NS-Aufarbeitung in Bibliotheken: Buch für Buch auf der Suche nach NS-Raubkunst
Neun Menschen blättern durch Millionen von Bibliotheksbüchern, suchen kleinste Spuren. Sie wollen Opfern und Angehörigen NS-Raubkunst zurückgeben – und ihre Geschichte.
Wer hätte gedacht, dass ein Buch sein Leben verändern würde? Geoff Latz, 59 Jahre alt, Künstler und Lehrer in England, ist ein ruhiger Mann mit weicher, tiefer Stimme. Am Telefon erzählt er von seinem Vater, der während der NS-Zeit aus Deutschland fliehen musste. Von dem er nie ein Wort Deutsch hörte, auch nur den Hauch einer jüdischen Tradition gelehrt bekam. Irgendwie fehlte da immer etwas: Die eigene Herkunftsgeschichte. „Es war hart“, sagt Geoff heute, „immer in diesem Gefühl aufzuwachsen, nirgendwohin zu gehören.“
In dieser ganzen Zeit, in der Geoff Latz groß wurde, die Schule abschloss, seinen Beruf ergriff, stand in der Bibliothek der Freien Universität Berlin ein Buch. „Mein Deutschland.“ Nur 20 Seiten dünn. Erscheinungsjahr: 1933/34. Erscheinungsort: Wiesbaden. Der erste Satz in dem Buch lautet: „Mein Land, mein deutsches Land, der Eltern Wiege, wie lieb ich dich im inneren Gemüt!“ 200 Mal wurde es gedruckt, dieses Exemplar ist die Ausgabe Nummer Vier, eigenhändig unterschrieben vom Autor, Benno Ernst Latz, dem Großvater von Geoff Latz. Ein Buch, von dem Geoff Latz gar nicht wusste, dass es existiert. Ein Buch, eng verknüpft mit der Vergangenheit der Familie, die Geoff so dringend suchte.
Wie dieses Buch dorthin gekommen war, diese Frage stellte sich in der Bibliothek lange niemand. Wie all die anderen Bücher war es einfach da.
Weil das heute nicht mehr egal ist, zieht ein Mann mit Brille und hoher Denkerstirn an einem verhangenen Februarnachmittag ein Buch aus einem Regal und schlägt es auf. Weist es Spuren möglicher Vorbesitzer auf? Stempel, Widmungen, Notizen, Autogramme? Auch auf Briefe oder andere Zettel hin durchblättert Sebastian Finsterwalder das Buch, die zwischen den Seiten stecken könnten.
Jedes einzelne könnte Raubgut sein
Eigentlich ist es der schiere Wahnsinn. Zwar hat Deutschland offiziell erklärt, dass es Geraubtes zurückgeben möchte. Doch niemand hat die Bibliotheken in diesem Zusammenhang zu irgendetwas verpflichtet. Sie haben sich freiwillig das Ziel gesetzt, sämtliche Bücher in ihren Regalen zu untersuchen. „Weil die Bücher vielleicht nicht uns gehören, weil an den Büchern Blut klebt, weil die Angehörigen ein Recht auf sie und ihre Geschichte haben“, sagt Sebastian Finsterwalder, der bei der Zentralen Landesbibliothek Berlin, kurz ZLB, beschäftigt ist.
Seit 2002 Jahren arbeiten sie hier an der Rückgabe, erst nur vereinzelt, jetzt konsequenter. In seiner Bibliothek sind es rund eine Million Bücher, die sie durchsehen müssen. Und in der Bibliothek der Freien Universität Berlin, wo für diese Aufgabe 2013 eine Stabstelle eingerichtet wurde, noch einmal so viele. Durchgesehen werden müssen alle Bücher, die vor 1945 erschienen sind, denn jedes einzelne von ihnen könnte Raubgut sein. Diesen zwei Millionen Büchern in zwei Bibliotheken stehen 5,5 Personalstellen gegenüber, verteilt auf neun Angestellte.
