Chemie-Nobelpreis für französische Berlinerin: Ein „Navi“ für die Gentechnik – Emmanuelle Charpentier machte alles einfacher
Gene schnippeln konnte man schon vor der Gen-Schere Crispr/Cas9. Doch erst Emmanuelle Charpentier entdeckte das entscheidende Stück.
Überrascht hat dieser Nobelpreis niemanden, der von der Sache etwas versteht. Seit Jahren wartet die Wissenschaftsgemeinschaft weltweit darauf, dass Stockholm eine der wichtigsten Entdeckungen und Entwicklungen auf dem Gebiet der Molekularbiologie ehrt: die der Gen-Schere mit dem umständlichen Namen „Crispr/Cas9“.
Kaum jemand bezweifelte auch, dass die Wahl auf die französische Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier, die seit 2015 in Berlin forscht und lebt, und ihre US-amerikanische Kollegin Jennifer Doudna von der University of California Berkeley fallen würde.
Dass es nun ausschließlich diese beiden geworden sind, ist wahrscheinlich eine sehr weise Entscheidung des Nobelkomitees.
Denn wie bei so vielen wissenschaftlichen Durchbrüchen gab es durchaus eine ganze Reihe weiterer Optionen (siehe unten), bei denen die Auswahl allerdings schwer gefallen wäre.
Zu viel der Ehre
Die beiden Wissenschaftlerinnen hatten in den vergangenen Jahren bereits gemeinsam so viele Forschungspreise bekommen, ständig Medienanfragen und öffentliche Auftritte abarbeiten müssen, dass sie zeitweise gar nicht mehr zum Forschen kamen.
Als sich Charpentier etwa 2016 nach etlichen Verschiebungen Zeit für das erste ausführliche Interview mit dem Tagesspiegel nahm, zog sie es vor, lieber in einem Café vor den Toren des Charité-Geländes zu sprechen – so als sei es ihr ein wenig unangenehm gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass sie so „schon wieder“ Zeit mit der Presse verbringt und nicht ihre Forschungen in der eigens für sie gegründeten „Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene“ anschiebt.
„Ich bin nicht Wissenschaftlerin geworden, um mit den Medien zu sprechen“, sagte sie damals entschuldigend, nicht etwa verärgert. Denn die stets fröhliche, freundliche und charmante 51-Jährige will die Aufmerksamkeit auch nutzen, um zu erklären, wie elementar wichtig Grundlagenforschung selbst an scheinbar „abseitigen“ Themen für neue Therapien und Innovationen ist.
[Lesen Sie hier ein Interview mit Emmanuelle Charpentier, das der Tagesspiegel mit ihr vor vier Jahren führte.]
Denn was heute als Methode der Wahl gilt, um Erbgut zu verändern, was bereits erste Patientinnen von lebensverkürzenden Blutkrankheiten wie Sichelzellanämie und Beta-Thalassämie geheilt hat und die Züchtung schädlings- oder dürreresistenterer Pflanzen ermöglicht, das hatte 2011 – und schon lange davor – mit der völlig anwendungsfernen Erforschung von Bakterien wie Streptococcus pyogenes begonnen.
Im Immunsystem von Bakterien war das Werkzeug versteckt, das jetzt die Gentechnik revolutioniert
Diese und viele andere Mikroben h aben schon vor Milliarden von Jahren ein Abwehrsystem gegen Viren entwickelt. Charpentier und viele andere Mikrobiologen versuchten schon seit geraumer Zeit herauszubekommen, wie es funktioniert. Denn offenbar schafften es Bakterien, die einen Virenbefall überlebt hatten, Informationen an ihre Nachkommen zu übergeben, mit denen diese resistent gegen einen erneuten Befall mit diesen Viren werden konnten.
Die Bakterien „merkten“ sich den jeweiligen Virustypus, indem sie charakteristische Erbgutstücke der Schädlinge in ihr eigenes Genom einbauten, zwischen „regelmäßigen Anordnungen von kleinen, symmetrischen Wiederholungen“, den „clustered regularly interspaced small palindromic repeats“, kurz Crispr. Eine Art Bibliothek für Viruserbgut, wo die Crispr-Abschnitte gewissermaßen das Regal, das Ordnungssystem, darstellen.
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Sobald derart gewappnete Mikroben erneut von diesen Viren befallen wurden, bedienten sie sich ihres Virus-Gedächtnisses und „zerschnippelten“ das fremde Viruserbgut mit einem speziellen Enzym, der Gen-Schere „Cas9“. Doch wie unterscheidet dieses Enzym zwischen Viruserbgut und Bakterienerbgut? Wie findet es die Stelle, wo es schneiden soll?
