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In einer finnischen Schule ruft ein Lehrer Schüler auf, die im Klassenzimmer an der hinteren Wand stehen und sich melden.
© IMAGO

Finnische Schulen in Not: Der Pisa-Riese strauchelt

Eine Schule für alle, erstklassige Lehrer, bei der Pisa-Studie immer ganz vorne: Lange wurde das finnische Bildungswunder bestaunt. Doch soziale Probleme stellen die Erfolge infrage. Zu Besuch in einem verunsicherten Land.

Was ist das bloß für ein Unterricht? Die Sechstklässler der Vikki-Schule sitzen in Vierergruppen in ihrer Klasse und erstellen eine Statistik. Welche Bilder aus der Ausstellung zum 100. Geburtstag von Tove Jansson, der Schöpferin der Mumin-Trolle, haben der Klasse am besten gefallen? Die Sammlung der Daten war Teil eines Quiz, mit dem die Kinder durch die Ausstellung gelaufen sind. Ist das hier Kunst- oder Matheunterricht? Die Klassenlehrerin lacht: „Finnisch natürlich.“

Es gibt sie noch, diese magischen Momente in den finnischen Einheitsschulen, in denen die Kinder von der ersten bis zur neunten Klasse gemeinsam lernen, wo die Fächergrenzen überwunden werden und der Umgang mit Wörtern und Zahlen fast spielerisch Hand in Hand geht. Exzellente Pisa-Ergebnisse waren den Finnen seit der 2001 veröffentlichten ersten internationalen Schulleistungsstudie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sicher. Erklärt wird das finnische Bildungswunder unter anderem mit der Chancengleichheit für Kinder aus allen sozialen Schichten, dem kostenlosen Schulessen und der speziellen Ausbildung der künftigen Lehrkräfte.

Auch in Finnland hängt der Schulerfolg von der sozialen Herkunft ab

Doch die Gewissheiten eines nahezu perfekten Schulsystems sind ins Wanken geraten. Bei der im Dezember vergangenen Jahres publizierten Pisa-Studie 2012 wurde Finnland durch asiatische Staaten wie Singapur und Korea von den führenden Plätzen verdrängt. In Mathematik rutschte das Land vom zweiten Rang im Jahr 2009 auf den 12. Platz. Erstmals entdeckten die Pisa-Forscher in Finnland einen signifikanten Zusammenhang des Schulerfolgs mit dem sozio-ökonomischen Hintergrund der Jugendlichen – ein Missstand, der bislang vor allem in Deutschland kritisiert wurde.

Schwer getroffen hat die Finnen auch, dass es innerhalb des als überaus homogen gerühmten Schulsystems mittlerweile eine Gruppe von Schulen gibt, deren Pisa-Ergebnisse unterhalb des OECD-Schnitts liegen. Und die Gruppe der schwächsten Lerner, die in Mathe gerade einmal Kompetenzstufe 1 erreichen, wuchs seit 2003 von sieben auf zwölf Prozent, die der besten schrumpfte von 23 auf 15 Prozent (hier).

Eltern wissen nicht mehr, wie wichtig Bildung ist, klagt die Ministerin

Wo sind diese abgehängten Schulen zu finden, woher kommen plötzlich die Risikoschüler? „Es geht um Gegenden, die unter sozialer Segregation leiden, in denen es viel Arbeitslosigkeit und Migranten gibt“, sagte die finnische Bildungsministerin Krista Kiuru kürzlich vor einer Gruppe internationaler Journalisten. Sie sind auf Einladung des Außenministeriums nach Helsinki gekommen, um das finnische Bildungswesen kennenzulernen. Wie vor ihnen ungezählte, auch zahlende Gruppen aus dem Ausland, die vom finnischen Modell lernen wollen. Der Zeitpunkt für diese Reise, an der auch der Tagesspiegel teilnahm, ist allerdings ein besonderer. Zu besichtigen ist ein verunsichertes Bildungssystem im Umbruch.

