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So sieht der Alltag im heiligen Land aus. Ein palästinensischer Demonstrant wird von israelischen Soldaten festgenommen.
© Reuters

Israel und Palästina: Hat der Frieden eine Chance?

Gazakrieg, Streit um den Tempelberg, gescheiterter Oslovertrag: Warum können sich Israelis und Palästinenser nicht auf einen Frieden im Nahen Osten einigen? Eine Erkundung mit kritischen Fragen im Heiligen Land.

Corey Gil-Shuster zieht einen Zettel aus seiner Hosentasche. Fragen stehen darauf, nichts als Fragen. Und sie alle haben mit dem Frieden im Nahen Osten zu tun. Jedem, den er in Israel und Palästina trifft, will er sie stellen. Zum Beispiel diese: Was ist schlimmer? Wenn ein Jude einen Palästinenser umbringt? Oder ein Palästinenser einen Juden? Oder ein Jude einen Juden? Oder ein Palästinenser einen Palästinenser?

„Das ist meistens die schwierigste aller Fragen“, sagt Gil-Shuster, nicht nur, weil sie so lang ist. Als er jetzt die Fragenliste auf seinem Zettel noch einmal durchgeht, tropft der Schweiß von seiner Stirn. Dabei hat er heute noch gar nicht mit seiner Arbeit begonnen. Der 44-jährige Kanadier mit israelischem Pass stellt Passanten überall in Israel und im Westjordanland unangenehme Fragen. Immer mit einer kleinen Kamera ausgerüstet. Seine Straßenumfragen stellt er dann ins Netz. Daraus entwickeln sich oft Diskussionen. Genau das ist sein Ziel. „Wir reden hier viel zu wenig, ich möchte das ändern“, sagt er.

In einer Zeit, in der Gespräche zwischen Juden und Palästinensern im Nahen Osten fast unmöglich erscheinen, werden die Wege von Corey Gil-Shuster zu den wenigen Pfaden des Dialogs. Mit ihm unterwegs zu sein, das bedeutet allerdings, auf der Suche nach dem Frieden viele enttäuschende Antworten zu finden.

Er steht jetzt im Schatten einer Palme auf dem breiten Mittelstreifen des Rothschild-Boulevards in Tel Aviv. Heute möchte er sein neuestes Video fertig stellen, nach dem Krieg in Gaza, möchte er ein Stimmungsbild von der Atmosphäre zwischen Juden und Palästinensern einholen. Vor drei Jahren hat er an der Universität Haifa sein Videoprojekt gestartet. Er nannte es schlicht: „Frag einen Israeli, frag einen Palästinenser“.

Damals, im Jahr 2011, zelteten tausende junge Israelis hier auf dem Mittelstreifen des Rothschild-Boulevards und protestierten gegen hohe Preise und teueren Wohnraum, und Corey Gil-Shuster war erstaunt darüber, dass fast alle Demonstranten das eigentliche Problem im Land ignorierten. „Der Konflikt mit den Palästinensern war ein Tabu, niemand wollte darüber reden“, erzählt er. Frieden sei kein Thema, auf beiden Seiten. Nach der jüngsten Gazakrieg schon gar nicht.

Corey Gil-Schuster stellt kritische Fragen an Israelis und an Palästinenser.
Corey Gil-Schuster stellt kritische Fragen an Israelis und an Palästinenser.
© M. Amjahid

Kannst du dir vorstellen einen Juden als Nachbarn zu haben? Nein! Alle Zionisten sind Mörder!

Das hört er oft. Die Frage nach der guten Nachbarschaft bringt meistens provokante Antworten hervor. An diesem Sonntagmorgen antwortet nur jeder vierte Passant auf dem Rothschild-Boulevard. „Nein“, sagt eine Frau in die Kamera, sie habe kein Problem mit einem palästinensischen Nachbarn. „Nur wenn der friedlich ist natürlich“, sagt sie, während sie schon wieder wegläuft. Jeder bringt sich so schnell es geht in den raren Mittagsschatten. Wovor rennen die Menschen hier eigentlich weg? Vor der Hitze? Vor den geschichtlichen Tatsachen? Der kriegerischen Gegenwart? Oder der wenig versprechenden Zukunft?

Israelis gegen Palästinenser: Niemand kann sich mehr an eine Zeit ohne diesen Konflikt erinnern. Im Zwei- bis Dreijahresrhythmus fliegen Raketen, starten Bodenoffensiven, rollen Panzer, scheitern Gespräche, werden Menschen entführt, Kinder getötet, neue Siedlungen gebaut, Häuser zerbombt, Trennmauern hochgezogen, Waffenruhen gebrochen, Propagandakriege geführt. Bei der jüngsten Gaza-Offensive starben mehr als 2100 Palästinenser, meist Zivilisten, und 64 Israelis, meist Soldaten, innerhalb von nur 50 Tagen. Beide Seiten erklärten sich zum Sieger.

Jedes Kind hat hier seine Intifada, das gehört in Hebron zur Pubertät

Streit um den Tempelberg: Ein zu heiliger Ort?
Streit um den Tempelberg: Ein zu heiliger Ort?
© DPA

Hat der Frieden eine Chance? Erst wenn Gaza weiter bombardiert und die Hamas vernichtet wird.

