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Eine Drag Queen steht vor einem jungen, fröhlich wirkenden Publikum auf der Bühne. In der Menge weht eine Regenbogenfahne mit aufgedrucktem Davidstern.
© Gil Cohen-Magen/AFP

"Bellizistische Krisengesellschaft": Deutsche Schulbücher vermitteln einseitiges Israel-Bild

In deutschen Schulbüchern dominiert der Nahost-Konflikt. Dass Israel gleichzeitig die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten ist, komme nicht vor, kritisiert die deutsch-israelische Schulbuchkommission.

Schüler in Deutschland lernen Israel als ein kriegführendes Land im Nahostkonflikt kennen. In ihren Schulbüchern steht die israelisch-palästinensische Konfrontation im Mittelpunkt. Als einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten dagegen komme Israel nicht vor, kritisiert die deutsch-israelische Schulbuchkommission, die nach vierjähriger Arbeit am heutigen Dienstag ihre Empfehlungen im Auswärtigen Amt in Berlin vorstellt. Schulbücher sollten künftig „ein breites, facettenreiches Bild der Geschichte Israels zeichnen“, fordern die deutschen und israelischen Wissenschaftler, Fachdidaktiker und Pädagogen in ihrem Bericht, der dem Tagesspiegel vorliegt.

Eine differenzierte Darstellung wird auch für Schulbuchtexte zum Holocaust angemahnt. Hier dominiere die Täterperspektive. Formen jüdischer Selbstbehauptung und des Widerstands seien aber unabdingbar, um dem Eindruck von „Lämmern“, die sich willig „zur Schlachtbank führen lassen“, entgegenzuwirken.

Deutsche Geschichte endet für israelische Schüler 1945

Von den 1200 zugelassenen Geschichts-, Geografie- und Sozialkundebüchern haben die Experten 400 Titel aus fünf Bundesländern – Bayern, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen – untersucht. Im Fokus standen 94 Texte zur Darstellung Israels und 25 Kapitel aus Geschichtsbüchern zum Holocaust. Ausgewertet wurden auch 44 israelische Schulbücher.

Die Bundesrepublik Deutschland kommt in israelischen Schulbüchern zwar nur sporadisch vor, aber sehr viel besser weg, als Israel in deutschen Büchern – etwa als Modellfall für die Entwicklung demokratischer Regierungsformen oder für den Umweltschutz. Dass die Darstellung des nationalsozialistischen Deutschlands und des Holocausts großen Raum einnimmt, liegt auf der Hand. Doch in den Geschichtsbüchern endet die deutsche Geschichte 1945. Hier empfiehlt die Schulbuchkommission, die deutsche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu thematisieren. In den Schulbüchern beider Länder kommt bislang ein verbindender Aspekt zu kurz: die besonderen wechselseitigen Beziehungen, die vielen Begegnungen – bis hin zu einem intensiven Jugendaustausch.

Der Kibbuz ist in deutschen Schulbüchern kaum noch zu finden

Doch inwiefern sind Schulbücher geeignet, ein differenziertes Bild von Geschichte und Gegenwart zu zeichnen, das auch dem israelisch-palästinensischen Konflikt gerecht wird? Angesichts des zumeist sehr beschränkten Umfangs der Kapitel sei eine adäquate Darstellung des Nahostkonflikts „in seiner historischen und politischen Komplexität unmöglich“, heißt es. Dies gelinge nur in wenigen Büchern der gymnasialen Oberstufe, etwa in einigen bayerischen Geschichtsbüchern für die 12. Klasse. Gleichzeitig bemühten sich aber die allermeisten Autoren um eine ausgewogene Darstellung. „Eine eindeutige Parteinahme für eine der Konfliktparteien wird in der Regel vermieden.“

"Schüler verbinden mit Israel eine bellizistische Krisengesellschaft"

Allerdings reduzierten vor allem die Schulbücher der Sekundarstufe I die historische Komplexität des Nahostkonflikts auf den israelisch-palästinensischen Gegensatz. „Schüler verbinden mit Israel eine bellizistische Krisengesellschaft“, sagt Simone Lässig, Direktorin des Georg-Eckert-Instituts für Schulbuchforschung, das die Arbeit der Kommission auf deutscher Seite gefördert hat. Dem Bericht zufolge gehen die Autoren von einem „gleichberechtigten Anspruch zweier Völker auf ein Territorium“ aus. Die Kommission fordert, auch der Einfluss der europäischen Mächte seit dem 19. Jahrhundert und regionale Partikularinteressen, etwa der Arabischen Liga, müssten berücksichtigt werden. Wichtig wäre es auch, jüdische Migration nach Palästina und ihre Aufbauleistung zu würdigen. „Das sozialistische Experiment des Kibbuz etwa ist in Schulbüchern kaum noch zu finden“, sagt Lässig.

Schulbuchforscherin will "Differenzen nicht übertünchen"

Wie der aktuelle Konflikt, der das Leben in der Region und das Verhältnis zu Israel maßgeblich prägt, angemessen dargestellt werden könnte, schreibt die Kommission nicht. Ihr geht es um die Einbettung: Erklärungen, die den Konflikt als unausweichlich und unlösbar erscheinen lassen, sollten vermieden werden. Vorsicht sei bei Bildern geboten, die bei den Schülern starke Emotionen erzeugen. „Tendenziöse und einseitige bildliche Darstellungen“, die etwa israelische Soldaten „als Gewaltausübende“ gegenüber schwächer erscheinenden Palästinensern zeigen, führten dazu, dass die Schüler einseitig Partei nehmen. „Unterrichtsziel sollte es nicht sein, Differenzen zu übertünchen“, betont Lässig. „Aber in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft wie Deutschland sollten Jugendliche in die Lage versetzt werden, sich die Position des jeweils anderen zu erschließen.“

Freiheiten, die es im Nahen Osten sonst nicht gibt

Wie aber kommt ein anderes Israel-Bild jenseits des „Konfliktnarrativs“ in die Schulen? Das Bild eines Landes, dass seinen Bürgern in manch anderer Hinsicht Freiheiten bietet, die es im Nahen Osten sonst nicht gibt. Bei den Schulbuchverlagen will die Kommission Überzeugungsarbeit leisten. Bis die Bücher überarbeitet sind, sollen binationale Expertengruppen und Sommerschulen für Lehramtsstudierende neue Materialien entwickeln. Schülerinnen und Schüler aus beiden Ländern könnten in Projekten zu Themen wie Lebensalltag oder Ökologie zusammenkommen. Und dann legen sie die Schulbücher beiseite und gehen hinaus auf die Straßen – und machen sich ein eigenes Bild.

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