Berlins Bibliotheken: Die geliehene Welt
Das Buch ist längst nicht mehr der Wesenskern der Bibliotheken. Was sie anbieten, erzählt auch etwas über die Kieze Berlins – und den Wert des Teilens.
Ist Patrizia Engelskirchen der Berg, der zum Propheten kommt? 50 Liter Diesel auf 100 Kilometer, drei Tonnen Papier im Nacken. Ein Papierberg mit Seele, der nun in der Tempelhofer Kaiser-, Ecke Rathausstraße zum Stehen kommt. Seit 20 Jahren lenkt Patrizia Engelskirchen als erste Frau an dieser Stelle einen Bücherbus durch Berlin. Für die Bibliothek Tempelhof-Schöneberg, ohne Unfall, immer knapp unter der erlaubten Höchstlast. Doch noch immer kommen, wenn sie die auszuleihenden Medien über ihren piepsenden Scanner zieht, manchmal Leute und fragen entgeistert: Und wer kommt jetzt und fährt den Bus?
Keiner kommt. Sie wechselt einfach von dem Drehstuhl rechts einen Meter auf den Fahrersessel nach links. In den Kurven hält die Schwerkraft die Bücher in den nach hinten abgeschrägten Regalen.
Während Berlins wissenschaftliche Bibliotheken mit ihren spektakulären Bauten und ihrer Anziehungskraft alle Aufmerksamkeit absorbieren, kann man völlig übersehen, auf welche, nun ja, abgefahrene Weise die Stadtbibliotheken ihren Nutzern in den vergangenen Jahren entgegengekommen sind. Im Windschatten der Grimm-Bibliothek, der Stabi, von Fosters Bibliothek an der FU, haben sie sich mit ihren 81 Standorten mehrmals verwandelt. Nahezu unbemerkt.
24 387 559 Mal (über 24 Millionen mal!) wurden im Jahr 2017 „Medien“ in den Bezirksbibliotheken und der Zentral- und Landesbibliothek entliehen. Es sind längst nicht mehr nur Bücher. Wer das Land des Lesens vermessen will in Berlin, kann die Flächen zusammenzählen und kommt auf 64 751 Quadratmeter, fast 6,5 Hektar allein an Gebäudeflächen. Aber in Wahrheit setzt es sich in den Köpfen der Berliner fort, bis in die Verästelungen ihrer Gehirne. Mit den entliehenen Büchern auf dem Nachttisch kann man nicht sicher sein, ob die Szenen, die vor dem Einschlafen gelesen wurden, nicht auch ihre Träume bevölkern. Täglich wird das, was in den Bibliotheken vorhanden ist, von den Berlinern verdaut. Das Land des Lesens ist ein riesiges Netz aus Bücherbussen, „Maker-Spaces“ mit 3-D-Druckern und dem preisgekrönten Streamingportal „filmfriend.de", für dessen Nutzung die Couchpotatoes nicht einmal mehr eine Bibliothek betreten müssen.
Längst nicht mehr Bring- und Abholstationen
Aus dem Katalog der öffentlichen Bibliotheken:
Singer Freiarm-Nutzstich-Nähmaschine „Tradition TM 2259“: 19 Nähprogramme mit Zubehör/Otto (GmbH & Co. KG), 4 Teile: 1 Nähfuss + 1 Nadelset + 1 Nähmaschine + 1 Engl. Anleitung, 19 Nähprogramme, Nähfußwechsel in Sekunden durch Schnappautomatik, Anschiebetisch mit Zubehörbox, 85 W (Motor 70 W/Lampe 15 W). – Ausgeliehen - Fällig M: 02.01.2019. Karton beschädigt, nur eine Nähnadel.
Die Amerika-Gedenkbibliothek hat nachfragehalber auch am Sonntag geöffnet und eine „Bibliothek der Dinge“ im Angebot mit Aktenvernichter, Jonglierkeulen, Bohrmaschine, Kamera, Nähmaschine, Diskokugel, und einem Badminton-Set. Die Mark-Twain-Bibliothek in Marzahn bietet einen Musikübungsraum mit Instrumenten, Lichtenberg verleiht vier Lastenfahrräder. Viele Häuser verleihen originale Kunstwerke. Mit Bibliotheken, die längst nicht mehr Bring- und Abholstationen für Bücher sind, hat die älteste Sharing Economy der Welt längst unverwechselbare Orte in der Stadt geschaffen. Pankow allein fällt mit seinen mehr als 400 000 Einwohnern schon unter den Begriff „Großstadtbibliothek“. Und während immer wieder der Tod des Buches erklärt wird, die Leihzahlen der analogen Bücher sinken, steigen die digitalen Ausleihen rasant. Auch die Besucherzahlen steigen, die W-Lan-Arbeitsplätze sind oft alle belegt, die Häuser an ihrer Kapazitätsgrenze. Weil Bibliotheken Eigenschaften haben, die man nicht downloaden kann.
