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Ein Radfahrer fährt einsam durch die leeren Straßen von Zürich.
© Alexandra Wey/KEYSTONE/dpa

Wie Corona die Gesellschaft verändert: „Die Ängste mischen sich mit Hoffnungen“

Aktuell blickt alles auf die Lebenswissenschaften. Doch nun fangen Sozialwissenschaftler an, die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie zu erforschen.

Die medizinische Forschung zum neuen Corona-Virus läuft weltweit auf Hochtouren. Rund um die Uhr arbeitet die Wissenschaft an Impfstoffen und Medikamenten, um die Pandemie möglichst bald ausbremsen zu können. Aber auch die nichtmedizinischen Folgen wie Ausgangssperren, Quarantäne und Homeoffice haben – so sinnvoll sie auch sein mögen – zu erwartende soziale, ökonomische und psychologische Nebenwirkungen.

Denn die historische Zäsur der Covid-19-Pandemie verändert das Leben und Arbeiten der Menschen gerade in grundstürzender Weise. Von den erdrutschartigen Ereignissen zunächst überrumpelt, sind die Sozialwissenschaften nunmehr dabei, sich neu zu organisieren. Denn trotz des aktuell notwendigen Fokus auf medizinische Fragen ist es geboten, auch die gesellschaftlichen Implikationen von Corona mit systematischer Forschung zu begleiten.

Erste Ansätze sind im Entstehen, diverse Studien gehen an den Start. So hat etwa das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) unter corona-alltag.de eine Umfrage ins Netz gestellt, die die Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitssituation und das Familienleben der Menschen in Deutschland untersucht. Dabei soll die Studie prozesshaft aktualisiert werden – die Teilnehmenden sind dazu aufgerufen, die Veränderungen ihrer Situation im Fortgang der Krise zu dokumentieren.

„Wissenschaftliche Informationen haben derzeit Hochkonjunktur“, erklärt die bei der Studie federführende Soziologin Lena Hipp auf Anfrage des Tagesspiegels. „Vor allem die Lebenswissenschaften sind in der Debatte gerade tonangebend.“ Auch die Sozialwissenschaften müssten nun aus der Deckung kommen, um in der „für uns alle noch surrealen Situation“ Orientierungshilfe zu leisten.

Hintergrund über das Coronavirus:

Den Forschenden geht es um die Frage, wie Menschen verschiedener Bevölkerungsgruppen von den nichtmedizinischen Auswirkungen der Seuche betroffen sind. Welchen Einfluss haben etwa Alter, Geschlecht und Herkunft auf die einschlägige Krisenerfahrung? Variieren die typischen Sorgen zwischen den verschiedenen Gruppen?  

Eine Hypothese, die es nun empirisch zu verifizieren gelte, ist, dass die besagten Wirkungen des Virus sozial geschichtet sind, sagt Hipp. Tatsächlich scheint sich die Klassenstruktur unserer Gesellschaft momentan wie unter einem Brennglas zu zeigen. Die urbane Mittelschicht zieht sich in ihre Wohnungen zurück und lässt sich vom systemrelevanten aber chronisch unterbezahlten Dienstleistungsproletariat Kisten mit Getränken ins Homeoffice schleppen.

Eine weitere Trennlinie verläuft zwischen den Geschlechtern: So sei es, nach allem, was man wisse, sehr wahrscheinlich, dass die im Zuge des Shut-Downs anfallende Mehrarbeit im Haushalt eher von Frauen erledigt werde, sagt Hipp.

[Was eine US-amerikanische Psychiaterin in einem Gastbeitrag zum alltäglichen Umgang mit der Corona-Angst rät, lesen Sie hier.]

Empirisch schon etwas weiter ist eine laufende Studie des Instituts für Psychologie und Arbeitswissenschaft (IPA) an der Technischen Universität Berlin. Die Ergebnisse werden auf der Website der Uni stetig aktualisiert.

Der Leiter der Studie, Markus Feufel, forscht dazu, wie Risiken in der Gesellschaft wahrgenommen und medial kommuniziert werden. Dabei könne man schon jetzt sagen, dass die Corona-Krise bei aller Einzigartigkeit doch ein typisches sozialpsychologisches Reaktionsmuster aktiviere: Auf eine Phase von Abwehr und Verharmlosung folgte die Etappe ernsthafter Auseinandersetzung und der fast einmütigen Forderung nach umfassenden Maßnahmen, die in einer weiteren Pendelbewegung nun ihrerseits hinterfragt werde.

