Homeschooling in der Coronakrise: Hohe Lernverluste durch Schulschließungen
Für Deutschland fehlt ein Überblick über Lernrückstände durch Fernunterricht. In den Niederlanden waren die Verluste hoch - und hierzulande eher höher.
Müssen Schüler und Schülerinnen in der Grundschule aufgrund von coronabedingten Schulschließungen acht Wochen am Stück zu Hause lernen, entspricht der durchschnittliche Lernverlust exakt diesem Zeitraum. Gegenüber dem üblichen Lernzuwachs in einem Schuljahr haben 7- bis 11-Jährige in den Kernfächern und -kompetenzen Mathematik, Rechtschreibung und Leseverständnis drei Prozentpunkte verloren.
Bei Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern liegen die Lernverluste bis zu 55 Prozent höher. Das sind zentrale Ergebnisse einer Studie von Bildungsforschern an der Universität Oxford für die Niederlande (zum englischsprachigen Paper geht es hier). Die Erkenntnisse über die Lernrückstände ließen sich aber auf Deutschland übertragen, sagt Bildungsökonom Ludger Wößmann vom Ifo-Institut in München.
"Ich gehe davon aus, dass die Lage in Deutschland sogar noch schlechter ist", sagte Wößmann dem Tagesspiegel. Denn die Studie zu den Niederlanden fand unter den idealen Bedingungen eines nur achtwöchigen Lockdowns im Frühjahr bei einem hohen Stand der Digitalisierung der Schulen statt. Letzterer sei in Deutschland bekanntlich nicht gegeben.
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Vor dem Hintergrund der hierzulande drohenden erneuten Schulschließungen fordert der Leiter des Ifo-Zentrums für Bildungsökonomik deshalb: "Wir müssen so viel Präsenzunterricht aufrechterhalten, wie es die regionale epidemiologische Lage ermöglicht."
Schulpolitik versäumte, Online-Unterricht anzuordnen
Wo immer aber einzelne Schüler, Lerngruppen oder ganze Schulen gezwungen seien, vorübergehend zu Hause zu lernen, "muss ein sofortiger täglicher Online-Unterricht sichergestellt werden". Die Bildungspolitik habe versäumt, dies bereits unmittelbar nach den Sommerferien klarzustellen. "Wäre das seitdem durchgesetzt worden, wäre man jetzt besser auf weiträumige Schulschließungen vorbereitet", sagt Wößmann.
Dass es in Deutschland keine Erkenntnisse gibt, die mit der Studie zu Grundschülern in den Niederlanden und einer ähnlichen Untersuchung in Belgien vergleichbar sind, kritisiert der Bildungsökonom. "Auch deshalb befindet sich unsere Schulpolitik derzeit im Blindflug."
Tatsächlich hat die Kultusministerkonferenz (KMK) den Ländern "aufgrund der flächendeckenden Schulschließung im Kampf gegen die Verbreitung des Corona-Virus" die Teilnahme an den Lernstandserhebungen Vera 3 und Vera 8 für das Jahr 2020 freigestellt.
[Welche Einschränkungen der Bund aktuell bei den Schulen fordert, lesen Sie hier: Adieu Regelschulbetrieb]
Welcher Stoff vermittelt wurde und welcher nicht, haben Lehrkräfte nur teilweise dokumentiert. Und bei weitem nicht alle Länder haben den Lernstand nach den Sommerferien getestet. Veröffentlicht oder bundesweit zusammengeführt wurden die Ergebnisse schon gar nicht, die die KMK dem Tagesspiegel am Montag bestätigte.
Keine Probleme beim Erreichen der Bildungsziele?
Aus Brandenburg etwa hieß es Anfang Oktober lediglich, die überwiegende Mehrheit der Schulen im Land Brandenburg habe "keine Probleme für das Erreichen der Bildungsziele angezeigt". Die meisten könnten "durch eigene Schwerpunktsetzung bei der Stundentafel und beim Personaleinsatz die Schülerinnen und Schüler so unterstützen, dass die Bildungsziele erreicht werden".
Gleichwohl gibt es auch hierzulande klare Hinweise auf gravierende Lernverluste in allen Schularten. So ergab eine Umfrage des Schulbarometers der Pädagogischen Hochschule Zug (Schweiz) im April, dass Lehrkräfte in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Schnitt nur Aufgaben für 13 Stunden Fernunterricht in der Woche erteilten.
Bei anderen Umfragen bestätigte sich zudem mehrfach, dass nur ein kleiner Teil der Lehrkräfte digitale Lernmittel nutzte und das Homeschooling weitgehend mit Arbeitsblättern und Aufgaben per E-Mail unterstützt wurde.
Den erschreckenden Befund einer im Schnitt über alle Schularten halbierten Lernzeit ergab dann im August eine Umfrage des Ifo-Instituts, die das Team um Ludger Wößmann seitdem tiefgehender ausgewertet hat. "Die Lernzeitreduzierung ist demnach bei Akademikerkindern genauso stark wie bei Nicht-Akademikerkindern", sagt Wößmann.
Schwache Schüler daddeln wesentlich mehr
Unterschiede gebe es aber zwischen lernstarken und lernschwachen Schülerinnen und Schülern. Befassten sich Kinder und Jugendliche in der Zeit der Schulschließungen im Schnitt nur noch 3,6 Stunden statt zuvor 7,5 Stunden am Tag mit schulischen Inhalten, waren es bei "guten" Schülern 3,9 Stunden und bei „schlechten“ nur 3,4 Stunden Lernzeit.
"Lernschwache sind weniger dazu in der Lage, selbstständig zu lernen, sie investieren die Zeit, die sie ohne ihre Lehrkräfte verbringen, lieber in andere Aktivitäten", sagt Wößmann. So hätten schwache Schüler während des ersten Lockdowns 6,3 Stunden am Tag mit Fernsehen, Computerspielen oder sozialen und anderen Online-Medien verbracht - eineinhalb Stunden mehr als Schüler mit guten Schulnoten.
Es liege damit auf der Hand, dass Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen - seien sie kognitiver Art oder beruhten sie etwa auf Aufmerksamkeitsstörungen - stärker auf den Input und die Begleitung durch Lehrkräfte angewiesen seien. Deshalb sollten sie bei geteiltem Unterricht bevorzugt in der Schule betreut und bei Online-Unterricht besonders gefördert werden, fordert Wößmann.
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