Zika in Brasilien: Das Zika-Rätsel
Verursacht das Zika-Virus eine Mikrozephalie bei Neugeborenen? Diesen Zusammenhang zu beweisen, ist nicht einfach. Ein Besuch bei zwei Forschern in Brasilien.
Dafne Gandelman Horovitz zückt ihr Smartphone und öffnet den Foto-Ordner. „Schauen Sie“, sagt die Genforscherin, die sich auf seltene Erkrankungen spezialisiert hat. „Die Gehirne dieser Babys sind komplett zurückgeblieben.“ Die Bilder, die Gandelman auf ihrem Handy hin- und herschiebt, sind Computertomografien von Neugeborenen mit Mikrozephalie. Das heißt, dass die Babys äußerlich einen zu kleinen, nach oben hin spitz zulaufenden Schädel mit einem Umfang unter 32 Zentimetern haben.
Das eigentliche Problem ist jedoch ihr unvollständig entwickeltes Gehirn. Gandelman deutet auf die schwarzen Flächen, die sich zwischen der hellen Hirnmasse und dem Schädelrand befinden. „Die müssten ausgefüllt sein.“ Auch die typischen Windungen des Gehirns fehlen. Die Genetikerin wischt zu einem weiteren Bild. Dort sieht man milchige Flecken in einem Kinderhirn. „Verkalkungen“, konstatiert die Ärztin. „Diese Kinder haben keine Entwicklungschancen.“
Eine Grippe ist schlimmer als Zika - wären da nicht die Babys mit Mikrozephalie
Dafne Gandelman sitzt in ihrem Büro in Rio de Janeiros Institut für die Gesundheit von Frauen und Kindern Fernandes Figueira, sie trägt ein luftiges rotes Kleid und Espandrillas. Sieben Babys mit Mikrozephalie sind seit dem 6. Dezember 2015 allein in ihrer Klinik zur Welt gekommen. Die Spezialistin war vorgewarnt. Denn im Nordosten Brasiliens hatte man damals schon mehr als 1000 Kinder mit Verdacht auf die Behinderung registriert – in einem normalen Jahr sind es rund 150 Fälle landesweit (bei rund drei Millionen Geburten). Aber 2015 und 2016 sind in Brasilien keine normalen Jahre. „Es war ja nur eine Frage der Zeit, bis wir es mit einer Epidemie zu tun kriegen“, sagt Gandelman.
Das Zika-Virus verbreitet sich derzeit explosionsartig. In 26 Ländern und Territorien des amerikanischen Doppelkontinents, zudem auf Samoa, Amerikanisch-Samoa, Tonga und den Kapverden haben sich Menschen mit dem Virus infiziert. Einer von fünf Erwachsenen, der von einer infizierten Aedes-Mücke gestochen wurde, bekommt Fieber, Muskelschmerzen sowie Hautausschlag. Die Krankheit gilt als harmlos, eine Grippe ist schlimmer. Aber wenn sich eine Schwangere mit Zika ansteckt, löst das wahrscheinlich die Fehlbildung bei ihrem Kind aus. Aufgrund dieses vermuteten Zusammenhangs hat die Weltgesundheitsorganisation WHO den internationalen Gesundheitsnotfall ausgerufen.
Hatte sich die Frau mit Zika infiziert? Oft gibt es darauf keine Antwort
„Das Schicksal der Familien beunruhigt uns“, sagt Bruce Aylward, der Direktor der WHO-Abteilung für Ausbrüche und Gesundheitsnotfälle. Aber zu beweisen, dass das Virus die Mikrozephalie verursacht, sei alles andere als einfach. Ein Anhaltspunkt: Virenerbgut wurde vereinzelt in Plazenta und im Fruchtwasser von Müttern und im Gehirn verstorbener Neugeborener gefunden. Auffällig sei zudem, dass es in den Epidemie-Gebieten Monate später zu einem Anstieg der Mikrozephalie-Verdachtsfälle komme.
