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Kompetent in Mathe. Über inhaltliche und methodische Schwächen des Unterrichts gibt es Streit.
©  Imago/Imagebroker/Michael Weber

Brandbrief gegen Bildungsstandards: Der Aufstand der Mathelehrer

Ein Brandbrief von mehr als 130 Professoren und Lehrkräften kritisiert die mangelnde Qualität des Mathematik-Unterrichts: Die Schüler können immer weniger, sagen die Verfasser.

Rund 130 Professoren und Mathematiklehrkräfte kritisieren in einem offenen Brief massiv die Qualität des Mathematikunterrichts. Der Schulstoff sei so weit „ausgedünnt worden“, „dass das mathematische Vorwissen von vielen Studienanfängern nicht mehr für ein WiMINT-Studium ausreicht“, schreiben sie. Die Abkürzung WiMINT steht für Wirtschaft, Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. „Den Studienanfängern fehlen Mathematikkenntnisse aus dem Mittelstufenstoff, sogar schon Bruchrechnung (!), Potenz- und Wurzelrechnung, binomische Formeln, Logarithmen, Termumformungen, Elementargeometrie und Trigonometrie“, erklären die Erstunterzeichner (hier der Brief in voller Länge).

Die Ursache dafür sehen sie in den bundesweit geltenden Bildungsstandards. Diese waren in den Jahren nach dem Pisa-Schock im Jahr 2001 sukzessive für verschiedene Kernfächer eingeführt worden, als bundesweite Messlatten für Schülerleistungen. Zugleich sollten sie den Unterricht so verändern, dass die Schüler Wissen nicht bloß reproduzieren, sondern anwenden können. Eben diese „Kompetenzorientierung“ machen die Unterzeichner nun aber verantwortlich für die von ihnen gesehene „Entfachlichung“ des Mathematikunterrichts.

Der Brief mit dem Datum 17. März ist unter anderem adressiert an die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Susanne Eisenmann sowie an die Bildungsminister von Niedersachsen, Hamburg und Hessen, an Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) sowie an mehrere Bildungsforscher, darunter Petra Stanat, Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Das an der Humboldt-Universität angesiedelte IQB entwickelt die Bildungsstandards und führt die großen Ländervergleiche durch, mit denen ihre Einhaltung überprüft wird.

Aus Sicht der Kultusminister geht die Kritik "ins Leere"

IQB-Direktorin Petra Stanat erklärte auf Anfrage, bestimmt fehlten vielen Studierenden Basiskompetenzen. Allerdings hänge dies nicht mit den Bildungsstandards zusammen: „Dass dies etwas mit der Kompetenzorientierung im Schulunterricht zu tun hat, widerspricht den empirischen Befunden“, sagte Stanat. Sie berief sich auf die Ergebnisse der Pisa-Studie: Im Jahr 2000 waren die deutschen Ergebnisse in Mathematik im internationalen Vergleich schwach. Damals gab es die Bildungsstandards aber noch gar nicht, wie Stanat betonte: „ Erst nach ihrer Einführung haben wir in Mathematik allmählich Leistungssteigerungen gesehen.“

Auch aus der Sicht der Kultusministerkonferenz (KMK) geht die Kritik an der Kompetenzorientierung „ins Leere“. Sie sei durch Fachwissenschaftler, Fachdidaktiker und Bildungswissenschaftler aufgebracht worden, erklärte KMK-Präsidentin Susanne Eisenmann (CDU) auf Anfrage. Weil zudem die neuen Aufgaben von Mathematikern entwickelt wurden, „ist dieser Brief auch eine Kritik an der eigenen Zunft“. Gleichwohl werde sich die KMK „die Zeit nehmen, die Zusammenhänge aller Inhalte des offenen Briefes zu prüfen“. Bildungsministerin Wanka wollte sich zu den Vorwürfen nicht äußern.

Vielen Studierenden fehlen die Mindestvoraussetzungen in Mathematik, meinen die Erstunterzeichner des offenen Briefes: Der Stoff werde nur noch „häppchenweise ,angeboten’ und nicht ausreichend vernetzt“, schreiben die Professoren verschiedener Disziplinen, darunter auch Mathematiker, sowie eine Reihe von Lehrkräften - auch aus Berlin, wo ebenfalls seit längerem der Verfall des Anspruchsniveaus beklagt wird..  

IQB-Chefin Stanat: Fachwissen und Kompetenz gehören zusammen

Damit wäre genau das Gegenteil von dem erreicht, was die nach dem Pisa-Schock eingeführten Bildungsstandards in den Kernfächern eigentlich bewirken sollten. Der Unterricht sollte mittels der Standards weg von der „Input-Orientierung“ – die Schüler reproduzieren bloß vorgegebenes Wissen – und hin zur „Kompetenzorientierung“ entwickelt werden: Die Schüler sollten Wissen anwenden können.

