin, reproduzierbares Wissen zu vermitteln. Doch schwierige Fragen ließen sich nicht durch Auswendiglernen beantworten. Die Herausforderung laute „weniger Stoff in größerer Tiefe zu vermitteln“.
Warum nicht als Leitidee für die deutschen Schulen?
Geht man nach den deutschen Pisa-Ergebnissen, gelingt das schlecht: Unsere 15-Jährigen haben nach einem vorübergehenden Aufstieg zuletzt wieder mittelmäßig abgeschnitten. Und insbesondere die „Risikogruppe“, deren Leistungen im Lesen und in Mathematik auf dem untersten Kompetenzniveau stehen, ist mit jeweils rund 20 Prozent auf den Stand von 2001 zurückgefallen.
Woran liegt es, dass die 21st Century Skills, die das Kompetenzmodell der OECD überwölben und ergänzen, nicht zur „Leitidee für die deutsche Schule“ geworden sind? Und sind die disruptiven gesellschaftlichen Veränderungen durch die Coronakrise der Schlüsselmoment, in dem sich das deutsche Schulsystem doch noch auf den weltweit propagierten „OECD-Lernkompass 2030“ einstellt?
Diese Fragen wurden beim Nationalen Bildungsforum in Wittenberg am Mittwoch und Donnerstag von Vertreterinnen und Vertretern aus Schulpraxis, der Bildungsforschung und der Bildungspolitik diskutiert. Das von der Beratungsgesellschaft Wider Sense und der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt veranstaltete und von der Mercator- und der Robert-Bosch-Stiftung geförderte Forum fand zum dritten Mal seit 2018 statt.
Bildungsforscher Köller ist skeptisch
Einer der einflussreichsten deutschen Bildungsforscher hält wenig vom Leitbild der OECD. Die Frage, was Schule leisten müsse, damit junge Menschen die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen, sei hinreichend durch bestehende Konzepte beschrieben, sagt der Kieler Professor Olaf Köller.
Der Kompetenz-Orientierung bei Pisa folgten die bundesweiten Bildungsstandards, auf deren Grundlage die Lehrpläne reformiert wurden. Zur Grundbildung hinzukommen müsse die „Welterfahrung“, die es erlaube, „sich in einer sich rasch verändernden Welt lebenslang weiterzuentwickeln“. Doch diese Aufgabe der Schule gehe schon auf Wilhelm von Humboldt zurück, sagt Köller.
In den Kanon der vielfältigen Kompetenzen, die Schüler heute erwerben sollen, bezieht Köller durchaus die vier Grundprinzipien der 21st Century Skills – von der Kooperation bis zum kritischen Denken – ein. Er glaubt nur nicht, dass Schulen und Lehrkräfte neben den darauf basierenden Bildungsstandards ein weiteres Label brauchen.
Lehrkräfte verlassen sich auf ihre Routinen
Lehrkräfte würden sich gerne auf ihre Routinen verlassen – und dabei ungern in den Lehrplan gucken. Eher könne es gelingen, das Modell forschenden Lernens als didaktische Methode besser in den Schulen durchzusetzen. Doch dazu brauche es starke Schüler.
Realität in Deutschland sei aber, dass nach wie vor „20 bis 30 Prozent die Schule verlassen, ohne richtig schreiben und lesen zu können“. Neue Lehrpläne für das 21. Jahrhundert schreiben, die Fächergrenzen sprengen? Nein, sagt Köller: „Erst kommt die Pflicht, dann die Kür.“
Das sieht der Leiter einer Brennpunkt-Grundschule in Hamm ganz anders. Ein Podiumsgespräch mit Frank Wagner und seiner Berliner Kollegin Miriam Pech von der Heinz-Brandt-Sekundarschule in Weißensee wird von den Organisatoren des Bildungsforums bewusst als Gegenpart zu den Vorträgen der Bildungsforscher gesetzt.
„Wir arbeiten epochenorientiert, es gibt Zeiträume für Projekte, die Kinder begeistern und abholen“, sagt Wagner. Dabei ergäben sich gerade auch Gelegenheiten, schwächeren Schülern zu helfen. Wagner erklärt es an einem Beispiel: Eine 3. Klasse soll sich vor einer Exkursion auf das Thema Bauernhof vorbereiten.
Ihr wollt das wissen? Dann lernt lesen
Zwei Mädchen blättern ratlos in einem Buch über Nutztiere, fühlen sich überfordert. Das sei der Moment, in dem sie merkten: Lesen zu können ist wichtig. Ihre Lehrerin hakt ein, bietet noch einmal an, am Basiskurs Lesen teilzunehmen. Dieses Mal mit Erfolg.
Schulleiterin Pech glaubt, dass die Schulen buchstäblich ins 21. Jahrhundert aufbrechen müssen. Sie ist mit Schülerinnen und Schülern auf dem Jakobsweg gewandert, es war eine der „großen Herausforderungen“, denen sie sich einmal im Jahr stellen. Dafür bräuchten die Schulen dringend mehr Raum und Zeit als die aktuellen Lehrpläne bieten.
Dass Projektarbeit und Fachunterricht nach Lehrplan kein Widerspruch sein müssen, zeigt das Beispiel Finnlands. Eine Schülerfirma gründen, einen See untersuchen – was die Schüler dabei leisten, „wird als Teil der Fächer bewertet“, sagt Olli-Pekka Heinonen, Chef der Nationalen Bildungsagentur. In Finnland seien die 21st Century Skills seit 2016 Grundlage der Curricula, Schulen seien so zu Lerngemeinschaften geworden.
[Die jüngsten finnischen Lehrplan-Reformen waren auch eine Reaktion auf das zwischenzeitliche Abrutschen bei Pisa]
Warum das offenbar funktioniert – dafür hat Heinonen eine einfache Erklärung: Die Lehrkräfte seien von Anfang von an der Reform beteiligt gewesen. Tausende hätten am Kerncurriculum mitgeschrieben und jede einzelne Lehrkraft könne sich ins lokale Curriculum einbringen.
Viele Tausend engagierte Lehrkräfte, die einen solchen Aufbruch mittragen würden – ob er nun das OECD-Label trägt oder nicht – gibt es auch in Deutschland. Doch der Schlüssel, der dieses Potenzial zum Wohle aller Schülerinnen und Schüler aktiviert, ist noch nicht gefunden.
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