Doch die Zahlen sind nicht eindeutig. In Brasilien sind bisher 4783 Verdachtsfälle von Mikrozephalie gezählt worden, rund 85 Prozent im armen Nordosten des Landes. Nun werden die Krankenakten nach und nach geprüft. Bisher wurden 709 Fälle verworfen, 404 der Babys haben tatsächlich einen zu kleinen Kopf. Bei 17 von ihnen konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass sich die Mutter während der Schwangerschaft mit dem Zika-Virus infiziert hatte.
Dieser Nachweis ist nicht einfach. Denn das Erbgut des Virus ist nur während der akuten Erkrankung im Blut zu finden. Untersuchen die Ärzte das Blut erst später, sind sie auf die Antikörper angewiesen, die das Immunsystem gebildet hat. Diese ähneln aber denen gegen das Dengue-Virus, das in Brasilien weitverbreitet ist. Im Moment kann kein Antikörper-Test zuverlässig zwischen beiden Erkrankungen unterscheiden.
Die Sorge um die Säuglinge lässt alle genauer hinschauen
„Wir rechnen landesweit mit einem starken Anstieg der Verdachtsfälle“, sagt Gandelman. Viele Mikrozephalie-Fälle seien noch gar nicht bekannt, wegen der unterschiedlichen Erfassungskriterien sowie Meldesysteme in Brasiliens 26 Bundesstaaten. Außerdem lässt die Sorge um die Säuglinge alle genauer hinschauen – und die Zahl der Meldungen steigt.
Ortswechsel. Rund eine Stunde Busfahrt von Gandelmans Institut liegt auf dem Weg zum internationalen Flughafen der ausgedehnte Campus der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (UFRJ). Hier, in einem geduckten Gebäude, arbeitet Marlos Melo Martins. Der 32-jährige Arzt ist Koordinator der Kinderneurologie der UFRJ. Kinder kommen hier zwar nicht zur Welt, aber es ist eine der wenigen Einrichtungen im Bundesstaat Rio de Janeiro, die Müttern mit Mikrozephalie-Kindern Beratung anbietet. Im Warteraum sitzen zwei Dutzend Frauen mit Kleinkindern, die eine geistige Behinderung haben. Einige der Mütter sind noch Teenager. Ein Mikrozephalie-Fall ist heute nicht dabei. Die Mütter, die er betreut, kämen teilweise tief aus dem Hinterland, führen acht Stunden mit dem Bus, sagt Martins. Bisher wurden mehr als 120 Verdachtsfälle auf Mikrozephalie im Bundesstaat Rio de Janeiro registriert.
„Wir stehen mit allem ganz am Anfang.“
Martins ist skeptisch, was Zika angeht. Er könne nicht hundertprozentig sagen, dass Zika Mikrozephalie verursache – auch wenn beide zusammenhingen, so viel sei schon klar. Martins spricht von viel zu vielen offenen Fragen, um klare Antworten geben zu können. „Wir stehen mit allem ganz am Anfang.“ Da seien zum Beispiel die Mütter, die in der Schwangerschaft unter Zika litten, aber völlig normale Babys zur Welt brächten. Er hegt den Verdacht, dass die Missbildungen etwas mit dem Zeitpunkt der Infektion zu tun haben. Ein Embryo sei in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft am anfälligsten für Missbildungen. Schließlich werde zu diesem Zeitpunkt das Nervensystem gebildet.