Mehr als Bücher
Draußen: Berlin, Kottbusser Tor, mit all seinen Zumutungen, Anwürfen und Auswürfen. Niedlich ist hier nichts, auch wenn man noch so lieb „Kotti“ dazu sagt. Die Großstadt rauscht mit den Kaffee-, Obst- und Drogendealern. Taschendiebe, Sozialarbeiter, Touristen und Alkoholiker. Doch hier drinnen: alles sehr nüchtern. Der Lärm gedämpft. Die Bibliothek ist etwas weniger schick als sie sein könnte. „Das ist Strategie, um keine Schwellen entstehen zu lassen“, sagt Ranija Hemieda.
Und doch durchläuft jeder, der von draußen kommt, an dieser fast unsichtbaren Schwelle eine Verwandlung. Egal, wer die Person da draußen war, hier wird sie zum Bibliotheksnutzer. Zur Nutzerin. Eine respektable, staatlich vorgesehene Rolle. Als solche vorbei am Ausleihtresen, rechts um die Ecke an den Ständern mit der Musik, wo, denn dies ist Kreuzberg, dreimal so viel Weltmusik wie Jazz zur Auswahl steht, bis vor die Glasscheibe zur Straße, wo die Zeitschriften auf einem knallgrünen Tresen ausliegen. Das grüne Band der Sympathie. Teebeutel zur Auswahl und Kaffee aus der Pumpkanne 50 Cent.
Die Bibliothek möchte Teil ihrer Umgebung sein, nutzbar für alle, die hier wohnen. Wer kommt, ist Benutzer. Wird gezählt. Zählt. Um die Zeitschriften zu lesen und sich einen Kaffee zu pumpen, braucht man nicht einmal einen Bibliotheksausweis, der auch nur zehn Euro im Jahr kostet. Im ersten Stock nutzen die Erwachsenen Internetzugang und Drucker und Schüler die Hausaufgabenhilfe. Manche Mutter mit Kind kommt jeden Tag. Hier werden die feinen Fäden der Gewohnheiten gesponnen, die man im Nachhinein eine Kindheit nennt.
Hinter dem Tresen stehen die Fantasy-Expertin mit dem Undercut und der Krimi-Experte im Existenzialistenschwarz, der dem „Kriminalitätsschwerpunkt“ Kottbusser Tor eine literarische Dimension verleiht. Und die leuchtende Ranija Hemieda, die sich um die so genannten non-books im Erdgeschoss kümmert. Sie liebt es, dass hierher Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen. Wo gibt es das schließlich sonst? Und wo kann man in Berlin mehrere Stunden bleiben, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen? Man kann lange überlegen, um dann nicht drauf zu kommen. Bibliotheken sind ein öffentlicher Ort für Innerlichkeit. Konzentration statt Zerstreuung. Keine Beschallung. Die Öffnungszeiten strecken sich den Bedürfnissen ihrer Nutzer in den Abend entgegen, bei der Amerika-Gedenkbibliothek auch am Sonntag. Morgens warten die Menschen schon vor der Tür. Drinnen eine Welt nach Alphabet sortiert.
Die Ermöglichung von Teilhabe
Was ist der Wesenskern der Stadtbibliothek? Nicht das Buch, nicht einmal nur die Wissensvermittlung, ganz sicher aber die Ermöglichung von Teilhabe. Jeder soll Zugang haben. Wenn Teilhabe der Kern der Bibliothek ist, dann wird sie nicht überflüssig, nur weil die Leute weniger gedruckte Bücher lesen. Die „Riverside“-Außenstelle der New York Public Library verleiht in diesem Geiste seit August Anzüge, Kostüme, Aktentaschen und Krawatten für Bewerbungsgespräche. Am Kotti kann man Spiele ausleihen, „auch Gaming ist Teilhabe“, sagt Ranija Hemieda.
