Neuer Chef des Bibliotheksverbands: "Die Bibliothek als Sofa der Stadt"
Der neue Vorsitzende des Bibliotheksverbandes Andreas Degwitz über die Tücken der Digitalisierung – und die über die umstrittene Frage der Sonntagsöffnung.
Herr Degkwitz, wenn Sie in eine Bücherei gehen – was ist Ihnen besonders wichtig?
Ruhe und Zugänglichkeit zu allem, was die Bücherei bietet. Ich arbeite gern in Bibliotheken: Ich mag große Räume, in denen ich einer von vielen bin. Was ich auch schätze, sind Fenster. Ich schaue gern nach draußen. Sehr schön ist das für mich in der Bayerischen Staatsbibliothek – da blickt man vom Lesesaal aus in einen Park.
Sie haben gerade den Vorsitz des Deutschen Bibliotheksverbandes angetreten. Der Verband repräsentiert die kleine Dorf-Bücherei genauso wie große wissenschaftliche Bibliotheken. Lassen sich so unterschiedliche Einrichtungen überhaupt unter einen Hut bringen?
Ja, mit folgendem Punkt haben alle Bibliotheken dasselbe Problem: Alle sehen im digitalen Wandel große Herausforderungen und fürchten, dass sie sich in diesem Kontext erübrigen. Aber das stimmt gar nicht, weil alle Bibliotheken in irgendeiner Form die Digitalisierung aufgreifen. Bibliotheken haben verstanden, dass sie genau das als Einrichtungen für Literatur, Informationen und Medien machen müssen. Doch oft fehlen Kraft, Geld und Personal, um das zügig umzusetzen.
Sie sprechen es an: Angesichts des rasanten medialen Wandels reicht es für Bibliotheken längst nicht mehr aus, einfach nur gedruckte Bücher zu verleihen. Vielmehr sollen sie neben den Wohn- und Arbeitsstätten der „dritte Ort der Stadtgesellschaft“ werden. Wie lässt sich so ein Anspruch einlösen?
Die Hamburger Bücherhallen sind dafür ein gutes Beispiel. Man gewinnt fast den Eindruck: Das ist das Sofa der Stadt. Dort kann, wer möchte, Austausch, Konzentration und Ruhe finden: Arbeiten, diskutieren, kommunizieren, lesen, lernen, oder andere treffen. Bibliotheken sind frei zugängliche Orte – weder eventbezogen noch kommerziell. Solche Orte brauchen wir, aber haben wir gar nicht so zahlreich. Orte wie Bibliotheken, die wir jederzeit aufsuchen können, um an Bildung, Informationen, Kultur und Wissen teilzuhaben, sind uns willkommen und fördern den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Wie schafft man es, nicht nur die Bildungsbürger zu erreichen, die ohnehin wissen, wo eine Bibliothek steht?
Das ist genau der Punkt, den alle Bibliotheken als Chance der Digitalisierung aufgreifen und anpacken müssen. Für die Zielgruppen der jungen Leute, aber auch der nicht mehr so jungen Leute, die ständig im Internet oder in sozialen Netzwerken unterwegs sind, müssen die Kanäle digitaler Kommunikation und Vermittlung bedient und genutzt werden. Das fördern der Deutsche Bibliotheksverband und seine Partner – vor allem das Bundesbildungsministerium, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Kultusministerkonferenz – mit zahlreichen Projekten. Wenn auf diesen Wegen gute Angebote zugänglich sind und Interesse wecken, kommen die Leute in die Bibliotheken. Die sind ja oft voll besetzt, wie das Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität zeigt. Ungebrochen ist das Bedürfnis nach Austausch, Gemeinschaft, und Zusammenarbeit. Dies alles ist auch digital möglich, aber offensichtlich sind die technischen Möglichkeiten allein nicht genug.
Normale, nicht-wissenschaftliche Bibliotheken dürfen nicht einmal sonntags öffnen. Ist das überholt, wenn man die Alternative zu Wohn- und Arbeitsstätten sein will?
Ja, das ist überholt. Der Deutsche Bibliotheksverband setzt sich dafür ein, dass die Sonntagsöffnung für alle Bibliotheken gesetzlich ermöglicht wird. Gerade an den Wochenenden besteht das ausgeprägte Bedürfnis, Bibliotheken besuchen zu können.
Wie können Sie die Gewerkschaften davon überzeugen?
Das ist zugegebenermaßen kein einfacher Prozess, der aber mit vereinten Kräften zum Erfolg geführt werden kann.
Tatsächlich sind Büchereien ja erfinderisch, was zusätzliche Angebote angeht. Um einige Beispiele aus Berlin zu nennen: Manche Stadtbibliotheken bieten Hausaufgabenhilfe an, die Amerika-Gedenkbibliothek eine „Bibliothek der Dinge“ mit Bohrmaschine und Diskokugel. Die Stadtbücherei Mitte lädt zu Escape-Room-Spielen. Was davon ist wirklich zwingend?
