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Eine Mutter betreut ihre beiden Töchter am Esstisch beim Homeschooling.
© imago images/Jochen Tack

Rolle der Bildungsforschung in der Coronakrise: Endlich untersuchen, wie Distanzunterricht das Lernen verändert

Wo bleibt die Bildungsforschung in der Pandemie? Die Leiterin des Nationalen Bildungspanels Cordula Artelt erklärt, wann erste Studien zu Lernlücken starten.

Wann gibt es verlässliche Erkenntnisse über Lernrückstände und Kompetenzverluste durch den Distanzunterricht? Diese Frage hat uns Cordula Artelt, Professorin für Bildungsforschung im Längsschnitt an der Universität Bamberg, Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) und dort Leiterin des Nationalen Bildungspanels (NEPS), beantwortet. Protokolliert von Amory Burchard.

Die empirische Bildungsforschung kann nicht einfach Schulen den Fuß in die Tür setzen und sagen: Hier sind wir. Die Bildungsforschung ist auf Partner angewiesen, die kooperieren – Länder und Schulen, die sagen: Wir haben die Aufgabe oder den Wunsch, festzustellen, wie stark beispielsweise die Leistungsrückstände ausgeprägt sind. Die Bildungsforschung braucht außerdem Instrumente, die für diese Zwecke aussagekräftig sind.

Die Situation, in der wir uns gerade befinden, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und außergewöhnlich. Dabei sind die Vergleichsarbeiten, nach denen häufig gerufen wird, um Lernrückstände und Kompetenzverluste durch Schulschließungen, quarantänebedingte Fehlzeiten und durch den Distanzunterricht zu messen, nicht unbedingt das Mittel der Wahl.

Endlich empirische Erkenntnisse

Denn Vergleichsarbeiten wie „Vera“ sind für den Zweck geschaffen worden, Lehrkräften – orientiert an den Bildungsstandards – Rückmeldungen über individuelle Stärken und Schwächen ihrer Schülerinnen und Schüler zu geben und Möglichkeiten der Unterrichtsentwicklung aufzuzeigen. Sie haben also eher die Funktion, pädagogisches Handeln durch zusätzliches Wissen zu unterfüttern. Die Tests werden auch von Lehrkräften selber durchgeführt.

Das wesentlich aussagekräftigere Instrument, das neben den Vergleichsarbeiten in der Strategie der Kultusministerkonferenz (KMK) verankert ist, sind die Bildungstrends des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Mit ihnen wird überprüft, ob Schülerinnen und Schüler der 4. und der 9. Klassen die Bildungsstandards für das Ende der Grundschulzeit und der Sekundarstufe I erreichen.

[Lesen Sie auch unseren Tagesspiegel Plus-Bericht zum Thema: Was macht die Pandemie mit denn Kindern?]

2021 sollen Viertklässler kurz vor den Sommerferien in Deutsch und Mathematik getestet werden. Das wird endlich empirische Erkenntnisse über die konkreten Auswirkungen des Lernens unter Pandemiebedingungen zulassen.

Länder müssen ihr Commitment halten

Diese Testung wurde von der KMK wegen der Pandemiesituation von 2020 auf dieses Jahr verschoben und es bleibt zu hoffen, dass die Länder ihr Commitment halten und nicht doch noch sagen: Wir haben jetzt eine Ausnahmesituation, in der andere Dinge wichtiger sind.

Im Nationalen Bildungspanel (NEPS) führen wir zudem eine Zusatzstudie durch, in der wir bereits in diesem Frühjahr Schülerinnen und Schüler der 9. Klassen in Mathematik testen. Wir haben zum einen ihre Entwicklung von der 7. bis zur 9. Klasse begleitet und können sehen, ob sich ihre Lernzuwächse in der Corona-Zeit verringert haben.

Ein Porträtbild von Cordula Artelt.
Cordula Artelt, Professorin für Bildungsforschung im Längsschnitt an der Universität Bamberg, Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) und Leiterin des Nationalen Bildungspanels (NEPS).
© Thomas Riese/LifBi

Und wir können sie zum anderen mit einer früheren Kohorte vergleichen: Wie viel hatten diese Schüler zwischen der 7. und 9. Klasse dazugelernt und wie verhält sich die Corona-Kohorte dazu? Gleichzeitig werden wir die Jugendlichen und ihre Eltern zu ihrem subjektiven Erleben in dieser Zeit befragen und daraus Rückschlüsse über die Lernbedingungen in Phasen der Schulschließungen und des Distanzunterrichts sowie der zwischenzeitlichen Rückkehr in die Schulen ziehen können.

