Leben mit der Ganztagsschule: Die Vollzeit-Schüler
Von 7 bis 17.30 Uhr lernen, basteln und spielen: Für Kinder wird die Ganztagsschule zum Lebensraum. Pädagogen und Bildungsforscher sehen viele Vorteile. Umstritten bleibt aber die knappe Freizeit außerhalb der Schule.
Mittwochnachmittag in der Grundschule am Hedernfeld in München. Während die Mägen der Zweitklässler noch Ravioli in heller Soße aus der Schulkantine verdauen, rauchen ihre Köpfe: Die Deutschübung ist knifflig! Lang oder kurz gesprochene Vokale, das ist hier die Frage. Blu-me, Fal-ter, Kin-der? Die siebenjährige Lena verzieht sich in den Nebenraum, zwischen ihren Klassenkameraden ist es ihr zu laut zum Silbenzählen. Ismael ruft um Hilfe, die Erzieherin eilt herbei. Insgesamt drei Betreuerinnen kümmern sich um die 19 Kinder.
Vor vier Jahren hielt der Ganztag Einzug in der Grundschule am Hedernfeld. Neben klassischen Halbtagsklassen gibt es hier mittlerweile vier Ganztagsklassen, in jeder Jahrgangsstufe eine. Um 7 Uhr öffnen sich die Schultore für die Kinder, um 17.30 Uhr kann auch das letzte Kind nach Hause gehen. Dazwischen gibt es rhythmisierten Unterricht – unter Bildungswissenschaftlern ein Zauberwort für gelungenen Ganztagsbetrieb.
In Sachsen lernen heute fast 80 Prozent ganztags
Die streng getaktete Aufteilung in Unterricht und Freizeit wird dabei aufgehoben. Normaler Unterricht wird im Wechsel mit längeren Lerneinheiten, anderen Aktivitäten und Pausen erteilt, auch nachmittags. Heute basteln die Kinder ein Kalenderblatt für den Juni und lösen gemeinsam eine Geometrieaufgabe. Der Wechsel von Anspannung und Entspannung soll ihnen das Lernen erleichtern, die Lernmotivation erhöhen und immer wieder kleine Erfolgserlebnisse schaffen.
Mehr als jede zweite Schule in Deutschland bietet mittlerweile ein Ganztagsmodell an. Je nach Bundesland ist die Dichte der Ganztagsschulen dabei sehr unterschiedlich: In Sachsen gehen heute fast 80 Prozent der Schüler ganztags zur Schule, in Bayern sind es nur 12,4 Prozent.
Der Ausbau verlief in den vergangenen Jahren jedenfalls rasant: 2003 gab es 6300 Ganztagsschulen in Deutschland, 2011 waren es bereits mehr als 17 700. Ausgelöst wurde dieser Anstieg vom wohl größten schulischen Investitionsprogramm in der deutschen Geschichte: 2003 spendierte die Bundesregierung den Ländern vier Milliarden Euro für den Ausbau ihrer Ganztagsschulen. Die Hoffnung: Ganztagsschulen sollen berufstätige Eltern unterstützen und zugleich mehr Bildungsgerechtigkeit schaffen.
Die Lernkultur und die Ausstattung der Schulen muss sich ändern
Heute gleicht die Ganztagsschullandschaft einem bunten Flickenteppich. Was unter Ganztag läuft, reicht vom Mittagstisch mit freiwilliger Nachmittagsaufsicht über verpflichtenden rhythmisierten Unterricht mit verschiedenen Freizeitangeboten. Jedes Bundesland und jede Kommune experimentiert mit anderen Schulversuchen und Ganztagsmodellen.
Maren Wichmann ist so etwas wie die Qualitätsbeauftragte der deutschen Ganztagsschulen. Sie leitet das bundesweite Programm „Ideen für mehr! – Ganztägig lernen“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Für Wichmann steht fest, dass die Ganztagsschule das geeignete Modell für die Zukunft ist: „Kinder brauchen Zeit zum Lernen.“ Doch mit einer Ausweitung der Schulzeit auf den Nachmittag allein sei es nicht getan. Auch die Lernkultur und die Infrastruktur an den Schulen müssten sich ändern, um genügend Frei- und Rückzugsräume für die Heranwachsenden zu schaffen.
Freiräume gibt es in der Grundschule am Hedernfeld viele. Weil die Schule schon seit 1977 an ein städtisches Tagesheim angeschlossen ist, ist die Infrastruktur gut ausgebaut: Am Rand eines Waldes gelegen, säumen großzügige Sportplätze das Schulgebäude, eine Kantine ist vorhanden, genauso wie Ruheräume, ein Werkraum und eine Turnhalle. Alles ist kindgerecht und liebevoll eingerichtet. In den Pausen spielen ein paar Jungen im Hof Fußball, eine Gruppe Mädchen tuschelt im Kinderrestaurant.