IQB-Direktorin Petra Stanat kann die Kritik denn auch nicht nachvollziehen: „Das Ziel ist gerade, dass das mathematische Verständnis vertieft abgeprüft wird“, sagt sie: „Die Dichotomie Fachwissen versus Kompetenz ist falsch“, sagt Stanat. „Beides gehört zusammen.“ Allerdings gebe es natürlich immer gut gemachte Aufgaben und schlecht gemachte Aufgaben: „Und es ist anspruchsvoll, gute kompetenzorientierte Aufgaben zu entwickeln.“

Die Unterzeichner des Briefes fordern gleichwohl, an „Deutschlands Schulen wieder zu einer an fachlichen Inhalten orientierten Mathematikausbildung zurückzukehren“, „wichtige Grundlageninhalte wie Bruch- und Wurzelgleichungen, Potenzen mit rationalen Exponenten, ausreichend Elementargeometrie und Trigonometrie wieder in die Lehrpläne aufzunehmen“, den Einsatz von Taschenrechnern so zu beschränken, dass er die „Routinegewinnung, etwa in der Bruchrechnung“, nicht stört und in Abiturklausuren „anstelle von Modellierungsaufgaben wieder Aufgaben mit inhaltlich-fachlicher Ausrichtung“ zu stellen.

Anlass sind Vorgänge rund um das Mathe-Abi in Hamburg

Als Anlass für den Brief nennen die Verfasser Vorgänge rund um das Mathematik-Abitur in Hamburg und Niedersachsen. In Hamburg geht es um eine Probeklausur für das Abitur, die Zwölftklässler Mitte Dezember 2016 schreiben mussten. Die Klausuraufgaben waren den Beispielaufgaben nachempfunden, die das IQB als Vorlagen für den bundesweiten Abiturpool entwickelt hat. Die Schülerinnen und Schüler erreichten dabei lediglich eine Durchschnittsnote von 3,9.

Schulsenator Ties Rabe ordnete daraufhin an, dass die Zensuren um eine ganze Note angehoben werden. Zudem wurden die Schulen aufgefordert, zusätzliche Übungsstunden anzubieten. In Niedersachsen hatte das Ministerium beim Mathe-Abitur im vergangenen Jahr den Bewertungsmaßstab um 12,5 Prozent abgesenkt, nachdem es massive Beschwerden über zu schwere Aufgaben gab.

Die Unterzeichner des Briefes führen die Schwierigkeiten der Schüler darauf zurück, dass sie die komplizierte Formulierung der Aufgaben überforderte und sie dadurch kaum zum mathematischen Kern durchdrangen.

"Karnevalistisch verkleidete Aufgaben" - woran selbst Studierende scheitern

Schule ändert sich - auch der Matheunterricht.
Schule ändert sich - auch der Matheunterricht.
© Sebastian Kahnert/dpa

Eben darum geht es der Mitunterzeichnerin Angela Schwenk, Mathematik-Professorin an der Berliner Beuth-Hochschule. So werde etwa in einer Berliner Abituraufgabe eine Geradengleichung, bei der sich zwei Geraden im Raum treffen, deren Schnittpunkt sowie der Schnittwinkel berechnet werden sollen, „karnevalistisch verkleidet“. „Da gleiten dann ein Raubvogel und ein Singvogel über den Frühnebel. Das ist aber ein an den Haaren herbeigezogener Anwendungsbezug, schon weil Vögel nicht geradlinig fliegen“, kritisiert Schwenk. Die Schüler müssten eine komplizierte, unlogische Erzählung erst auf ihren mathematischen Kern zurückführen.

Sind also die Bildungsstandards für einen möglichen Niedergang der Ansprüche in Mathe verantwortlich, wie es in dem offenen Brief dargestellt wird? IQB-Direktorin Stanat sagt: „In der Abiturprüfung sind die Standards ja erst jetzt angekommen. Der erste Abiturdurchgang, der auf den Bildungsstandards basiert, und in dem auch Mathematikaufgaben aus dem Pool genommen werden können, findet erst im Jahr 2017 statt.“ Stanat betont auch, dass die Bildungsstandards für das Abitur im Fach Mathematik sehr anspruchsvoll sind.

Der erste Abi-Jahrgang wird nach den Standards geprüft

Den gemeinsamen Aufgabenpool für das Abitur haben die Länder seit langem vorbereitet. Anders als die Verfasser des Briefes insinuieren, kann Hamburg darüber aber seine Aufgaben nicht anderen Ländern überhelfen. Ganz im Gegenteil speisen alle Länder Aufgaben in den Pool ein, keines ist aber verpflichtet, sich daraus zu bedienen. Und die Länder können – und werden – weiterhin eigene Aufgaben einsetzen. Das IQB überwacht zudem die Pool-Aufgaben und sorgt für ein einheitliches Niveau.