„Die junge Generation hat vergessen, dass Bildung uns zu einem der reichsten Länder der Welt gemacht hat“, sagt Ministerin Kiuru. Die heutigen Eltern würden ihren Kindern nicht mehr den Wert des Lernens für ein gutes Leben vermitteln, sondern, dass man für „Auto, Sommerhaus und viel Geld“ lebe. Dieser „Wandel der Einstellungen“ empört die Sozialdemokratin sichtlich, sie spricht von einer großen, grundlegenden Bildungsreform, die Kinder und Eltern erfassen solle.

Finnland ist die am schnellsten alternde Gesellschaft Europas

Der „kleine Pisa-Schock“ in Finnland korrespondiert mit der drohenden Deindustrialisierung des Landes. Paradigmatisch dafür ist der Niedergang des finnischen Traditionskonzerns Nokia, der soeben seine verlustreiche Mobiltelefon-Sparte an Microsoft verkauft hat. Das Land im hohen Norden ist die am schnellsten alternde Gesellschaft Europas, gleichzeitig wächst die Arbeitslosigkeit unter den weniger gut ausgebildeten Finnen und „neuen Finnen“, wie die eingebürgerten Zuwanderer genannt werden. Besonders häufig arbeitslos sind Menschen aus Somalia, dem Irak oder Afghanistan, die als Asylanten und durch spätere Familienzusammenführung nach Finnland gekommen sind.

Die Gruppe von zumeist männlichen Jugendlichen und jungen Männern, die nicht zur Schule gehen, nicht in Ausbildung sind und keine Arbeit haben, sieht das finnische Bildungssystem eigentlich nicht vor. Nach der 9. Klasse der Einheitsschule lernt die Hälfte der Schüler in der dreijährigen gymnasialen Oberstufe weiter, die andere Hälfte an dreijährigen Berufsfachschulen. Doch mindestens zweitausend Jugendliche pro Jahr kommen nach dem mittleren Schulabschluss nicht auf der nächsten Stufe an oder brechen die Berufsausbildung ab. In einem Land mit gerade einmal 5,5 Millionen Einwohnern ist das eine relevante Größe.

Die Schulpflicht soll jetzt um ein Jahr verlängert werden

Jetzt will die finnische Regierung diese Jugendlichen mit einer einschneidenden Reform einfangen: Die Schulpflicht, die bislang vom 7. bis zum 16. Lebensjahr gilt, soll bis zum 17. ausgeweitet werden. Schwache oder orientierungslose Schüler sollen obligatorisch ein weiteres Jahr auf der Einheitsschule bleiben. Diese 10. Klassen gibt es schon jetzt für freiwillige Wiederholer, die ihre Noten verbessern wollen.

In der Stadtteilschule von Vikki ist von solchen Problemen nicht die Rede. Die Vorzeigeschule, in der Kinder von der Vorschule bis zum Abitur lernen, gehört zur Universität Helsinki, dient der Lehrerausbildung. Vizedirektorin Marja K. Martikainen hat in den vergangenen Jahren Dutzende Gruppen empfangen, zählt ein wenig routiniert die finnischen Besonderheiten im Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern auf: „Vertrauen, Respekt, Unterstützung, Anleitung, Selbsteinschätzung – und der niemals endende Lernprozess.“

Bei der Morgenversammlung wird die Schule auf Shakespeares Geburtstag eingestimmt

Dann führt sie die Besucher in die Aula. Knapp 1000 Schüler und gut 300 Lehrkräfte sowie Lehramtsstudierende haben hier Platz, wenn die Schulglocke zur Morgenversammlung ruft. Heute erwartet alle die Präsentation zweier Studentinnen zu William Shakespeare. Mit biografischen Daten, Bildern und einem Filmausschnitt stimmen sie die Schule auf dessen 450. Geburtstag ein. Als die Kinder und Jugendlichen wieder in ihre Klassen strömen, nehmen sie zumindest Neugierde mit, wie wohl der Romeo-und-Julia-Film mit Leonardo DiCaprio weitergeht. Noch so ein magischer Moment.

