Spätfolgen nach Krebs: Geheilt – aber nicht gesund
Wer den Krebs besiegt hat, hat häufig einen zweiten Kampf vor sich – gegen die Spätfolgen von Tumor und Therapie. Erwachsene werden dabei meist alleingelassen.
Ihr Lippenstift ist leuchtend rot, genau wie ihre Ohrringe. Sie lächelt gewinnend. Als PR-Frau fiel es Susanne Schulz* immer leicht, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. An diesem Abend in einer Kneipe nahe der Kastanienallee zögert sie. Denn es geht um ihre eigene Geschichte.
Als die heute 37-Jährige im Oktober 2007 in die Notaufnahme eines Krankenhauses in Berlin-Mitte kam, ahnte sie, dass sie schwer krank war. Zwei Monate lang war sie immer schwächer geworden. Dazu kamen Nasenbluten und blaue Flecken, die plötzlich auftauchten und verschwanden. Ihre Hausärztin hatte das zunächst nicht ernst genommen. Nun wirkte Schulzes Blut fast durchsichtig. Viel zu wenige rote Blutkörperchen standen einer Übermacht bösartiger weißer Blutkörperchen gegenüber. Akute lymphatische Leukämie, sagten ihr die Ärzte. Ein Blutkrebs. Sie wurde auf die Onkologie der Charité verlegt.
Neun Zyklen Chemotherapie und zwölf Tage Bestrahlung des Kopfes haben die Leukämie besiegt. Susanne Schulz freute sich auf den Alltag: die Arbeit, reisen, Freunde treffen. Nach und nach steigerte sie ihr Arbeitspensum auf 80 und schließlich auf 100 Prozent. Das ging nicht, merkte sie. Im Gegenteil. Ab Herbst 2009 nahm ihre Kraft von Woche zu Woche wieder ab – bis Schulz im Sommer 2010 bereits nach drei bis vier Stunden pro Tag bleiern müde wurde, egal was sie in dieser Zeit machte. Das ist bis heute so. Ihr Körper ist vom Krebs geheilt. Gesund ist sie trotzdem nicht.
"Wir müssen darauf achten, ob es den Überlebenden gut geht"
„Eine Krebsbehandlung macht die Patienten zehn Jahre älter; die Reserven sind aufgebraucht“, sagt Sophie Fossa, die seit 15 Jahren das norwegische Ressourcenzentrum für Langzeitüberlebende nach Krebs in Oslo leitet. „Deshalb dürfen wir nicht nur schauen, ob der Krebs zurückkommt. Wir müssen auch darauf achten, ob es den Überlebenden gut geht.“ Viele Krebspatienten leiden zum Beispiel unter chronischer Erschöpfung. Bei Schulz setzte diese Fatigue anderthalb Jahre nach der Behandlung ein und macht ihr seitdem das Leben schwer.
Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts leben in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen, deren Krebsdiagnose bereits fünf Jahre zurückliegt, bei mehr als zwei Millionen sind es zehn Jahre und länger. Die Therapie hat sich verbessert, so dass zum Beispiel Patienten mit Hodentumoren, Lymphomen und akuten Leukämien geheilt werden können. Andere leben lange mit ihrem Krebs.
Die meisten kehren in den Alltag zurück. „Junge Patienten wollen dann von Krankheit nichts mehr hören“, sagt Peter Borchmann von der Uniklinik Köln und Sekretär der Deutschen Hodgkin-Studiengruppe. Hodgkin-Lymphome sind selten; meist wird der Lymphdrüsenkrebs vor dem 30. Lebensjahr diagnostiziert. 90 Prozent der Patienten gelten zwei Jahre nach der Therapie als geheilt.
Doch auch wenn die Behandlung längst abgeschlossen ist, leidet etwa ein Drittel der Patienten an Spätfolgen von Tumor, Operation, Bestrahlung oder Chemotherapie. Viele irren dann mit diffusen Symptomen von Arzt zu Arzt. Borchmann und seine Kollegen verfolgen das Leben von etwa 15 000 derzeitigen und ehemaligen Patienten. Ihre Ergebnisse sind alarmierend: 15 Prozent leiden nach zehn bis 20 Jahren an einer Herzschwäche, zehn Prozent bekommen einen Herzinfarkt. Bei etwa 20 Prozent der Frauen wird später ein Brustkrebs diagnostiziert, 15 bis 30 Prozent haben eine eingeschränkte Lungenfunktion, mehr als zwei Prozent entwickeln eine akute Leukämie. Die Hälfte der Lymphom-Patienten ist nach der Behandlung unfruchtbar. Viele junge Frauen kommen zu früh in die Menopause – und werden nicht einmal mit Hormonen behandelt. „Den Krebs zu überleben, darf nicht das einzige Erfolgskriterium sein“, sagt Borchmann.