Mit dem kleinen Zettel und seinen großen Fragen in der Tasche steigt Corey Gil-Shuster in einen Kleinbus Richtung Westen ein. Sein Videoprojekt bekommt an der Universität nur dann die nötige Anerkennung, wenn er auf beiden Seiten der Grenze fragt. Darum geht es jetzt ins Westjordanland. Dort wo es Zivilisten aus Israel eigentlich per Gesetz verboten ist hinzureisen. Gut, dass er seinen kanadischen Pass einsetzen kann. Am Checkpoint kontrollieren zwei Soldaten den Bus. Ganz vorne sitzt eine verschleierte Frau.

Als sie sich weigert, zur Sicherheitskontrolle ihr Gesicht zu zeigen, wird es laut. Zunächst streitet der Busfahrer mit einem schwer bewaffneten Soldaten: Diese Gesichtskontrolle sei doch gar nicht nötig. Dann streiten die Soldaten unter sich, der ältere möchte darauf verzichten, der jüngere Soldat besteht darauf. Bald wird es noch lauter, nervöser.

Nach einem blutigen Anschlag auf eine Jerusalemer Synagoge versinkt dieser Gläubige im Gebet.
Nach einem blutigen Anschlag auf eine Jerusalemer Synagoge versinkt dieser Gläubige im Gebet.
© DPA

Erst als die Passagierin ihren Gesichtsschleier endlich doch lüftet, geht die Fahrt weiter. Nicht immer gehen solche Situationen so glimpflich aus. Gil Shusters Sitznachbarin erzählt, wie ihre Cousine schwer verletzt wurde, als ein junger israelischer Soldat – sie nennt ihn ein Kind – die Nerven verlor und sie anschoss.

Hat Israel als jüdischer Staat ein Existenzrecht? Nein.

Im palästinensichen Hebron angekommen, nur 50 Kilometer südlich von Jerusalem, zeigt sich die hässlichste Seite des Dauerkonflikts. Das israelische Militär hatte die Stadt nach der Entführung von drei Talmudschülern im Juni wochenlang eingekesselt, niemand durfte ein- oder ausreisen. Die Entführung diente der israelischen Regierung als Anlass für eine militärische Operation gegen die Hamas im Westjordanland. Es wurden dutzende zuvor freigelassene Gefangene und Politiker der Hamas erneut verhaftet. Die antwortete mit einer Intensivierung des Raketenbeschusses aus dem Gazastreifen. Was die Israelis wiederum zur Militäroffensive „Protective Edge“ veranlasste.

Benjamin Netanjahu führt Israel mit seiner Koalition weiter auf Konfrontationskurs.
Benjamin Netanjahu führt Israel mit seiner Koalition weiter auf Konfrontationskurs.
© AFP

Nun, da die Belagerung mit dem Beginn der Feuerpause gelockert wurde, möchte Corey Gil-Shuster den Hebronern ein paar Fragen stellen. In der Neustadt hat er sich mit seinem palästinensischen Freund Hamza Awawde verabredet. Der arbeitet für die Friedensorganisation „Young Leaders“. Die beiden haben sich auf einem Friedensseminar kennengelernt.

Ist es okay eine Straße nach einem Terroristen zu benennen? Wenn es ein Märtyrer ist, schon.

Am Eingang zur Altstadt von Hebron werfen Schüler Steine auf ein israelisches Panzerfahrzeug. Zwischen acht und 16 Jahren dürften sie sein. Die Soldaten antworten mit Tränengas und Warnschüssen. Es ist der erste Schultag nach den Sommerferien, und die Auseinandersetzungen mit dem Gegner sind die übliche Freizeitbeschäftigung nach der letzten Schulstunde. Hamza Awawde bedeckt beschämt sein Gesicht mit der rechten Hand. Sein Freund sagt, diese Reaktion sei richtig. Man könne sich eigentlich nur schämen.

Die Stadt Hebron wird von der israelischen Armee besetzt, die palästinensischen Einwohner müssen sich fügen.
Die Stadt Hebron wird von der israelischen Armee besetzt, die palästinensischen Einwohner müssen sich fügen.
© DPA

Rund um die Minikriegsszene geht das Leben weiter. Alltag in Hebron. „Jedes Kind hat hier seine Intifada, das gehört in Hebron zur Pubertät“, sagt eine Marktfrau. Eigentlich findet sie, dass alle Eltern ihre Kinder zurückpfeifen sollten. Sie hat selbst drei Söhne. Auf Zehenspitzen versucht sie einen Blick zu erhaschen, ob einer von ihnen gerade Krieg spielt.

Kann ein Staat für alle eine Lösung sein? Nein, denn alle Palästinenser stellen eine Gefahr dar.

Manche nennen Hebron auch „Gaza im Westen“. Hier sind die Menschen besonders erbost, vor allem über die israelische Siedlungspolitik. Schadi, ein Bewohner der Altstadt sieht von Weitem wie Gil-Shuster und Awawde mit der Kamera durch die Gassen von Hebron gehen. Er rennt auf sie zu, möchte ihnen von seinen Erfahrungen erzählen. Es sei schlimmer, sagt er, wenn ein Jude einen Palästinenser umbringen würde – man müsse nur die Überlegenheit der israelischen Armee sehen, dann wisse man, wie unfair dieser Kampf sei.

Gil-Shuster klappt seine Minikamera zu. Ein Klack. Ein Seufzer. Er fragt jetzt nicht mehr, er hört nur noch zu. Und sagt schließlich resigniert, nach all den Jahren, in denen er die Stimmen der Konfliktparteien einfange, dämmere ihm nun doch, wie aussichtslos die Lage sei. Aufgeben wird er trotzdem nicht.

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