NS-Raubkunst. Wenn dieses Schlagwort fällt, denken die meisten Menschen an berühmte Bilder berühmter Maler oder andere Schätze, die die Nationalsozialisten sich aneigneten, mal per Gesetz, mal per Erpressung, mal gegen erzwungenen Verkauf. Meistens gewaltsam. 1998 hat Deutschland sich im Rahmen der Washingtoner Erklärung verpflichtet, all dies Geraubte zu restituieren. Und das sind nicht nur Gemälde, sondern auch Musikinstrumente, Möbel, Autos, Münzsammlungen – oder eben Bücher.
Enteignungen waren Teil des Holocausts
Er finde das Wort „rauben“ unpräzise, sagt Sebastian Finsterwalder. Sein Büro liegt versteckt im gefühlt letzten Winkel des weitverzweigten Gebäudes der Berliner Stadtbibliothek in der Breite Straße – nur ein paar Gehminuten entfernt vom Bebelplatz, wo die Nazis 1933 Bücher verbrannten. Raub klinge wie eine lustige Räubergeschichte. „Da wird etwas gemopst. Doch das waren Enteignungen, die als Teil des Holocausts zu verstehen sind: Ausgrenzung, Konzentration, Vernichtung.“ Die Nationalsozialisten aber hätten das nicht nur gemacht, weil sie alles haben wollten, sondern vor allem, weil sie wollten, dass die anderen nichts mehr haben. Deswegen seien diese Bücher mehr als nur Bücher. „Sie sind Träger teils verloren gegangener Geschichten und Schicksale. Und um die herauszubekommen und zurückzugeben, dafür sind wir hier.“
Finsterwalder ist ein einfacher Fachangestellter, betont er, für Medien- und Informationsdienste – ein „Fami“. Der in dieser Abteilung anheuerte, weil er einen Job brauchte. Das war vor neun Jahren. Seitdem aber hat er sich verändert. Er spricht von der Bedeutung der Aufgabe und von den berührenden Momenten, in denen sie endlich ein Buch zurückgeben können. Von den traurigen Momenten, wenn sie feststellen, dass es niemanden mehr gibt, dem sie etwas zurückgeben könnten, weil er oder sie und alle Angehörigen ermordet wurden. Von den frustrierenden, wenn sie jahrelang Hinweis für Hinweis zusammengetragen haben, endlich wissen, wem es gehört, aber eventuelle Erben einfach nicht finden können. Bis sich vielleicht eine Ur-Enkelin irgendwo doch noch entschließt, einen Facebook-Account einzurichten, und zack – wird sie für sie sichtbar.
Glück haben die Spurensucher, wenn im Buch ein Name steht, vielleicht eine Adresse oder ein Beruf. Manchmal ist es wie Knobeln. Wie im Fall des verfolgten in Berlin geborenen Biochemikers Carl Neuberg, der die Marotte hatte, die Zahlen interessanter Seiten auf der allerletzten zu vermerken. In 40 verschiedenen Büchern fanden Sebastian Finsterwalder und seine Kollegen solche Zahlenreihen, in einigen wenigen dann seinen Namen. Pech haben sie, wenn sie nichts finden. Dann werden sie nie herausbekommen, ob es sich um Raubgut handelt.
Sie durchwühlen Friedhofsverzeichnisse und Adressbücher
Jegliche Hinweise werden fotografiert und mit einer detaillierten Beschreibung in eine Datenbank eingepflegt, an der sich sechs weitere Bibliotheken beteiligen. Was die einen finden, kann den anderen der letzte fehlende Hinweis sein. Diese Datenbank, „Looted cultural assets“ genannt, geraubte kulturelle Besitztümer, ist öffentlich. Sollte irgendwo auf der Welt jemand im Internet nach seinen im Holocaust verschollenen Großeltern suchen, könnte er hier auf ihre Namen stoßen.
