Wie gelingt guter Geschichtsunterricht?: „Die Interessen der Schüler ernst nehmen“
2014 wird der beiden Weltkriege und des Mauerfalls gedacht. Eine Herausforderung auch für den Geschichtsunterricht. Der Geschichtsdidaktiker Martin Lücke fordert im Interview Konzepte, die von der Lebenswelt der Jugendlichen ausgehen.
Herr Lücke, 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und 25 Jahre nach dem Mauerfall – wie kann der Geschichtsunterricht diese Daten des Mega-Gedenkjahrs abbilden?
Die Schule muss diesen Geschichtsboom aufgreifen, gerade weil sich jetzt so viele Gelegenheiten bieten und es durch Fernsehsendungen und Ausstellungen so ein reichhaltiges Angebot gibt, das man produktiv und sinnvoll nutzen kann. Der Geschichtsunterricht sollte das zum einen als Faktenspender nutzen, aber auch diskutieren, welche Geschichtskultur dahintersteht und welche Bilder, welche Emotionalität darüber transportiert werden.
Wie interessiert man Schüler für den Ersten Weltkrieg?
Vielleicht hört es sich zynisch an: Krieg interessiert Schülerinnen und Schüler fast immer, das ist beim Ersten Weltkrieg nicht anders. Schwieriger ist es, gerade den Ersten Weltkrieg als ein vielschichtiges Ereignis zu vermitteln: Gewalt kam in neuem Ausmaß vor, gleichzeitig gab es ganz neue Herausforderungen an der sogenannten „Heimatfront“, und gesellschaftspolitisch endete der Krieg mit einer Revolution, die zur ersten deutschen Demokratie führte. Man muss Schüler für diese Vielschichtigkeit eines historischen Ereignisses begeistern, jenseits von bloßem Kanonendonner.
Die neue KMK-Präsidentin Sylvia Löhrmann will die „Erinnerungskultur“ an den Schulen stärken. Welche Rolle spielen Besuche von Schülerinnen und Schülern in Gedenkstätten schon heute?
Gedenkstättenbesuche sind sehr gut etabliert, jedenfalls in Berlin. Im Rahmenlehrplan ist vorgesehen, am Ende der Mittelstufe oder in der Oberstufe etwa die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen in Oranienburg oder die Stasiopfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen zu besuchen. Zur Erinnerungskultur gehören aber auch Archivbesuche wie im Landesarchiv, wo die sehr rege Museumspädagogik Workshops anbietet, und Schulprojekte zur Spurensuche im eigenen Kiez oder die Arbeit mit digitalen Zeitzeugen-Videos. Da lernen die Jugendlichen, wie Geschichte gemacht wird, wie es gelingt, sperrigen Quellen konkrete Geschichte zu entnehmen. Wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler zu authentischen Quellen jenseits des Unterrichtskanons vorstoßen.
Wie bereitet man Schüler auf den Besuch einer KZ-Gedenkstätte vor?
Es reicht nicht, einfach hinzugehen und einmal durch die Ausstellung zu laufen. Schüler, die nicht gut vorbereitet sind, lassen sich schnell von dem Ort gefangen nehmen. Sie sind dann nicht mehr in der Lage, die Eindrücke auch rational zu verarbeiten. Wichtig ist auch, genug Zeit für die unmittelbare Nachbereitung einzuplanen. Wenn die Jugendlichen nach dem Sachsenhausen-Besuch gleich wieder in die S-Bahn steigen, verpufft die Betroffenheit völlig und kommt später auch nicht mehr wieder. Sie brauchen Zeit, um nach der offiziellen Führung noch einmal allein über das Gelände zu gehen oder ihre Eindrücke in kleinen Gruppen nachzubereiten. Wichtig ist eine Balance zwischen Emotionen und rationaler Reflexion. Dazu ist in der schulischen Praxis leider oft nicht genug Muße.
Was ist heute das Ziel des schulischen Geschichtsunterrichts?
Es soll den Schülerinnen und Schülern historisches Lernen ermöglichen, ihnen über die Arbeit mit dem Schulgeschichtsbuch, mit verschiedenen Quellen, mit Aussagen von Zeitzeugen und über Gedenkstättenbesuche ein ganzheitliches Konzept von Geschichte vermitteln. Es geht darum, konkrete Erfahrungen mit Geschichte zu machen, aber auch darum, über sie zu reflektieren und mit anderen Erkenntnissen abzugleichen. Opfersichtweisen, aber auch die Täterperspektiven, die in Gedenkstätten vermittelt werden, können die Jugendlichen so besser einordnen.
