Energie der Zukunft: Der lange Weg zur Kernfusion
Im Versuchsreaktor Iter könnte 2025 das erste Plasma zünden. Dessen Nachfolger soll bereits Energie liefern. Auch über Alternativen wird nachgedacht.
Noch vor anderthalb Jahrhunderten brauchte ihn kein Mensch, heute jeder: elektrischen Strom. Die Anwendung von Elektrizität ist nach der Erfindung des Rades die vielleicht größte technologische Revolution überhaupt. Und sie geht weiter. Der Bedarf weltweit wird nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur (IEA) kontinuierlich steigen, trotz Energiesparlampen und Waschmaschinen mit A++. Um ihn zu decken, dürften bekannte Energiequellen – von Kohle über Kernkraft bis Wind – noch intensiver genutzt werden. Das stößt – von Treibhausgasen über Atommüll bis zum Protest gegen Windräder – allenthalben an Grenzen. Es ginge aber vielleicht auch anders. Nötig wäre dafür eine Revolution der Revolution: Stromerzeugung durch Kernfusion.
Out of Garching
Christian Vorpahl, 36, studierter Maschinenbauer, arbeitet daran. „Mich hat die Aussicht auf eine emissionsfreie, unerschöpfliche und sichere Energiequelle gereizt“, sagt er. Nach seiner Promotion zog er 2014 ins südfranzösische Cadarache, wo vor elf Jahren der Bau von Iter begann. Der Name steht für „Internationaler Thermonuklearer Experimental-Reaktor“.
Derzeit werden die Baukosten auf 20 Milliarden Euro geschätzt, von denen die Europäische Union gut ein Drittel trägt. In sieben Jahren soll das experimentelle Kraftwerk in Betrieb gehen und zehn Jahre später seine volle Funktionsfähigkeit erreichen. Dann würden in einem 5200 Tonnen schweren, elf Meter hohen, ringförmigen Schlauch mit einem Volumen von 1400 Kubikmetern Deuterium und Tritium zu Helium verschmelzen und Energie freisetzen.
Die Bewegungsenergie des Neutrons
Im frei werdenden Neutron – beziehungsweise in seiner Geschwindigkeit – steckt die Energie, die solche Kraftwerke nutzen sollen. Das Gas im Reaktor wird nur ein paar Gramm wiegen. Bei 200 Millionen Grad wird aus ihm ein leuchtendes Plasma. Das müssen dann starke supraleitende Magnete davon abhalten, die Wand zu berühren. In diesem Jahr soll das siebenstöckige Reaktorgebäude fertiggestellt werden.
Iter soll zehnmal mehr Energie erzeugen, als zum Aufheizen des Gases benötigt wird. Damit wäre dann nachgewiesen, dass Fusionsenergieerzeugung möglich ist.
Vorpahl war in der Iter-Zentrale vor allem für die Harmonisierung der Diagnostik zuständig. Mit rund 20 Systemen, die in verschiedenen Ländern entwickelt werden, wollen die Forscher das Plasma untersuchen. Zum Beispiel messen sie die Lage und Form des Magnetfelds, in dem das Plasma eingeschlossen ist, um bei Bedarf mit den Magneten nachsteuern zu können. Außerdem registrieren Sensoren die Dichte, Temperatur und eventuelle Verunreinigungen des Gases.
Planen ist gut, Flexibilität ist besser
Auf der Baustelle sei er kaum gewesen, sagt Vorpahl. Stattdessen habe er viel Zeit in Besprechungsräumen verbracht. Nicht selten ging es in den Besprechungen um eine Balance zwischen verlässlichen Vorgaben und Flexibilität: „Man sollte nicht alles bis ins letzte Detail planen und dann erst anfangen zu bauen“, sagt Vorpahl. „Man legt vielmehr das Design der großen Komponenten zuerst fest und das der kleineren im Laufe der Zeit.“ Die Diagnostik-Elemente etwa durften später geplant und gebaut werden, weil sie für das Design der Anlage nicht entscheidend waren. Die großen Bauteile wurden einfach mit einigen Leerräumen für die Diagnostik geplant, die nun gefüllt werden. Das erfordert eine gute Kommunikation zwischen den vielen Teams, die an den einzelnen Komponenten arbeiten.