Die Liste der möglichen Spätfolgen ist lang und vielfältig
Die Patientenfragen, die Sophie Fossa hört, scheinen einfach: Kann ich in fünf Jahren wieder ganz normal arbeiten? Was kommt auf mich zu? Eine pauschale Antwort gibt es nicht, die Liste der möglichen Spätfolgen ist lang und genauso vielfältig wie die Krebsarten und ihre Therapien. Sie reicht von chronischer Erschöpfung über Nervenschäden, Lymphödeme, ein geschwächtes Immunsystem, Depressionen und kognitive Störungen bis hin zu einem weiteren Krebs. „Das ist der Preis für das Überleben“, sagt Fossa.
Sie fordert, diese Langzeitfolgen besser zu erforschen. „Heute wissen wir, dass eine Bestrahlung des Brustkorbes nach 20 bis 30 Jahren zu Herzkrankheiten führen kann. Wir müssen also auf das Herz dieser Patienten achten“, erklärt Fossa. „Aber darauf kommt man nur, wenn man Daten sammelt!“ Und das braucht Zeit. Nicht nur die Bestrahlung wird zielgerichteter. Viele Chemotherapeutika sind für bestimmte Patientengruppen maßgeschneidert und versprechen weniger Nebenwirkungen. Trotzdem wisse man noch nicht, was sie langfristig anrichten können, sagt Fossa.
Konkrete Ratschläge? Fehlanzeige.
Bereits 2006 mahnte das amerikanische Institute of Medicine gemeinsam mit den Nationalen Akademien der Wissenschaften in ihrem Bericht „Lost in Transition“, dass Krebsüberlebende nach der akuten Versorgung zu oft mit ihren Problemen alleingelassen würden. Große Krebskliniken in den USA bildeten daraufhin ambulante Anlaufstellen für ehemalige Patienten.
In Deutschland wird das Problem unterschätzt
Auch Fossas norwegisches Ressourcenzentrum erarbeitet lebenslange Nachsorgepläne und macht Onkologen zu Spezialisten für das Langzeitüberleben nach Krebs. Pro Provinz in Norwegen gibt es einen solchen Experten, der wiederum Hausärzte und Schwestern weiterbildet. So kennt der Arzt von nebenan die nötigen Untersuchungen und kann Symptome von ehemaligen Krebspatienten richtig einordnen und behandeln. Zusätzlich bekommt jeder Krebspatient eine Zusammenfassung seiner Therapie und möglicher Spätfolgen in die Hand – eine Kopie für ihn selbst und eine für den Hausarzt. Darin ist kurz aufgelistet, worauf Arzt und Patient achten müssen: Sollten zum Beispiel Herz, Lunge, Niere, Leber und Hormonstatus regelmäßig geprüft werden? Von wem und wie oft?
Solch eine systematische Aufklärung fehlt in Deutschland, sagt Peter Albers, Direktor der Urologischen Klinik am Universitätsklinikum Düsseldorf: „Das Thema Spätfolgen ist bei uns noch nicht angekommen. Nicht einmal allen Onkologen ist das in seiner Schwere bewusst.“ Patienten wie Susanne Schulz bestätigen das. Natürlich habe man sie vor der Behandlung auf Risiken hingewiesen, erinnert sie sich: „Doch damals ging es mir so schlecht, da war meine Aufnahmefähigkeit begrenzt.“ Sie dachte nur: Augen zu und durch! Im Abschlussgespräch erwähnte der Arzt mögliche Spätfolgen nur. Konkrete Ratschläge? Fehlanzeige.