Seit im dänischen Aarhus die große städtische Bibliothek „Dokk1“ eröffnet hat, unternehmen Bibliothekare des ganzen Landes als Dienstreisen getarnte Pilgerfahrten zu diesem Wallfahrtsort der idealen Bibliothek: Ein lichtes, großzügiges Gebäude, an dem die Medien selbst in den Hintergrund rücken. Im Vordergrund steht der Ort der Begegnung, an dem man sich gerne länger aufhält. Die Bibliothek ist ein Veranstaltungs- und Kulturort, an dem der Däne auch seinen Pass verlängern kann. Ist das die Zukunft?
Seit der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg 1989 das Konzept des „Dritten Orts“ eingeführt hat, nämlich dass der Mensch einen Ort jenseits des Zuhauses und der Arbeitsstätte braucht, einen Ort, an dem sich die Menschen frei begegnen und deshalb Gesellschaft bilden, fragen sich die Bibliotheken, ob sie damit gemeint sein könnten. Was in der Antike die Marktplätze waren, die Agora, in den 20er Jahren Berlins die Kaffeehäuser, könnten heute vielleicht die Bibliotheken sein. Dafür spricht viel.
Die Ausleihzahlen sinken, aber die Besuche steigen. Die Arbeitsplätze mit W-Lan sind immer alle belegt. Und es ist ja auch großartig: Jemand anders hat die Fensterbank vom Staub befreit. Der Schreibtisch ist aufgeräumt. Man kann sofort losarbeiten. All das gehört einem nicht. Nicht die Bücher, nicht der Tisch, nicht die Lampe, noch der Stuhl. Aber man kann es trotzdem in Beschlag nehmen. Tastenklackern. Wasserflaschen. Knister, knuspel. Aus der Tasche Nüsschen. Sogar die Aussicht kann einem ans Herz wachsen, während man auf Einsichten hofft.
Eine der Einsichten der Bibliothekare ist, dass sie dort sein müssen, wo die Leute ohnehin sind. Das leuchtendste Beispiel ist die Ingeborg-Drewitz-Bibliothek im Steglitzer „Schloss“. Im Kontrast zum infernalischen Shopping in der Mall kommt die Bibliothek im dritten Stock in ihrer ganzen Oasenhaftigkeit zur Geltung: erst einmal ein Café, guter Kaffee, keine Beschallung. Konzentration. Neun Entleihungen pro Einwohner 2017. Rekord in Berlin.
Vom Lesevirus befallen
Häufig beginnt das Lesefieber in den Kinderzimmern dieser Stadt. Sophie Ozimeks Eltern haben ihr in der vierten Klasse zum Zeugnis ein Pferdebuch geschenkt. Und zack. Da war es passiert. Sophie ließ sich nach einer Bibliotheksbesichtigung der Mark-Twain-Bibliothek in Marzahn mit ihrer Klasse einen Ausweis ausstellen, da gab es noch Kassetten. Hier hat sich ihre Beziehung zu Büchern entwickelt. Ein Buch kauft sie erst, wenn sie es nach drei Mal Ausleihen immer noch gut findet. Ihre Bücher zuhause liest sie jedes Jahr einmal wieder. 30 Stück sind das etwa. „Romantasy – Thriller, Roman und Fantasy, alles in einem Buch“. Heute, da ist sie zwanzig, folgt sie Empfehlungen auf lovelybooks.de und bookstagram. Sie hat eine Ausbildung zur biologisch-technischen Assistentin gemacht und vereinzelt steril in einem Labor in Treptow Orchideensetzlinge. Ihre Firma bekommt 500 verschiedene Samenkapseln geliefert. Wenn die Pflanzen eine bestimmte Höhe erreichen, werden sie an eine Gärtnerei ausgeliefert. Wenn alles klappt, will sie selbst in diesem Jahr beginnen, Biologie zu studieren. Aber noch immer besucht sie die Mark-Twain-Bibliothek in Marzahn.