Gleich zu Beginn der Konstruktionsarbeiten hatten sich Kosten und Bauzeit dramatisch erhöht. „Das drückt natürlich auf die Stimmung“, gibt Vorpahl zu. Doch er hofft auf den Iter-Generaldirektor Bernard Bigot, der 2015 das Amt übernahm. „Er setzt sich nach meinem Eindruck mit Erfolg dafür ein, die Trägheit dieser großen Organisation zu überwinden.“ Zum Beispiel bringe er die Vertreter der nationalen Einrichtungen - an Iter sind 35 Länder beteiligt - regelmäßig und in kurzen Abständen zusammen, um Entscheidungen voranzutreiben.
Back to Garching
Heute ist Vorpahl wieder in Garching bei München, wo er schon seine Doktorarbeit geschrieben hatte. Er arbeitet jetzt für das europäische Forschungskonsortium Eurofusion. Und er arbeitet nicht mehr an Iter, sondern an „Demo“. Demo steht für „Demonstration Power Plant“, Iters Nachfolger. Dieses Kraftwerk ist für Mitte des Jahrhunderts geplant. Während mit Iter noch Plasmaforschung betrieben und der Strom nur probeweise erzeugt werden wird, würde Demo dauerhaft einige hundert Megawatt ins Netz einspeisen. Außerdem soll es seinen Brennstoff teilweise selbst herstellen: das seltene Tritium. Denn ein Teil der bei der Kernverschmelzung frei werdenden Neutronen kann genutzt werden, um Lithium zu spalten. Dabei entsteht neben Helium auch Tritium. Der Hauptanteil der durch ihre Geschwindigkeit extrem energiereichen Neutronen würde aber genutzt, um in der Wand des Plasmagefäßes Wärme zu erzeugen, die dann einen Generator antreiben könnte.
Eurofusion koordiniert die europäischen Projekte für Demo. „Wir kümmern uns darum, dass die einzelnen Bauteile zu einem sicher funktionierenden Kraftwerk zusammengefügt werden können“, sagt Vorpahl. Zum Beispiel müssten die Magnete schlicht das richtige Feld erzeugen und an ihre Stromversorgung und Kühlung angeschlossen werden können. Noch ist offen, wie Demo konkret aufgebaut sein wird. In der Branche rechnet man damit, dass das Kraftwerk dasselbe Prinzip nutzt wie Iter: einen ringförmigen, Tokamak genannten Plasmabehälter. Denn dieses Konzept ist am weitesten entwickelt. Weltweit sind oder waren schon 200 dieser Anlagen im Betrieb.
Die geschrumpfte Alternative
In Greifswald dagegen läuft seit gut zwei Jahren der Fusionsreaktor Wendelstein 7-X, der auf dem Stellarator-Prinzip beruht. In Anlagen dieses Typs hat das Plasmagefäß eine kompliziert verschraubte Form, die schwerer herzustellen ist, aber den späteren Betrieb erleichtert. In der europäischen „Roadmap“ für die Kernfusion wird das Stellarator-Prinzip als „mögliche langfristige Alternative“ zum Tokamak bezeichnet.
Ein kürzlich in den USA vorgestelltes Konzept betrachtet Vorpahl hingegen skeptisch. Das Massachusetts Institute of Technology und die Firma Commonwealth Fusion Systems wollen mit neuartigen Magneten die Anlage verkleinern. Sie würde statt 1400 Kubikmeter nur noch 22 umfassen soll schon in 15 Jahren Strom erzeugen. Der Supraleiter Yttrium-Barium-Kupferoxid könnte diese kleinen und besonders leistungsfähigen Magnete möglich machen. Doch Vorpahl sagt, die Probleme tauchten „immer erst auf, wenn man sich die Details anschaut“. Eines könnte der Divertor sein. Er entfernt das Fusionsprodukt Helium aus dem Plasma und muss Hitze ertragen wie beim Start einer Rakete. „Wenn man die Anlage verkleinert, muss man bedenken, dass auch der Divertor auf kleinerer Fläche die gleiche Leistung und damit viel höhere Temperaturen aushalten muss.“
Ein Gläschen Sekt auf den Divertor
Derzeit sind für das Kraftwerk „Demo“ sieben Divertormodelle im Gespräch. Im Herbst wollen Vorpahl und seine Kollegen die Zahl der Konzepte auf ein bis zwei reduzieren. Dann wäre eine zentrale Herausforderung aus der europäischen Fusions-Roadmap gelöst: Es sei nicht klar, heißt es in dem 2014 veröffentlichten Papier, ob die bisherige Technologie einfach auf den Maßstab von Iter vergrößert werden könne. Im Herbst 2018 soll die Roadmap aktualisiert werden.