Ein „Bauchgefühl“, das zum Nobelpreis führte
2011 habe sie so ein „Bauchgefühl“ gehabt, woran das liegen könne, sagt Charpentier. Eine Ahnung, die sich nicht ohne sehr viel vorherige Laborarbeit nicht einstellt. Bevor die Max-Planck-Gesellschaft Charpentier nach Berlin holte, musste sie in den dreizehn Jahren zuvor elf Mal umziehen, darunter Stationen wie das Pariser Pasteur-Institut, die New Yorker Rockefeller University, die Wiener Medizinische Universität, die schwedische Umeå-Univsersität und das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Immer den – oft viel zu knappen – Forschungsbudgets hinterher, erzählt die bei Paris geborene Wissenschaftlerin.
Inmitten ihres Umzuges aus Wien nach Umeå, hatte sie ein besonderes Molekül in den Bakterien entdeckt – die „tracrRNA“. Schon länger untersuchte ihr Labor solche aus dem Schwestermolekül der DNA bestehenden RNA-Stücke. Charpentiers Bauch sagte, dass diese tracrRNA entscheidend für das bakterielle Immunsystem sein könnte.
Und tatsächlich: Ohne tracrRNA funktionierte die Virenabwehr nicht mehr. Sie hatte das entscheidende fehlende Stück zur Gen-Schere entdeckt. Charpentier erkennt sofort, dass sich daraus ein universelles Werkzeug bauen lässt – das auch Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen an jeder gewünschten Stelle im Erbgut – und nur dort – schneiden könnte. Eine Art „Navi“ fürs Genom entdeckt.
Schneller, billiger, praktischer
Zwar konnten Genforscher schon vorher Proteine so verändern, dass sie jede beliebige Erbgutsequenz unter Milliarden von Erbgutbausteinen erkennen und dann gezielt schneiden und verändern. Doch diese „Zinkfinger“, „Meganukleasen“ oder „Talen“ müssen für jede DNA-Sequenz neu designt werden. Zu aufwändig und teuer und langsam.
Bei der Crispr-Genschere hingegen bleibt das erbgutschneidende Enzym Cas9 immer gleich, nur das „Navi“ muss angepasst werden: ein schnell und billig herzustellendes Stück RNA, das unter anderem aus Charpentiers tracrRNA besteht. Ein simples, modulares System.
Doch bis dahin ist noch viel Forschung nötig und Charpentier zieht gerade mal wieder um. Also erzählt sie auf einer Konferenz Jennifer Doudna von ihrer Entdeckung, einer RNA-Spezialistin. Sie ist interessiert und nach ein paar Erinnerungs-Emails von Charpentier beginnt eine Forschungskooperation ein. Das Ergebnis veröffentlichen sie am 17. August 2012 gemeinsam im Fachmagazin „Science“ – gewissermaßen der Geburtstag der Crispr-Technik.
„Es ist nie nur eine Person, die so einen wichtigen wissenschaftlichen Durchbruch möglich macht“, sagt Simone Spuler vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin-Buch. „Aber es ist wirklich das Verdienst dieser beiden, dieses wichtige Werkzeug in die Welt gebracht zu haben und auch von Anfang an auf die klinische Bedeutung hingewiesen zu haben.”
Mit den Gen-Schere gegen Lähmungen
Spuler hat, wie inzwischen praktisch jedes Molekularbiologie-Labor auf der Welt, sofort nach der „Science“-Veröffentlichung mit der Gen-Schere zu arbeiten begonnen. Inzwischen ist daraus ein neuer Therapieansatz gegen teils lebensbedrohliche Muskelschwund-Erkrankungen geworden, Spuler entnimmt Muskelstammzellen der Patienten, repariert mit der Gen-Schere die ursächliche Genmutation, und spritzt sie zurück.
Heilung sei so zwar noch nicht zu erwarten, aber Spuler hofft, weitere Lähmungen zu verhindern – etwa der Hände einer ihrer Patientinnen, die fürchtet, nie wieder ihre geliebte Querflöte spielen zu können.
Dass die Gen-Schere auch Heilungspotenzial hat, zeigte sich erstmals Ende vergangenen Jahres. Die von Charpentier mitgegründete Firma „Crispr Therapeutics“ gab bekannt, dass zwei Patientinnen dank der Gen-Scherentherapie ihre Sichelzellanämie und Beta-Thalassämie, genetisch bedingte Blutkrankheiten, überwinden konnten. Das endgültige Ergebnis der Studie steht zwar noch aus.
Doch selbst wenn es noch Probleme, Nebenwirkungen und Optimierungsbedarf geben sollte – die Entdeckung der Crispr/Cas9-Gen-Schere ist keine zehn Jahre alt. Hunderte Labors weltweit arbeiten daran, dass Werkzeug zu optimieren. Oder auch so zu verändern, dass sie neue Eigenschaften bekommt. Etwa der Gen-Schere die Fähigkeit zum Schneiden zu nehmen und sie stattdessen zum „Verpacker“ von krebsfördernden Genen zu machen.
Nach kaum zehn Jahren Gen-Scherenforschung gibt es noch viel zu entdecken. Vielleicht bekommt Emmanuelle Charpentier jetzt endlich, nach all dem Trubel um den Nobelpreis, die von ihr so vermisste Zeit im Labor dafür.