Das ist zunächst nicht mehr als eine These. Eine These, die – wie all die anderen – in den nächsten Wochen und Monaten in mühevoller Detektivarbeit überprüft wird. „Wir müssen dem auf den Grund gehen“, sagt auch WHO-Mann Aylward. Neben der Epidemiologie, die Virus und Mikrozephalie zeitlich und geografisch verbindet, gebe es drei weitere Studienarten, mit denen Forscher nun in Brasilien und bald in El Salvador und Kolumbien nach Antworten suchen. Zum einen wollen sie Kohorten von Schwangeren begleiten, alles dokumentieren, was ihre Schwangerschaft beeinflusst und dann die Babys untersuchen. Gab es Ko-Infektionen, zum Beispiel mit Dengue? Waren sie anderen Umweltfaktoren ausgesetzt, die ebenfalls eine Mikrozephalie verursachen könnten? Zum Zweiten wollen die Forscher in Fallkontrollstudien erkrankte und gesunde Babys vergleichen, die zur gleichen Zeit in den betroffenen Gebieten geboren wurden. Was unterscheidet die beiden Gruppen? Und zum Dritten werden Forscher wie Gandelman die Entwicklung und die Gesundheit der Kinder mit Mikrozephalie genau beobachten. Ihre Erkenntnisse publizieren sie in international anerkannten Fachzeitschriften, etwa der Wochenschrift der US-amerikanischen Seuchenbehörde CDC.
Viele Mütter haben den Eindruck, ihr Baby sei gesund
Gandelman, die gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern und Ärzten der brasilianischen „Zika-Taskforce“ angehört, hält den Zusammenhang zwischen Zika und Mikrozephalie für die plausibelste Erklärung. Eine Besonderheit der Mikrozephalie, die sie nun beobachte, sei der Grad der Zerstörung der Babyhirne. „Die Gehirne dieser Kinder sind noch stärker geschädigt, als wir es von der herkömmlichen Mikrozephalie kannten“, sagt sie. Die Hirnwindungen sind weniger ausgeprägt, die Hohlräume größer, die Verkalkungen stärker. Am Hinterkopf hätten die Kinder außergewöhnlich große Hautwülste, eine typische Erscheinung bei der Mikrozephalie. Zwar funktioniere das vegetative Nervensystem einwandfrei. Bei vielen Müttern erwecke das zunächst den Eindruck, ihr Baby sei im Grunde gesund. Aber sie werden immer und überall auf Hilfe angewiesen sein.
Die Forscherin hat sich etwas in Rage geredet und kommt auf ein heikles Thema zu sprechen: die Abtreibung. Diese ist in Brasilien verboten, nur nach einer Vergewaltigung und bei Gefahr für das Leben der Mutter ist sie legal. In den restlichen Fällen muss ein Richter entscheiden. Es sei schon vorgekommen, sagt Gandelman, dass die Abtreibung siamesischer Zwillinge richterlich untersagt worden sei. Sie könne es gut verstehen, wenn eine Schwangere einen Mikrozephalie-Fötus abtreiben wolle. Jede Frau müsse selbst entscheiden, was sie sich zumutet. Sie selbst werde vor einer richterlichen Entscheidung um ein Gutachten gebeten. „Ich werde dann sehr deutlich machen, wie gehandicapt diese Kinder sein werden“, sagt Gandelman. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie das brasilianische Abtreibungsverbot für absurd hält.
Die Kinder fördern? Dazu reichen die Kapazitäten nicht
Manche Kinder mit Mikrozephalie entwickelten gewisse Fähigkeiten und könnten eine gewissen Selbstständigkeit erreichen. Für die neuen Fälle schließt Gandelman das bisher aus. Nun heiße es immer, man müsse die Mikrozephalie-Babys stimulieren, ihre Hirne Reizen aussetzen, damit sie sich entwickeln können. „Aber nicht mal unser Institut hat die Kapazitäten dafür!“, sagt Gandelman. Das unterfinanzierte und vernachlässigte öffentliche Gesundheitssystem sei jetzt schon überfordert. „Am Ende bleiben die Probleme an den Müttern hängen – besonders an den ärmeren.“
- Mitarbeit: Jana Schlütter
Aktuelle Informationen zur Verbreitung des Zika-Virus finden Sie auf der Webseite des panamerikanischen Regionalbüros der WHO: http://www.paho.org/hq/