Bei den Magnetsystemen, für die Vorpahl ebenfalls zuständig ist, wird die Entscheidungsfindung für eines der derzeit vier Konzepte noch Jahre benötigen. Und wenn Demo in Betrieb geht, könnte der Ingenieur schon im Ruhestand sein. „Das ist natürlich eine spezielle Situation“, sagt er, „aber man kann auch schöne Zwischenerfolge feiern.“ Wenn es im Herbst gelingen sollte, die Zahl der alternativen Divertorkonzepte zu reduzieren, wäre das ein solcher Anlass für eine Flasche Sekt.
Doch die hohen Kosten, die langen Zeiträume und das Risiko des Scheiterns rufen auch Kritik hervor. Vor allem die Grünen in Berlin und in Brüssel zweifeln an Iter und Co.. Sie sprechen von einem „Milliardengrab ohne Aussicht auf nennenswerte Erfolge“. Selbst wenn die Technologie Mitte des Jahrhunderts zur Verfügung stünde, komme sie zu spät. „Bis dahin werden wir unsere Energieerzeugung längst vollständig auf erneuerbare Energien umgestellt haben müssen“, Wind- und Sonnenstrom würden dann „unschlagbar günstig“ sein, erklärten die Grünen im Bundestag Ende April am Jahrestag der Tschernobyl-Explosion.
Dieser Weg wird kein leichter sein
Vorpahl kann das nur teilweise nachvollziehen: „Wenn mit neuen Speichermethoden und dem richtigen Mix erneuerbarer Energien die weltweite Energiewende gelingt, werde ich der erste sein, der darüber jubelt", sagt er. Aber man solle die Fusionstechnik parallel dazu weiterentwickeln. „Wenn wir jetzt auf diesen Weg verzichten würden, um in 20 Jahren festzustellen, dass wir die Fusion gebraucht hätten, könnten wir diesen Fehler nicht mehr korrigieren.“
Passenderweise heißt Iter auf Latein „der Weg“. Vorpahl ist überzeugt, dass man ihn gehen muss. Wenn 2050 tatsächlich erstmals nutzbarer Fusionsstrom fließen sollte, wären seit dem ersten Schritt genau 100 Jahre vergangen. Denn 1950 stellten die sowjetischen Physiker Andrej Sacharow und Igor Tamm das Konzept eines Tokamak-Plasmabehälters erstmals vor. Ob es so „schnell“ gehen wird, weiß heute niemand. Der Weg von Iter und Co. ist ein schwieriger – und auf jeden Fall ein langer. Aber den Weg der Elektrizität geht die Menschheit ja auch erst seit gut 150 Jahren.
Das Prinzip der Kernfusion
In einem kommerziellen Fusionsreaktor sollen in einigen Jahrzehnten Deuterium und Tritium zu Helium verschmelzen. Die beiden Ausgangsstoffe sind Varianten des Wasserstoffs: Deuterium besitzt ein zusätzliches Neutron, Tritium besitzt zwei davon. Wenn die beiden Atome fusionieren, fliegt ein überschüssiges Neutron davon und es bleibt Helium zurück.
Es verschmelzen nur die Atomkerne, denn im aufgeheizten Gas sind die Elektronen längst eigenständig geworden und bilden nicht mehr die Hülle des Atoms. Weil die Atomkerne positiv geladen sind, stoßen sie sich ab. Doch wenn das Gas 200 Millionen Grad heiß ist, sind die Atomkerne schnell genug, um ihre elektrische Abstoßung zu überwinden.
Bei der Fusion wird eine Menge Energie frei, die vor allem in der Geschwindigkeit des Neutrons steckt. Die Teilchen werden in der Wand des Plasmagefäßes aufgefangen und heizen sie auf. Diese Energie kann genutzt werden, um einen Generator anzutreiben. Beim Versuchsreaktor Iter wird die Wand jedoch lediglich mit Wasser gekühlt.
Ein Teil der Neutronen kann genutzt werden, um Lithium zu spalten. Dabei entsteht neben Helium auch das seltene Tritium, das als Brennstoff genutzt werden kann. Die Wände des Fusionsreaktors sollen nach 100 oder 200 Jahren in ihrer Radioaktivität so weit abgeklungen sein, dass man sie recyceln kann.
Alexander Mäder