Finsterwalder und seine Kollegen zeichnen Schicksale nach. Sind die Besitzer in Lagern umgekommen, haben sie überlebt, konnten sie vorher fliehen, wohin hat es sie verschlagen? Sie tragen Informationen aus Archiven, Friedhofsverzeichnissen, Adressbüchern zusammen. Die Ergebnisse ihrer Recherchen schicken sie den Angehörigen mit. Manchmal liegen handgeschriebene Lebensläufe dabei, Heiratsurkunden.
Doch wie kamen die Bücher überhaupt in die Bibliotheken? Jetzt holt Finsterwalder ein großes Buch unter einem Stapel hervor und schlägt es auf. Es ist das Zugangsbuch „J“ aus den Jahren 1944/45. J wie Jude. Autor, Titel, Zugangsnummer. Zeile für Zeile verzeichneten die damaligen vier Mitarbeiter die geraubten Bücher. Den ersten Eintrag machten sie am 16. Juni 1944. Das Buch ist aus dem Jahr 1867 und trägt den Titel: „Die bedeutenden Postverbindungen Deutschlands“. Es ist ein Briefwechsel erhalten, in dem die Berliner Stadtbibliothek den Berliner Städtekämmerer um die kostenlose Übernahme der in der Städtischen Pfandleihanstalt gelagerten „über 40 000 Bänden aus Privatbüchereien evakuierter Juden“ bittet. „Evakuiert“, das ist die Umschreibung für „deportiert“.
Der letzte Eintrag im Zugangsbuch „J“ ist vom 20. April 1945, Hitlers letztem Geburtstag. Das Buch ist von Bernhard Shaw, 1935 gedruckt worden und heißt: „Short Stories. Scraps and Shavings.“ Englische Kurzgeschichten. 1920 Bücher hatten die Mitarbeiter in der Zeit registriert, 1920 von insgesamt rund 40 000.
Als der Krieg vorbei war, schrieben sie ins Register "G" wie Geschenk
„Die Russen stehen in Berlin, Tiefflieger jagen über die Stadt, es gibt keinen Strom, kaum Wasser und Essen und da sitzen die hier und tragen von Juden geraubte Bücher ein“, sagt Finsterwalder. Und danach? Nachdem alles vorbei war? Da trugen dieselben Mitarbeiter die restlichen geraubten Bücher mit einem „G“ in den Bestand ein. „G“ wie Geschenk.
„Unser damaliger Direktor Wilhelm Schuster, der diese Bücher von den Pfandanleihen billig aufkaufte, war ein glühender Nazi. Der schrieb 1933 sogar an den Bücher-Verbotslisten mit“, erklärt Finsterwalder. Es ist das Wort „unser“, das aufhorchen lässt. Weil es deutlich macht, dass es bei den Wiederherstellungen auch um Kontinuität geht. Die Mitarbeiter der Bibliothek machen diese Arbeit, weil sich ihre Bibliothek an dem Unrecht beteiligt hat.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es eine Bergungsstelle, die Buchbestände aus zerstörten Häusern sicherte. Unter ihnen die Privatbibliotheken von Nazigrößen, welche sich diese mit NS-Raubgut angereichert hatten.
Bis zum 31. Dezember 2018 konnte die Landesbibliothek 892 Bücher und andere Objekte zurückgeben. Aber nur zwei davon an Menschen, denen das Buch selber noch gehört hatte. Eine davon war eine sehr alte Dame, die in Israel in einem Heim lebt. Ihr konnten sie zwei Bücher senden: Eines war ihres, das andere hatte ihrem Bruder gehört. Ihr war als Jugendliche die Flucht gelungen, er wurde zusammen mit ihren Eltern im Konzentrationslager Chelmno im heutigen Polen ermordet. Die Dame bedankte sich herzlich in einem handgeschriebenen Brief, erinnert sich Sebastian Finsterwalder.