Das mag an manchen Stellen so wirken, als gehe es dabei vor allem darum, Aufmerksamkeit zu wecken – nach dem Motto: Wir bieten etwas Schrilles, dann werden die Leute schon kommen und weitere Bibliotheksangebote nutzen. Dahinter steht aber die tolle Idee der „Maker-Spaces“, die öffentliche Bibliotheken aufgegriffen und eingeführt haben.
Was ist das?
Das sind Räume, in denen beispielsweise 3-D-Drucker zur Verfügung stehen. So kann Bibliotheknutzerinnen und -nutzern vermittelt werden, wie sie 3-D-Drucke herstellen und kreativ damit umgehen können. Solche Angebote halte ich für sehr sinnvoll. Sie machen klar, was man mit digitalen Werkzeugen anfangen kann: Nicht nur surfen, daddeln, twittern, facebooken. Nein, ich kann kreativ sein und etwas herstellen. Wissenschaftliche Bibliotheken gehen ebenfalls dazu über, Aktivitäten wie digitales Produzieren und Verarbeiten von Forschungsergebnissen zu unterstützen und zu fördern. Das führt die traditionellen Sammlungsaufgaben einer Bibliothek mit den neuen Herausforderungen und Möglichkeiten der Digitalisierung zusammen.
Nun hapert es an vielen Stellen noch bei der Digitalisierung. So ist noch immer unklar, wie Bibliotheken rechtssicher E-Books Lesern zur Verfügung stellen können. Was muss da geschehen?
Es ist gut nachvollziehbar, dass Verlage sich sorgen, Verwertungsmöglichkeiten zu verlieren und Verluste zu machen, wenn ihre Lizenzen zu freizügig verfügbar sind. Sie fürchten, dass die ohnehin schon schwierige Lage auf dem E-Book-Markt durch die Ausleihe von E-Books noch stärker gefährdet wird. Es wird etwas Zeit brauchen, bis die Ausleihe so gestaltet ist, das sie von allen daran beteiligten Partnern akzeptiert wird.
Für wissenschaftliche Bibliotheken ist aktuell die drängendste Frage, wie sie mit teuren Abos für wissenschaftliche Zeitschriften umgehen. Die Verhandlungen der deutschen Wissenschaftseinrichtungen mit dem Konzern Elsevier sind seit langem festgefahren. Es ist keine Einigung in Sicht, wie die Preise gesenkt und gleichzeitig mehr Journale im Open Access frei im Internet angeboten werden können. Wie könnte eine Lösung aussehen?
Die Herausforderungen stellen sich – etwas vereinfacht – folgendermaßen dar: Beim Abonnement- oder Subskriptionsmodell bezahlen die Hochschulen den Lesezugang zu den lizensierten (elektronischen) Zeitschriften. Das Publizieren von Artikeln kostet die Hochschulen nichts. Beim Open-Access-Modell bezahlen die Hochschulen das Publizieren von Artikeln ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, der Zugang für die Leserinnen und Leser der Zeitschriften ist kostenfrei. Die Verträge, die im Rahmen des „DEAL-Projekts“ mit den Verlagen Elsevier, Springer und Wiley abgeschlossen werden sollen, umfassen beide Komponenten: Open-Access-Modell für Artikel deutscher Autor*innen – Subskriptions-Modell für Artikel von Autor*innen außerhalb Deutschlands: Beides muss von den Hochschulen mit einer „Publish-and-Read-Fee“ bezahlt werden.
Wo hakt es dabei noch?
Hochschulen und Verlage müssen sich als Vertragspartner über dieses Bezahlmodell zu Bedingungen einigen, die für beide Seiten tragfähig sind. Erforderlich ist zudem ein Kostenausgleich zwischen den Hochschulen, die viel publizieren und deshalb mehr bezahlen müssen, und denjenigen Hochschulen, die wenig publizieren und deshalb weniger zu bezahlen haben. Diese Herausforderungen lassen sich nur mit Kompromissen lösen – und Kompromisse sollten in diesem Kontext möglich sein.
Ein ganz anderes Problem ist Rückgabe von NS-Raubgut. Die Bibliotheken haben sich zum Ziel gesetzt, sämtliche Bücher in ihren Regalen dahingehend zu untersuchen. Geschehen ist bislang aber wenig. Wie kann das beschleunigt werden?
Oft hängt dies damit zusammen, dass entsprechende Projekte eine Mitfinanzierung der Einrichtung erfordern, um gefördert werden zu können. Kann die Mitfinanzierung nicht geleistet werden, entfällt die Förderung und die Vorhaben kommen nicht zur Durchführung. Insofern ist der Erfolg der Bemühungen auf diesem wichtigen Feld wesentlich von der finanziellen Ausstattung entsprechender Einrichtungen abhängig. Auch müssen die Infrastrukturen für die Provenienzforschung weiter ausgebaut und verbessert werden. Solche Maßnahmen erfordern eine stärkere Unterstützung der Träger der Bibliotheken. Der Deutsche Bibliotheksverband setzt sich mit großem Nachdruck dafür ein.
Die Fragen stellte Tilmann Warnecke.
Tilmann Warnecke