Besonderes Augenmerk wird dabei auf der Frage liegen, wie sich unterschiedliche häusliche und schulische Situationen auswirken, etwa wie die Schülerinnen und Schüler technisch ausgestattet sind, ob und wie sie von den Eltern unterstützt werden. Meine Hypothese dabei ist, dass sich die sozialen Unterschiede, von denen die Bildungschancen in Deutschland bekanntlich stark geprägt sind, verstärkt haben. Darauf gibt es deutliche Hinweise aus bereits vorliegenden Untersuchungen, die sich mit den Auswirkungen von langen Ferienzeiten insbesondere in den USA beschäftigt haben.

Es fehlt die soziale Interaktion

Klar ist auch, dass Distanzunterricht die vielen Dimensionen, die Schule neben der Vermittlung des Lernstoffs hat, nicht ersetzen kann. Lehrkräfte können im Onlineunterricht nicht so wie im Klassenraum auf individuelle Lernvoraussetzungen und -schwierigkeiten eingehen, es fehlt die soziale Interaktion, auch mit den Mitschülern.

Selbst wenn sich seit dem Frühjahr 2020, als häufig nur Arbeitsanweisungen per E-Mail erteilt wurden, sehr viel in der pädagogisch-didaktischen Qualität des Unterrichtens auf Distanz verbessert hat, gilt das weiterhin.

[Die Grenzen des Kindes akzeptieren: Lesen Sie auf T+ unseren Bericht über die Rolle der Eltern im Homeschooling]

Die Fokussierung auf schriftsprachliche Kommunikation im Distanzunterricht bringt eigene Probleme mit sich. So wissen wir aus einer Corona-Zusatzbefragung im Rahmen des Nationalen Bildungspanels, dass die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler, die wir aus früheren Untersuchungen kennen, eng mit dem Interesse an den Lerninhalten und der Bereitschaft, sich beim Lernen im Homeschooling anzustrengen, zusammenhängt. Für Kinder und Jugendliche, die nicht gut lesen, können schriftliche Arbeitsanweisungen eine echte Motivationsbremse beim eigenständigen Lernen zu Hause sein.

Grundschüler:innen sitzen an einem Klassenraum an Einzeltischen.
Die vielen Dimensionen, die Schule neben der Vermittlung des Lernstoffs hat, kann der Distanzunterricht nicht ersetzen.
© Frank Rumpenhorst/dpa

Andere Untersuchungen werfen Fragen auf, bei denen eine empirische Überprüfung überraschende Ergebnisse bringen könnte. Nach der viel beachteten Umfrage des Ifo-Instituts hatte sich die Lernzeit in der ersten Phase des Distanzunterrichts halbiert und bei lernschwachen Schülern waren es noch ein paar Prozentpunkte weniger.

Etwas weniger gravierend haben wir die Reduktion der Lernzeit auch im Rahmen unserer eigenen Corona-Zusatzbefragung bestätigt. Nun liegt es aber auf der Hand, dass Schülerinnen und Schüler zu Hause weniger Zeit mit dem Lernen verbringen als in der Schule. Es kann durchaus sein, dass dabei von sehr vielen Kindern und Jugendlichen gleichwertige Lernfortschritte erzielt werden – je älter sie sind, desto mehr.

Erklärungsbedürftige Lernstandserhebung in Hamburg

Auch interessant: Lernstandserhebungen in Hamburg nach den ersten Schulschließungen und den Sommerferien hatten keine signifikanten Lernrückstände in den 3. und 7. Klassen ergeben. Belastbare Erklärungen dafür habe ich bisher keine. Insofern bin ich gespannt auf die Ergebnisse aus den Bildungstrends für die 4. Klassen und aus unserer eigenen Zusatzstudie zum Nationalen Bildungspanel, die voraussichtlich im Spätherbst vorliegen werden.

Eine offene Frage, die weder die Bildungspolitik noch die Bildungsforschung alleine beantworten können, ist die der Übergänge – von der 4. oder 6. Klasse in die Sekundarstufe I und dann in die Sekundarstufe II, von der Schule an die Hochschule oder in die Berufsausbildung und in den Beruf. Hier stellt sich die Gerechtigkeitsfrage noch einmal ganz anders.

Sind die Übergangschancen auf die weiterführenden Schulen gleich, wenn der Unterricht in der letzten Grundschulklasse so gänzlich anders abgelaufen ist als in den Jahrgängen davor? Ist das Abitur in diesem Jahr gleichwertig mit den vorhergehenden und späteren Jahrgängen? Müssen die aufnehmenden Einrichtungen – Ausbildungsbetriebe oder Hochschulen – bestehende Unterschiede hinnehmen und ausgleichen?

Hier werden auch Juristinnen und Juristen gefordert sein. Aus meiner Sicht spricht viel für eine Öffnung von Zugängen, also etwa dafür, den Übertritt ans Gymnasium weniger stark als sonst an Noten zu binden. Aber problemlos wird das sicher nicht sein.

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