Da sind Traumata über Generationen
Die Bibliothek der Freien Universität konnte in den letzten vier Jahren 200 Bücher zurückgeben. Hier ist es Ringo Narewski, 39, der mit seinen Kollegen die Archive durchackert. Gerade steht er in einem sehr langen Korridor, nach links sind es zwölf Regalreihen zu jeder Seite und nach rechts 15. Allein auf dieser Etage lagern 70 000 alte Bücher auf 2333 Bestandsmetern. Die haben sie kontrolliert, drei Jahre hat das gedauert. Um nun die Hinweise, die sie gefunden haben, vollständig auszuwerten und in die Datenbank einzutragen, bräuchten sie noch einmal zehn Jahre. „Wir werden noch wühlen, wenn wir alt und grau geworden sind“, sagt Ringo Narewski.
Jetzt verschwindet er hinter einem Regal, reckt sich und zieht ein Buch heraus. Abgegriffen ist es. Die letzten Seiten fehlen. „Das ist Raubgut“, sagt Narewski. Der Titel: „Richtlinien zu einem Programm für das liberale Judentum“.
In schwarzer Tinte steht darin der Name Grete Tichauer. Mit Bleistift ist er durchgestrichen, darunter Lotte geschrieben. Das Problem für Narewski: Es gab sowohl eine Grete Tichauer als auch eine Lotte Tichauer und insgesamt zwei Familien Tichauer – in Breslau. Die eine Familie hat überlebt, floh über England nach Palästina. Die andere nicht, kam in Lagern um. Narewski konnte bisher nicht herausfinden, in welche der beiden Tichauerfamilien das Buch gehört. „Und ich kann mich ja nicht einfach bei der einen melden.“
Da war ein Mann in Israel, erzählt Narewski, dem sie das Buch seines Vaters zurückgeben wollten. Doch der lehnte ab mit der Begründung, dass sein Vater das Opfer gewesen sei und nicht er. Dass er jetzt selber am Ende seines Lebens stehe – und da kämen sie aus Deutschland um die Ecke und böten ihm so etwas an? Für viele sei das nicht einfach, sagt Narewski, „wir haben hier mit Traumata und Vergangenheitsbewältigung über Generationen hinweg zu tun.“ Darum fielen sie auch nicht mit der Tür ins Haus, wegen eines wie auch immer begründeten Verdachts.
Was war dem Großvater passiert? Keiner kannte die Antwort
Geoff Latz hat von seinem Vater als Kind viele Geschichten über seinen Großvater erzählt bekommen. Sie selber waren damals arm, zogen mit dem Campingwagen von Ort zu Ort. Unglaubwürdig, seltsam fremd klangen da die Geschichten über die einst wohlhabende und hoch geschätzte Familie Latz aus Deutschland. Sie verkehrte, so wurde erzählt, nur in den besten Kreisen, hatte ein Haus und ein Kindermädchen. Der Großvater war Arzt, anerkannter Spezialist für Innere Medizin. Und als Jude, der stolz war ein Deutscher zu sein, verpflichtete er sich im Ersten Weltkrieg.
Wo der Großvater denn hin sei, fragten die Kinder, wo die ganze Familie denn hin sei? Das konnte der Vater nicht beantworten, der es 1938 gerade noch raus, nach England geschafft hatte. Dieser Teil der Familiengeschichte blieb ein Mysterium.
Dann, vor zwei Jahren, gestaltete Geoff Latz ein Kunstwerk über den Ersten Weltkrieg, eine meterhohe mit Skulpturen und Kulisse nachgestellte Szene von der Schlacht von Verdun, sprach mit einem Journalisten darüber und erwähnte seinen deutsch-jüdischen Großvater. Der Journalist schrieb es auf, und auf seinen Bericht wiederum stießen die Mitarbeiter der FU-Bibliothek. So konnten sie die Verbindung vom Buch zum Enkelsohn schließen. Vor einem Jahr kehrte das Buch zu Geoff Latz zurück – und mit ihm seine Familiengeschichte.
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