Was die Bibliothekarinnen sich hier schon haben anhören müssen! „Haben Sie den Duden? Nein? – Macht nichts, dann warte ich, bis er verfilmt ist.“ So etwas sagen Nutzer. Und: „Ich hätte gern die Faust von Goethe.“ Einmal wird Anne Frank für Hitlers Ehefrau gehalten. Aber die Marzahner lachen nicht etwa nur darüber. Sie begegneten dem Phänomen mit ihrer wertvollsten Fähigkeit: Sie legten eine Sammlung an. Dann taten sie das Naheliegende und ließen ein kleines Büchlein drucken, das man paradoxerweise in ihrer Bibliothek nicht leihen, sondern nur kaufen kann.
Maike Niederhausen, Bibliothekarin mit einer Abneigung gegen Zahlen und einer Vorliebe für Rot, liebt die Geräusche ihrer Leser, die sich zwischen den Regalen bewegen. Sie ist überzeugt, in einer der schönsten Bibliotheken der Stadt zu arbeiten. Sie liebt den zentralen Treppenaufgang, auf dessen erstem Absatz ein Flügel steht, die Stockwerke falten sich darum wie Ränge nach oben. Sie liebt das helle Tageslicht, das über ein großes Oberlicht ihren Arbeitsplatz flutet.
Hätte ihr Vater nicht Rassekaninchen gezüchtet, wäre sie vielleicht nicht Bibliothekarin geworden. Die Preisgewinne der Zuchtwettbewerbe: Bücher. Bücher, die er selbst nicht las und an seine Tochter weitergab. Es waren die 70er Jahre, und in einem kleinen Dorf im Erzgebirge wurde ein kleines Mädchen völlig unvorbereitet an einem dünnen Faden aneinandergereihter Buchstaben hinausgezogen in die Welt, per Buch mit einem Reisebericht bis in den Kaukasus.
Viele Bücher, aber wenig Geld
Zack. Da war es passiert. Leseleidenschaft. Niederhausen zeigt das silbern glänzende Monstrum der neuen Bücher-Rücksortieranlage, in einem Glaskasten wie ein seltenes Tier. Über die Anlage hinweg blickt man in das Foyer und in die Musikabteilung. „Am wichtigsten sind dem Professor die Sichtachsen.“ – „Der Professor“ ist Wolf-Rüdiger Eisentraut, der Architekt dieser 70er-Jahre-Utopie, des Marzahner Freizeitzentrums, in dem neben einem Schwimmbad, einer Kegelbahn und einer Bühne auch die Bibliothek liegt. „Der Professor“ hatte auch das Kaufhaus geplant, wo heute das „Eastgate“ steht, auch ein Postgebäude in Marzahn, Beispiele der DDR-Architektur, die längst abgerissen sind. Aber die Bibliothek steht noch, an den Umbauten hin zu mehr Aufenthaltsqualität wird der Architekt beteiligt. Noch haben sie nur zwei zeitgenössische Sitzsäcke und noch einige der stilvoll abgewetzten, grünledernen Sessel der Originalbestuhlung. „Der Professor sagt immer: Wenn ich lese, muss ich meine Füße hochlegen können.“ Der Ausbau der bisher ungenutzten Dachterrassen hat schon begonnen, dort soll es bald Sonnenschutz zum sagenhaften Ausblick geben. Wenn es heute theoretisch möglich ist, ein Leben zu führen, ohne das Haus zu verlassen, dann braucht es einen praktischen Grund, um das zu tun. Sie wollen dieser Grund sein.
Als Niederhausen 1980 begann, da war die Bibliothek gerade frisch gegründet, hatten die Angestellten anderthalb Lesetage im Monat, damit sie sich auch inhaltlich auskannten. Jetzt sind sie immer vor Ort. „Wir sehen die Bücher. Das ist schon einmal was.“ In der DDR hatten die Bibliotheken viel Geld, aber keine Bücher. Nun haben sie viele Bücher, aber wenig Geld. „Früher war das ein Hungerleiderjob, aber die Wende hat uns entschädigt.“ Sicherer Arbeitsplatz, öffentlicher Dienst. Und sie selbst müssen vielseitiger sein. Sie brauchen so eine Art Streetworker für die Bibliothek, für die Hausaufgabenbetreuung der Schüler. Und wenn die Pflanzen Läuse haben, ziehen sie mit ihren Blattduschen los. „Wir jagen auch Diebe“, sagt Niederhausen. Eines Tages bemerkte ein Junge ein loses Deckenpaneel im Herrenklo. Dahinter lauter leere DVD-Hüllen. Geklaut, sagt sie, würde immer nur FSK 18, blutrünstige Filme wie „Walking Dead“. Das macht es nicht grundsätzlich besser, „aber die guten Filme bleiben alle da“.