Im Gespräch mit Studierenden aber hallt eher das eingeblendete Shakespeare-Zitat nach: „Rough winds do shake the darling buds of May“ (Durch Maienblüten raue Winde streichen). Eben noch wollte man dem oft gehörten Mantra glauben, in Finnland würden gerade die besten Abiturienten Lehrer, trotz der nicht allzu guten Bezahlung. Wer auf Lehramt studieren will, muss eine sehr gute Abschlussnote mitbringen, eine Aufnahmeprüfung bestehen und vor einer Uni-Kommission seine Motivation glaubhaft machen. Belohnt würden diese Bestenauslese und das fünfjährige Studium bis zum Master mit großem Vertrauen des Staates und der Eltern in die Lehrerschaft. Immer wieder ist zu hören, dass dies das eigentliche Geheimnis des finnischen Bildungserfolgs sei.

"Die ganze Kultur hat sich verändert", sagt ein Lehramtsstudent

Entspricht das noch der Realität? Der 21-jährige Juho Nurmi, kurz vor dem Bachelorabschluss in Deutsch und Schwedisch, schüttelt den Kopf: „Nein, man hört jetzt viel mehr von Problemen mit den Schülern und mit ihren Eltern.“ Die Kinder hätten angefangen, ständig zu widersprechen, wehrten sich etwa gegen Hausaufgaben. Auch die Eltern würden neuerdings den Lehrern reinreden, machten die Schule für schlechte Noten ihrer Kinder verantwortlich. „Die ganze Kultur hat sich verändert“, glaubt Nurmi. Die 18-jährige Vikki-Schülerin Emmi sagt zwar, es sei durchaus „eine Option“ Lehrerin zu werden. Begeisterung für den Beruf steht aber nicht dahinter, gibt sie zu. „Alle warnen uns vor der Arbeitslosigkeit, Lehrerin wäre da ein sicherer Job und du hast lange Ferien.“

Ein Bildungsforscher kritisiert "versteckten Rassismus" der finnischen Schule

Für Fred Dervin, Professor für multikulturelle Bildung an der Universität Helsinki, ist es ohnehin höchste Zeit für mehr Selbstkritik. „Die finnische Chancengleichheit ist ein Mythos“, sagte Dervin kürzlich bei einem Bildungsdialog des Berliner Finnland-Instituts und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dervin wirft dem Schulsystem „versteckten Rassismus“ und „soziale Etikettierung“ vor. Dazu trage selbst der hoch gelobte Förderunterricht für Schüler mit „besonderen Bedürfnissen“ bei. Wer ständig aus der Klassengemeinschaft herausgenommen werde, fühle sich ausgegrenzt.

„Davor dürfen wir nicht mehr die Augen verschließen“, sagt Dervin. Man müsse den Umgang mit sozialen Unterschieden in der Schule endlich in die Lehrerbildung aufnehmen, anstatt weiter das Gleichheitsideal zu predigen. Der Bildungsforscher plädiert auch dafür, das Wohnortprinzip durchzusetzen, nach dem Kinder immer auf die Gemeinschaftsschule in ihrem Umfeld gehen sollen. Derzeit versuchten bildungsbürgerliche Eltern mit allen Mitteln, Schulen mit einem hohen Migrantenanteil zu meiden. Schulrankings und Privatschulen spielten eine viel größere Rolle, als das Bildungsministerium offiziell zugebe.

Erfolgsgeschichten von Migranten? Lehrern fällt dazu nichts ein

In einem neuen Projekt mit seinen Studierenden will Dervin Erfolgsgeschichten von Migrantenkindern erzählen. Lehrer könnten ihnen dabei aber kaum weiterhelfen, sagt er. Sie beklagten sich eher, dass die zugewanderten Eltern unrealistische Ziele für ihre Kinder hätten, von künftigen Ärztinnen oder Ingenieuren träumten. Das große Versprechen der finnischen Schule, jedem Kind die gleichen Zukunfts- und Aufstiegschancen zu ermöglichen, hätten sie aus den Augen verloren.

Amory Burchard

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