Tatsächlich hat wohl jeder zu Beginn der Epidemie den bald schon bereuten Satz artikuliert, Corona sei nicht schlimmer als die Grippe. Dieselben Personen haben dann kurze Zeit später die soziale Isolation gefordert. Im Anschluss an eine fast flächendeckende Befürwortung des gesellschaftlichen Shutdowns mehren sich nun wieder die kritischen Stimmen, die das Verhältnis der sozialen, ökonomischen und psychologischen Schäden im Vergleich zum medizinischen und versorgungsstrukturellen Nutzen erörtern wollen. „Die Kritik wird sich verstärken“, sagt Feufel. Die Debatte sei gerade erst dabei, sich auszudifferenzieren.

Aktuell erklären der TU-Studie zufolge aber noch 90 Prozent der Menschen, dass sie ihr Verhalten vollständig den vom RKI formulierten Vorsichtsmaßnahmen angepasst hätten. Nur drei von bisher 400 befragten Personen haben angegeben, dass sie sich ganz genauso wie vor der Pandemie verhalten würden.

Zudem habe die Umfrage ergeben, dass eine deutliche Mehrheit das Risiko für die Allgemeinheit höher einschätzt als das individuelle Risiko, sagt Feufel. „Es hat sich schnell die Einsicht durchgesetzt, dass die medizinischen Probleme vor allem aus einem Ressourcenproblem erwachsen, und dass es deshalb darum geht, die Ansteckungskurve abzuflachen.“ Die Hälfte der bisher Befragten ist dabei der Auffassung, die Situation werde noch schlimmer, 35 Prozent sagen, es bleibe gleich und 15 Prozent, es werde besser.  

Auch wenn die Zahlen noch sehr vorläufig seien und die Studie auf einen längeren Zeitraum angelegt ist, lässt sich Feufel zufolge aber schon jetzt eine Tendenz erkennen, dass die Krise auch vielfach als Chance für einen langfristigen sozioökonomischen und vielleicht auch ökologischen Wandel begriffen werde. „Die Ängste mischen sich mit Hoffnungen“, sagt der Psychologe und Arbeitsforscher. Dabei ist es natürlich wiederum eine Klassenfrage, ob man der vielbeschworenen Entschleunigung etwas abgewinnen kann oder nicht. Jene, die ihre Jobs verlieren, werden sich kaum an der nun niedrigeren Taktung des öffentlichen Lebens erfreuen. Und für Krankenschwestern und Supermarktkassierer hat sich ohnehin nichts entschleunigt – im Gegenteil.

Dass die Stimmen lauter werden, die eine Erforschung der sozialen Nebenwirkungen der Corona-Pandemie fordern, zeigt sich auch an einem gemeinsamen Aufruf des Berlin Institute of Health (BIH) mit dem Netzwerk Evidenzbasierte Medizin und der Akademie für Ethik in der Medizin. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erklären, es müsse schnellstens geklärt werden, ob die Maßnahmen zur Eindämmung der Sars-CoV-2-Pandemie wie Schulschließungen oder Kontaktsperren die erwünschte Wirksamkeit zeigen.

In einem zweiten Schritt müsse man eruieren, ob die zu erwartenden gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen gerechtfertigt seien oder nicht.

„Wir sollten mit besonders hoher Priorität klären, ob die eingeleiteten Maßnahmen ausreichend wirksam sind, um die Pandemie nachhaltig einzudämmen. Gleichzeitig müssen wir untersuchen, welche Schäden durch sie entstehen“, sagt Daniel Strech, der stellvertretende Direktor des BIH. Hierzu brauche es medizinische und sozialwissenschaftliche Begleitforschung.

Die Forscherinnen und Forscher am BIH fordern die schnellstmögliche Bildung einer „nationalen Taskforce Covid-19-Evidenz“. Diese solle klären, welche Fragen am dringendsten beantwortet werden müssen und die Begleitforschung koordinieren. Die Gesellschaft müsse über die Ergebnisse dabei fortlaufend informiert werden.

Die Erfahrungen und die Ergebnisse einer solchen Taskforce seien nicht nur für die aktuelle Pandemie relevant, erklärt Bioethiker Strech. „Vielmehr ermöglichen sie langfristige Planungen für mögliche zukünftige Notfallsituationen.“

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