Verzweifelte Vorschläge: An Berlins Schulen gelingt die Rückkehr zum Präsenzunterricht nur schleppend
Das Schuljahr verlängern oder nur noch gute Noten zählen lassen? Bei Lehrer- und Elternverbänden führt die Wiedereröffnung der Schulen zu kreativen Ideen.
Die Vorschläge werden immer verzweifelter: Angesichts nur minimaler Präsenzstunden in den Schulen bei gleichzeitig schwachen digitalen Lernmöglichkeiten taucht jetzt das Szenario auf, das Schuljahr bis zum 31. Januar zu verlängern.
Einen entsprechenden Vorstoß des Vorsitzenden des Verbands der Oberstudiendirektoren (VOB), Ralf Treptow, griff am Dienstag der Landeselternausschuss auf. Hingegen wies die Bildungsverwaltung darauf hin, dass eine Verlängerung des Schuljahres in der Behörde und in der Kultusministerkonferenz „kein Thema“ sei.
Berlins Schulleiter und Eltern geben sich damit allerdings nicht zufrieden. Der Landeselternausschuss (LEA) fordert „unverzüglich“ ein „schlüssiges Konzept" für das Nachholen des nicht erteilten Präsenzunterrichts zu entwickeln: „Daran knüpft sich zum Beispiel die Frage der Beschulung nach den Sommerferien und die mögliche Verlängerung des aktuellen Schuljahres bis zum 31. Januar“, heißt es in einer LEA-Mitteilung vom Dienstag.
Das nächste Schuljahr würde als Konsequenz im Februar beginnen. Der fehlende Unterrichtsstoff sei bis zum regulären Ende des laufenden Schuljahres „nicht mehr aufzuholen“.
Schuljahreswechsel zum Februar
Das sieht auch Ralf Treptow so, auf den sich der Landeselternausschuss bezieht. Der VOB-Vorsitzende, der das Pankower Rosa-Luxemburg-Gymnasium leitet, warnt vehement davor, dass zu viel Stoff fehle: Daher hatte er auch dafür plädiert, auf die Abitur- und MSA-Prüfungen zu verzichten: Unterricht gehe vor, lautete sein Appell, mit dem er aber nur in Sachen MSA durchgedrungen war.
In einem Interview mit der "Berliner Morgenpost" hatte Treptow zudem die Möglichkeit genannt, den Schuljahreswechsel wieder rausch auf den Sommer zurückzudrehen - etwa indem man das kommende Schuljahr ebenfalls um ein halbes Jahr verlängere. Angesichts der möglicherweise andauernden Corona-bedingten Einschränkungen könne es sein, dass eine nochmalige Verlängerung eines Schuljahres geboten erscheine.
Der Leitfaden für den digitalen Unterricht fehlt noch immer
Miriam Pech von der Vereinigung der Berliner Sekundarschulleiter (BISSS) kann sich zwar nicht vorstellen, dass eine Verlängerung des Schuljahres bundesweit durchsetzbar wäre und verweist auf einen „Rattenschwanz“ von Folgeproblemen bis hin zu den Konsequenzen für die Universitäten.
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Gleichzeitig findet es die BISSS-Vorsitzende aber „gut, dass sich jemand Gedanken macht“. Denn die zu lösenden Probleme seien groß.
Pech verweist darauf, dass die Schulen noch immer vergeblich auf den viel beschworenen Leitfaden für den digitalen Unterricht warten. Was bedeutet: Es gibt kein berlinweites Konzept, in dem die Standards festgelegt wären. Dies widerspricht der Forderung von Eltern und auch der SPD-Fraktion nach verbindlichen Vorgaben.
Schulen warten auf die Laptops für sozial benachteiligte Schüler
Pech und andere Schulleiter vermissen aber nicht nur den Leitfaden, von dem die Bildungsverwaltung sagt, er sei „so gut wie fertig“. Vielmehr würden sie bis heute auch vergeblich auf einen der 9500 Laptops für sozial benachteiligte Schüler warten.
Andere Schulen vermissen die Bewilligung ihrer Anträge für das Programm „Lernbrücken“: Mit dem Geld aus diesem Programm sollten benachteiligte Schüler mittels freier Träger Lernstoff nachholen können. Die Bildungsverwaltung teilte dazu mit, dass die ersten Laptops inzwischen ausgeliefert seien. Es gebe auch bereits 70 konkrete Kooperationen in Bezug auf die „Lernbrücken“.
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Den Schulen dauert es aber zu lange, da vom Schuljahr nur noch wenige Wochen übrig sind. Zudem kämpfen sie mit fehlenden technischen Möglichkeiten, Konferenzen und Unterricht per Video zu organisieren.