Lernerfolge an der Münchner Modellschule "am Hedernfeld"
Im Einzugsgebiet der Schule reihen sich Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten aneinander, die Straßen tragen Namen wie Wildtaubenweg und An der Rehwiese. Doch nicht alle Schüler kommen aus Mittelschicht-Familien. Viele wohnen in den Sozialbauten in Blumenau, über die Hälfte der Grundschüler hat Migrationshintergrund, einige haben erhöhten Förderbedarf. An der Schule gibt es auch den Kurs „Deutsch für Mütter.“ Für ihr herausragendes Angebot und Engagement hat die Grundschule am Hedernfeld kürzlich den dritten Platz beim Münchner Schulpreis gewonnen.
Motor des Engagements von Lehrkräften und Sozialpädagogen ist Rektorin Gabriele Strehle. Bis zu 60 Stunden in der Woche arbeitet sie an der Schule. „Die Schule ist mein Hobby“, sagt die Frau mit der randlosen Brille. Mails von Eltern beantwortet sie auch schon mal spätabends. Ein Anliegen kommt dabei immer öfter vor: der Ganztag. „Der Bedarf ist groß“, sagt Strehle. Viele Eltern seien auf ein Ganztagsangebot angewiesen, weil sie berufstätig oder alleinerziehend sind. Strehle sieht den Schulversuch als Erfolg, nicht nur wegen der Nachfrage, sondern auch aufgrund der Lernfortschritte durch die individuelle Förderung: Während die Ganztagskinder in den ersten Klassen oft zu den schwächsten zählten, seien sie in den vierten Klassen mitunter die stärksten.
Starke soziale Beziehungen zu Mitschülern und Lehrkräften
Wenn Kinder von 8 bis 16 Uhr in der Schule sitzen, wird sie vom Lernraum auch zu ihrem Lebensraum – und zur Kontaktbörse. Laut einer Studie der Universität Lüneburg profitieren Ganztagsschüler von diesem Umstand: Entwicklungspsychologin Maria von Salisch fand in einer Befragung von 500 Brandenburger Schülern heraus, dass Ganztagsschüler sowohl zu ihren Mitschülern als auch zu den Lehrkräften stärkere soziale Beziehungen aufbauen. Sie hatten bessere Werte, wenn es um soziales Lernen oder auch um Hilfe für ihre Mitschüler ging. Für Maren Wichmann von der Kinder- und Jugendstiftung bringt die Ganztagsschule somit auch Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe für jene Schüler, die ansonsten eher am Rande der Gesellschaft stehen.
Kaum Zeit für Hobbys und Freundschaften außerhalb der Schule
Doch auch wenn Ganztagsschulen Probleme lösen – sie schaffen mitunter auch neue. Insbesondere das Verhältnis zwischen Freizeit und Ganztagsschule ist für viele Heranwachsende spannungsgeladen. „Wenn Jugendliche außerhalb der Schule noch Freundschaften und Hobbys pflegen wollen, können sie ein Vereinbarkeitsproblem bekommen“, sagt die Bildungswissenschaftlerin Regina Soremski (Universität Gießen). Sie erforschte in einer Studie den Freizeitalltag jugendlicher Ganztagsschüler. Für manche Gymnasiasten sei es selbstverständlich, nach Schulschluss um 16 Uhr noch im Verein Sport zu treiben und abends Vokabeln zu lernen. „Die Pädagogen an den Ganztagsschulen müssen den Jugendlichen helfen, mit ihren Ressourcen besser umzugehen“, sagt Soremski.
Während gerade Jugendliche Schule als Zeitfresser und Gegenpol zu ihrer Lebenswelt sehen, sind Grundschüler tendenziell positiver eingestellt: „Ich bin gerne den ganzen Tag in der Schule“, sagt Finja aus der Grundschule am Hedernfeld. „Hier kann ich immer mit meinen Freunden spielen.“ Wenn sie gegen 17 Uhr nach Hause komme, habe sie nur noch freie Zeit für sich. Denn Hausaufgaben gibt es in ihrer Ganztagsklasse keine. Üben, wiederholen und lernen können die Kinder schließlich in der Schule.
Auch wenn Kinder wie Finja vom Ganztag schwärmen, weiß Direktorin Gabriele Strehle: „Ganztagsunterricht passt nicht zu jedem Kind.“ Schließlich gebe es auch solche, die mehr Ruhe brauchen. Mittags wollen sie nicht toben, sondern lieber ein Buch lesen oder ein Nickerchen machen. „Wir versuchen diesen Kindern im normalen Schulalltag Ruhezeiten zu verschaffen.“
Ein Leben ohne Zeitplan? Einfach mal auf der Straße spielen?
In der Klasse 2i liest Erzieherin Frau Seidel derweil einer Gruppe Zweitklässler aus „Pünktchen und Anton“ vor. Ein paar Kinder lauschen mit wachen Augen, andere gähnen oder flüstern miteinander. Die Geschichten von Erich Kästner oder auch die von Astrid Lindgren erzählen von einer Kindheit, die den meisten Ganztagsschülern heute eher fremd ist: ohne getakteten Zeitplan aufwachsen, ohne Erwachsene auf der Straße spielen. Doch wer die Kinder vom Hedernfeld so fröhlich miteinander lernen, spielen und toben sieht, erkennt gleichwohl ein bisschen Bullerbü.
Anja Reiter
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