Es gebe ja den Glauben, „wir retten das Gute“. Bibliotheken bewahrten alte Ausgaben und Literatur, die keiner mehr liest. „Aber wir sind nichts von alledem.“ Denn wenn der Umsatz schlecht ist, müssen Stadtbibliotheken unliebsame Entscheidungen treffen, Medien rauswerfen, der Platz ist begrenzt. „Wir sind eine reine Verbrauchsbibliothek“, sagt sie. „Ein Wirtschaftsunternehmen, das per Kosten-Leistungsrechnung mit allen anderen Bibliotheken im Wettbewerb steht. Gezählt werden die Besuche und die Zahl der Ausleihen, also die Rotationsgeschwindigkeit des Materials. Und: „Der Goethe ist nicht derjenige, der’s rausreißt.“ – Wer also reißt es raus?
Kartografie der Interessen
Das weiß Britta Wildemann, mit ihren 29 Jahren zuständig für den Bestand in Tempelhof-Schöneberg. Bibliothekare können per Ausleihlisten den Berlinern quasi in den Kopf schauen. Also am Tempelhofer Damm, beim „City Chicken“ abbiegen in die Götzstraße, wo der geschachtelte Bau eines Scharoun-Schülers die auf mehreren Ebenen verteilte Einraum-Bezirksbibliothek beherbergt. Morgens, kurz nach der Eröffnung noch in kinderloser Stille, viele Besucher automatisch flüsternd. Erst am Nachmittag kommt alles in Schwung, kommen die Kinder mit ihren Eltern, die Schüler mit ihren Hausaufgaben.
Im Büro von Britta Wildemann fallen alle denkbaren Bücher in 31 Sachgruppen. Sie selbst betreut „EDV“ und „Philosophie“. Bibliotheken sind die ganzjährig wohltemperierten Resonanzräume der Interessen ihrer Nutzer. Jeder Bezirk zeichnet anhand der Ausleihen eine Karte der geistigen Interessen seiner Bewohner. Auch Wildmann ist manchmal überrascht. Alles, was mit Achtsamkeit zusammenhängt, läuft gut in Tempelhof-Schöneberg, Hygge und Co, Einrichtungszeitschriften. Erstaunlich viel spanische Originalliteratur, ganz im Gegensatz zu Französisch. Wer ahnt schon, dass Burda-Hefte mit ihren Schnittmustern ein Ausleihrenner sind, mehr noch als die Nähbücher. Der Do-it-yourself-Trend hat den vermeintlich altbackenen Zeitschriften ein überraschendes, zeitgenössisches Leben beschert. Im Sommer, wenn sie hier in Tempelhof die Leseterrassen öffnen, sind ausnahmslos alle ausleihbaren E-books mit den Berlinern im Urlaub.
Dieser Bereich der Kultur kennt keine Standing Ovations, nur den Begriff der „Standing Order“. Bei einer Einkaufszentrale für Bibliotheken hinterlegt jedes Haus ein Profil. In einer Art Abosystem werden sie von da an automatisch nach den Schwerpunkten dieses Profils beliefert: Die Bestseller mit ihren Mehrfachexemplaren, die Schullektüre in Klassensätzen.
Das Bibliotheksjahr pulst im Rhythmus der Frühjahrs- und Herbstmesse in Leipzig und Frankfurt. Preisverleihungen „generieren Nachfrage“. Es spiegeln sich die Bestseller-Listen, Preisträger sind plötzlich überall ausgeliehen. Und ein Einzelphänomen wie der Multifunktions-Philosoph Richard David Precht „hält den Bestand der ganzen Sachgruppe Philosophie hoch“. Weil die Leute, wenn sie schon einmal da sind, auch mal rechts und links von Prechts Mehrfachexemplaren schauen. Früher, sagt Wildemann, habe man die Regale bis zum letzten Buch dicht gedrängt mit Büchern bestückt, die alle den Lesern den Rücken zukehrten. Aber Verführung gehe vom Cover aus. Ein Buch können sie so wörtlich ins Bewusstsein „rücken“. Bücher, die mit dem Cover nach vorne gedreht sind, werden viel schneller ausgeliehen. Nur noch zwei Drittel eines Regals sollen deshalb dicht an dicht bestückt werden.