Lehrer- und Raummangel sind größer als nötig
Zwar würden sie diese Hemmnisse gern mit Präsenzunterricht kompensieren; das aber scheitert an den strengen Vorgaben der Bildungsverwaltung. Während Bayern etwa angibt, Klassen würden nicht gedrittelt, sondern halbiert, da bis zu 15 Schüler im Raum sein dürften, trauen sich viele Schulen angesichts des Berliner Hygieneplans nur eine Drittelung zu – mit acht oder zehn Schülern pro Raum.
Diese strenge Vorgabe wiederum führt in Kombination mit dem Raum- und Lehrermangel dazu, dass kaum Unterricht stattfindet. Denn Berlin hatte es allen Lehrern ab 60 freigestellt, zu Hause zu bleiben, obwohl dies im Rahmenkonzept der Kultusminister gar nicht verlangt war.
Somit fehlen in Berlin Tausende dieser Altersgruppe im Präsenzunterricht. Eltern berichten von Grundschülern, die nur noch „viermal Unterricht bis zu den Sommerferien haben – insgesamt 16 Stunden. „Wir Eltern halten das für eine absolute Farce“, sagte ein Vater am Dienstag.
Kritik am Verzicht auf Zweitkorrekturen beim Abitur
Unverständnis gibt es auf Elternseite auch zu der Vorgabe der Bildungsverwaltung, auf die Zweitkorrekturen im Abitur zu verzichten. Da die MSA-Klausuren weggefallen seien, sollten die Lehrer jetzt die Zweitkorrekturen sicherstellen, fordert der LEA in Übereinstimmung mit dem Landesschülerausschuss.
Die Bildungsverwaltung stützt sich mit ihrem Verzicht auf die Zweitkorrektur auf eine Übereinkunft der Kultusministerkonferenz (KMK). Demnach dürfen die Länder „ausnahmsweise auf Zweitkorrekturen verzichten, sofern die Abiturprüfung in diesem Jahr andernfalls nicht durchgeführt werden kann“, wie KMK-Sprecher Torsten Heil dem Tagesspiegel bestätigte.
Eine Zweitkorrektur ist allerdings dann geboten, wenn die Prüfungsnote drei Punkte von der Vornote abweicht, erläuterte die Bildungsverwaltung.
Elternausschuss will nur Noten werten, die den Schnitt verbessern
Auch zur Frage, wie die Leistungen der Schüler, die im nächsten Jahr Abitur machen, in diesem Halbjahr bewertet werden sollen, positioniert sich der LEA. Er fordert, dass bei den Leistungen, die im Rahmen des Fernunterrichts erbracht wurden, nur die Noten in die Bewertung einfließen sollen, die dem bisherigen Notenstand entsprechen oder besser sind.
„Damit wäre sichergestellt, dass Schülerinnen und Schüler, die aufgrund der Ausnahmesituation ihr Leistungspotential nicht ausschöpfen können, auch nicht unverschuldet schlechter benotet werden.“ Zudem könne die Aussicht, sich verbessern zu können, zusätzlich motivieren.
Für die Sekundarstufe I, also die Klassenstufen 7 bis 10, hat die Senatsbildungsverwaltung genau dies in einem Schreiben vom 23. April angewiesen, nämlich dass sich „Kinder durch die Bewertung der beim Lernen zu Hause erbrachten Leistungen gegenüber dem ersten Halbjahr 2019/2020 nur verbessern und keinesfalls verschlechtern dürfen“.
"Ungerecht für die älteren Schüler"
Für die Elft- und Zwölftklässler der sogenannten Q2, also dem zweiten Halbjahr der Qualifikationsphase der Oberstufe, macht die Bildungsverwaltung dagegen diese Vorgabe nicht. In einem Schreiben vom 17. April heißt es, dass die Leistungen aus dem Fernunterricht „als Hausaufgabe oder schriftliche Teile von Projektarbeiten gewertet werden“ können.
"Das ist ungerecht für die älteren Schüler im Vergleich zur Sekundarstufe I“, sagt Norman Heise, der Vorsitzende des LEA. Der Landeselternausschuss fordert außerdem, dass bei den Abiturprüfungen im nächsten Jahr der Lernstoff aus der Q2 kein Prüfungsschwerpunkt sein dürfe, da dieser in diesem Halbjahr nicht prüfungsrelevant vermittelt worden sei.
Keine einheitliche Regelung bei den Klausuren
Zur Frage, ob in der Q2 auf weitere Klausuren verzichtet werden solle, hat sich das Gremium dagegen noch nicht positioniert. Heise sagte, das Gremium habe zwar mitbekommen, dass dies an Schulen unterschiedlich gehandhabt wird, habe aber „noch kein ausgewogenes Bild“. Eine einheitliche Regelung sei aber wünschenswert, schließlich gehe es um Gleichbehandlung, sagte Heise. Wie berichtet hatten mehrere Schülervertreter eine einheitliche Regelung dazu von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) gefordert, weil an einigen Schulen in der Q2 noch zahlreiche Klausuren geschrieben werden müssen, während andere Schulen auf diese verzichten.