Bei Kindern, die einen Krebs überleben, ist das anders. Für sie gibt es in Deutschland zwei Netzwerke, die Spätfolgen der Strahlen- und der Chemotherapie erforschen. Für jede Krebsart gibt es detaillierte Nachsorgepläne. Sie konzentrieren sich nicht ausschließlich darauf, ob der Krebs zurückkommt oder nicht, sondern haben das gesamte Wohlergehen des Kindes im Blick. „Wir heilen 80 Prozent der krebskranken Kinder“, sagt Thorsten Langer, der das Late Effects Surveillance System (LESS) an der Uniklinik Erlangen leitet. „Sie haben ihr ganzes Leben vor sich. Wir sind in der Pflicht, dass es ihnen dabei möglichst gut geht.“
"Wir hatten Glück, dass Michael laufen, essen und sprechen kann"
Etwa 20 Prozent der Kinder mit Krebs leiden an einem Hirntumor wie dem Medulloblastom, das lange unbemerkt im Kleinhirn wächst – bis erste Symptome auftauchen. Michael sah kurz nach seinem 5. Geburtstag doppelt. „Er schielt ein bisschen“, dachte die Mutter und ging mit ihm zur Augenärztin. Die war sofort alarmiert. Eine MRT-Aufnahme bestätigte den Verdacht: ein Tumor. Michael wurde noch am selben Tag an der Uniklinik Erlangen operiert. Zwei weitere OPs, eine Bestrahlung des Kleinhirns, des gesamten Gehirns und der Wirbelsäule sowie acht Blöcke Chemotherapie folgten innerhalb von anderthalb Jahren. „Da kommt fast keiner ohne bleibende Schäden raus“, sagt Langer. Bis zu 90 Prozent der kleinen Patienten mit einem Hirntumor kämpfen mit Spätfolgen, bei Kindern mit Leukämien dagegen sind sie selten.
Michael ist heute 20 Jahre alt und würde gern ein Handwerk lernen. Doch er darf nicht schwer heben, wird schnell müde und kann sich schlecht konzentrieren. „Wenn er sich etwas merken soll, dann geht das nur mit anschaulichen Erzählungen. Oder wenn er selbst etwas sehen und ausprobieren kann“, erzählt seine Mutter. Vielen Firmen fehlt dazu die Geduld.
Sie fördert und unterstützt ihren Sohn, wo sie kann. „Man lernt, mit jeder Behinderung umzugehen. Für ihn ist das ohnehin normal“, sagt sie. Auch die körperlichen Einschränkungen. Michael ist nur 1,63 Meter groß, sein Rumpf ist der eines Fünfjährigen. Die Wachstumshormone spielten verrückt, weil seine Hypophyse mitten im Bestrahlungsfeld lag. Außerdem ist sein Herz aus dem Takt geraten. Sein Rücken schmerzt, er kämpft mit Osteoporose, immer wieder zittert seine rechte Körperhälfte. Und sein Gehirn merkt nicht, wenn er schief steht. Das Körpergefühl muss in der Physiotherapie immer wieder trainiert werden. Ab und an sieht er doppelt. „Wir hatten Glück, dass Michael laufen, essen und sprechen kann“, sagt seine Mutter. Bei vielen anderen Kindern blieben Lähmungen zurück.
"Viele können sich nicht vorstellen, wie klein meine Welt geworden ist"
Das komplexe Problembündel solcher Patienten überfordert nicht nur das Wissen vieler niedergelassener Ärzte, sondern auch ihr Budget. Die meisten Kliniken bieten deshalb Krebsnachsorge-Sprechstunden für Kinder und ihre Eltern an. Dort gibt es einen Ansprechpartner, der das Kind kennt und weiß, was es braucht. „Schwierig wird es, wenn das Kind volljährig wird“, sagt Langer. Die Uniklinik Erlangen bleibt für Patienten wie Michael eine Anlaufstelle. Viele andere Kliniken überweisen ihre Patienten in die Erwachsenenmedizin – wo vergleichbare Angebote fehlen. „Dabei brauchen junge Erwachsene dringend Nachsorgespezialisten, zu denen sie lebenslang gehen können“, sagt Langer.
Susanne Schulz absolvierte die normale Krebsnachsorge. Die Leukämie sei nicht zurück, versicherte man ihr. Alles andere schien nicht wichtig. Erst nach und nach stellten ihre Ärzte fest, dass sie weder genug Östrogen noch Wachstumshormone bildet und ihr Immunsystem gegen einige Erreger keine Antikörper produzieren kann. Die Probleme schaukelten sich gegenseitig hoch und raubten der jungen Frau jede Energie. Und auch wenn die Hormone mittlerweile substituiert werden, die Fatigue blieb.
Sie kann nicht mehr arbeiten. „Vorübergehend berufsunfähig“ heißt das im Amtsdeutsch. Statt für die EU wirbt sie nun für ihre Berliner Selbsthilfegruppe für junge Krebsüberlebende. Bereits nach ein bis zwei Stunden am Schreibtisch muss sie sich hinlegen. „Viele können sich nicht vorstellen, wie klein meine Welt geworden ist“, erzählt Susanne Schulz. „Die denken nur: Sie sieht doch aus wie das blühende Leben!“
*Der Name wurde auf Wunsch der Betroffenen geändert.
Jana Schlütter