Die große Chance
Immer, wenn wieder eine dieser Bildungskrisen das Land erfasste, die ersten Ergebnisse der Pisa-Tests, die Verbreitung von Leseschwächen, wenn wieder einmal aufs Neue herauskommt, dass Bildung noch immer vom Elternhaus abhängt, haben sie immer gedacht, der Scheinwerfer würde jetzt einmal sie, die Bibliotheken als Institution erfassen, sagt Maike Niederhausen in Marzahn. „Wir könnten es krachen lassen.“ Schon mit relativ wenig Geld. Wenn man ihnen erlauben würde, in der Bildung eine größere Rolle zu spielen. 1,21 Euro gab Berlin 2017 pro Einwohner für Medienerwerb aus.
Leseschwäche, na klar, da fördern wir mal die Bibliotheken! Sie hörten förmlich, wie sich die Politiker ob dieser Erkenntnis an die Stirn klatschten. Aber die Investitionen kamen nie. Und Niederhausen weiß auch, warum: weil es kein Bibliotheksgesetz gibt, so wie es ein Schulgesetz gibt. Das Angebot ist freiwillig. Der Bibliotheksverband kämpft deshalb seit Jahren für ein solches Gesetz.
Nach zwei Stunden mit Maike Niederhausen dämmert einem: Die Krise des Buches, des Handels und der Verlage muss nicht die Krise der Bibliotheken sein. Denn die ist ein eigener Ort. Ein Ort, an dem die Leute miteinander reden, statt einander zu konfrontieren. Ein Ort verschiedener Ideen und Interessen, die nebeneinander ihre Berechtigung haben. Alle Schichten treffen sich. Man nimmt Rücksicht, die Stimmen werden automatisch leiser. Hier geht hin, wer etwas lernen will, nicht, wer rechthaben will. Hier steckt die Vielfalt, die alle immer suchen. Es ist der ideale, demokratische Ort, den sich alle für das Land wünschen. Überraschung: Es gibt ihn schon!
Jetzt könnten sie sie gebrauchen, „die Faust von Goethe“, um mit ihr einmal auf den Tisch zu hauen. Damit es mal jemand merkt.
Die Bücherbotin
Durch die Oberlichter des Bücherbusses von Patrizia Engelskirchen fällt noch mildes Tageslicht. Nicht mehr lange, dann wäre der Bus offiziell ein Oldtimer geworden, seit ein paar Jahren darf er wegen der Abgasnorm nicht mehr in den Berliner S-Bahn-Ring. Ersatzteile mussten sie schon extra anfertigen lassen. Doch die Nachfrage ist jede Woche frisch. Die Stimmung einzigartig. „Keine Pöbeleien, kaum Diebstahl, niemand wird laut.“ Stattdessen jede Woche eine kurze Fortsetzung der Lebensgeschichten ihrer – sagt man: Kunden? Patrizia Engelskirchen kennt von mancher Familie inzwischen die dritte Generation. Sie stehen in kleinen Trüppchen an den Haltestellen mit ihren fälligen Medien. „Braucht noch jemand Rabattmarken von Edeka?“ fragt eine alte Dame in die Runde. Nicht, dass die noch verfallen!
Bücherbusse sind die unschuldigsten Orte Berlins. Hier nimmt die Stadt eine Auszeit von sich selbst.
„Obst raus, Suppe rein.“ Im Herbst tauscht Patrizia Engelskirchen die Bücher in ihrem saisonalen Kochbuch-Regal. So könnte auch ein Leser, der dauerhaft in diesen Bus eingesperrt wäre, bemerken, wie die Jahreszeiten vergehen. 60 Medien darf man auf seinen Ausweis gleichzeitig entleihen, viele Nutzer sind immer am Anschlag. In einigen Familien hat jedes Mitglied eine Ausweis, da summiert sich was.
Anfangs türmte auch Patrizia Engelskirchen riesige Stapel neben ihrem Bett. Sie saß ja an der Quelle. Aber sie lernte, sich zu disziplinieren. Zehn Bücher gleichzeitig, sagt see nun. Mehr ist nicht praktikabel.
Engelskirchen fährt ihren Bus am Abend in die Garage unter der Bezirksbibliothek Tempelhof. Nur dieser Garage wegen ist der Bus überhaupt noch fahrtüchtig. In diesem Jahr kommt ein neuer.
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