Wenn Schüler beim Durchgang durch die Weltgeschichte in der 10. Klasse beim Nationalsozialismus ankommen, sind sie von dem Thema häufig übersättigt. Wie ist das zu erklären?
Gerade der Nationalsozialismus ist in der Geschichtskultur relativ präsent, Schüler glauben früh, darüber schon viel zu wissen. Vor und neben der Geschichte bedienen sich auch andere Fächer an dem Thema. Es ist auch legitim, dass etwa in Ethik das Tagebuch der Anne Frank gelesen wird. Der Geschichtsunterricht, der chronologisch vorgeht, hat aber den letzten Zugriff, die NS-Zeit wird erst am Ende der 9. oder in der 10. Klasse erreicht.
Was ist zu tun?
Um etwa die Judenverfolgung im Nationalsozialismus systematisch aufzuzeigen – ein Anspruch, den Fächer wie Deutsch oder Ethik nicht haben –, müsste man das Thema im Geschichtsunterricht vorziehen. Ein chronologischer Unterricht ist mitunter auch festgefahren. Anhand unterschiedlicher Quellen über Täter, Opfer, Zuschauer und über Handlungsspielräume in Diktaturen nachdenken, das können auch schon 12-, 13-Jährige. Sie bearbeiten ja heute schon anspruchsvolle Quellen zum Mittelalter, warum nicht zum NS?
Ist es realistisch, die Chronologie aufzubrechen?
Kaum, man kann die Uhr ohnehin nicht auf null zurückstellen. Wenn der Nationalsozialismus also im Geschichtsunterricht Thema ist, muss erst einmal das Vorwissen der Schüler abgefragt werden. Im zweiten Schritt sollte es um ihre Interessen gehen. Da sagen viele, sie würden gerne was lernen zur Jugend im NS, zum Antisemitismus in der Schule. Schüler mit muslimischem Hintergrund fordern häufig, den Holocaust in andere historische Zusammenhänge einzubetten. Sie wollen wissen, warum es danach zur Gründung des Staates Israel gekommen ist. Darauf sollten die Lehrkräfte eingehen, ohne gleich zu unterstellen, dass latenter islamischer Antisemitismus dahinter steht. Hier hat die Schule vielmehr eine Chance, Dinge, die Schüler aus ihrem Umfeld erfahren haben, geradezurücken.
Schüler mit Zuwanderungshintergrund haben oft einen anderen Zugang zu deutscher Geschichte. Wie kann man damit umgehen?
Man muss ihre hybriden historischen Identitäten ernst nehmen. Sie verorten sich in verschiedenen Geschichtskulturen, etwa in Erzählungen türkischer Geschichte, in Migrationsgeschichte und in deutscher Geschichte. Von vielen wird die Holocaustgeschichte auch als eigene Geschichte gesehen. Hier gilt der Satz des Geschichtsdidaktikers Bodo von Borries: „Das Wissen um den Holocaust ist das Eintrittsbillett in die deutsche Gesellschaft.“
Gibt es auch neue thematische Zugänge, die bislang nicht im klassischen Kanon vorkommen, der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler aber nahe sind?
Wir sind es ja gewohnt, im Geschichtsunterricht fast nur Nationalgeschichte zu erzählen. Man könnte aber auch konsequent von den Lebenswelten der Jugendlichen ausgehen, fragen, welche Kategorien für sie eine Rolle spielen. Geschlecht und Sexualität? Da lässt sich beispielsweise mit einer Einheit zur Geschichte des Harems im Osmanischen Reich vieles über Konzepte von Sexualität und Geschlecht in anderen Kulturen vermitteln, etwa über die mächtige Rolle der Eunuchen im Herrschaftsgefüge des Harems und des Hofes.
Ein Sorgenkind der Schule scheint die DDR-Geschichte zu sein. Nach Studien des Forschungsverbunds SED-Staat an der FU haben ostdeutsche Schüler häufig ein verklärtes DDR-Bild. Was muss geschehen?
Gerade in Berlin und Brandenburg wurde in den vergangenen Jahren einiges aufgeholt, das Thema DDR im Lehrplan gestärkt. Der Forschungsverbundes hat zudem vernachlässigt, dass das Begriffswissen der Schüler unzureichend ist. So schätzten sie die DDR nicht als Diktatur ein, weil sie damit nur die NS-Zeit verbinden. Bis heute greift die Schule aber das Vorwissen aus den Elternhäusern nicht angemessen auf. Der Unterricht über die DDR darf auch nicht auf einen einfachen Diktaturvergleich mit dem Nationalsozialismus hinauslaufen, sondern muss immer als wechselweise Geschichte mit der Bundesrepublik betrachtet werden.
Das Gespräch führte Amory Burchard.
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