Kristina Reiss, Professorin für Mathematikdidaktik an der TU München und Projektmanagerin der Pisa-Studie, nennt die in dem Brief geäußerten Vorwürfe gegen die Bildungsstandards „pauschal“ und „ganz schwer zu halten“: „Die Unterzeichner widersprechen sich auch selbst. Sie fordern mehr symbolische und technische Elemente im Mathematikunterricht. Aber damit zitieren sie die Bildungsstandards“, sagt Reiss. Und: „Bei Pisa wird Bruchrechnen durchaus überprüft.“

Die Hochschulen müssen sich wandeln, sagt Matheprofessorin Reiss

Allerdings solle es inzwischen nicht mehr darum gehen, was unterrichtet wird, sondern was gelernt wird. Kompetenzorientierung bedeute dabei nicht, „dass man triviale Anwendungsaufgaben stellt“. Reiss kritisiert, die Hochschulen würden sich nicht genug auf den Wandel einlassen: „Es ist ein fundamentales Missverständnis, dass die Schule die Schüler studierfertig abzuliefern hat. Die Schule ändert sich, weil ihre Bedingungen sich ändern. Auch der Fremdsprachenunterricht hat sich geändert. Es geht nicht mehr darum, die Grammatik zu beherrschen, sondern darum, sich ausdrücken zu können“, sagt sie.

Die Hochschule könne also auch nicht einfach Analysis und Algebra verlangen wie vor 20 Jahren: „Wir an der TU München holen die Studienanfänger da ab, wo sie stehen.“ Dass Studienanfänger inzwischen keine Bruchrechnung mehr könnten, sei nicht zu erkennen. Vor allem seien die von Unterzeichnern angeführten Aufgaben „genau solche, die man in der Regel heute nicht mehr im Studium braucht – und wenn man sie braucht, kann man sie sich aneignen.“

Die Schülerinnen und Schüler werden in Mathematik immer schwächer: Die Pisa-Studie belegt das Gegenteil, es ging kontinuierlich bergauf. Erst bei der jüngsten Studie aus dem Jahr 2015 gab es in dem Fach erstmals eine Stagnation, dennoch liegt Deutschland weiter signifikant über dem Schnitt der OECD-Staaten. Explizit würdigten die Bildungsforscher, dass hierzulande eine „kognitiv anregende und reichhaltige Aufgabenkultur“ entwickelt wurde, die dazu beigetragen habe, dass sich insbesondere schwächere Schüler verbesserten.

Wer ist an Abbrecherzahlen in Ingenieurwissenschaften schuld?

Dass sich laut Pisa die Schüler in Mathe verbessert haben, schlägt sich jedenfalls nicht in dem „Eingangstest“ nieder, mit dem an der Beuth-Hochschule Studienanfänger Mathematikaufgaben auf dem Niveau bis zur 10. Klasse lösen. Zuletzt schafften es nur 13 Prozent, 40 Prozent der Gesamtpunktzahl zu erreichen. Im Jahr 2000 waren es immerhin noch 40 Prozent. Den Studieren fehle „die mathematische Lesekompetenz“, also die Fähigkeit, komplexe Gleichungen eigenständig zu lösen und Formeln anzuwenden, sagt die Matheprofessorin Schwenk. Die Folge: Sie fallen durch die Mathematikprüfungen – manche brechen ihr Studium ab.

Für hohe Abbrecherquoten gerügt würden dann die Ingenieurwissenschaften, klagt Bernd Schinke, Professor für Verfahrens- und Chemietechnik an der Hochschule Mannheim und Vorsitzender des Dachverbandes der Fachbereichstage der FHen, der den Brief mit unterzeichnet hat. Schuld seien aber nicht die Hochschulen, sondern der Mathematikunterricht – und die Studierenden. Gerade diejenigen, die es am nötigsten haben, würden die angebotenen Vorkurse in Mathematik häufig gar nicht besuchen.

Günter Ziegler, Mathematikprofessor an der FU und Mitglied im Präsidium der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, hat den Brief nicht unterschrieben. In der „aufgeheizten Debatte“ sei es nicht leicht, die Ursachen für bestehende Missstände zu ergründen, und „unideologisch und unaufgeregt“ über den Lehrstoff und Lehr- wie Prüfungsmethoden nachzudenken, sagt er. Es müsse zu einer guten Balance zwischen Wissen und Kompetenz gefunden werden. Wenn Studierenden Grundlagen fehlten, könne dies aber auch damit zu tun haben, dass es nicht genug Zeit in der Schule gebe, diese über die Jahre hinweg aufzubauen und sie immer wieder zu wiederholen.

Das Wasser in der Gurke: Hier finden Sie Beispielaufgaben, an denen Studienanfänger häufig schon scheitern.

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