Wie Corona die Arbeitswelt verändert: Das Virus hat die Unsichtbaren sichtbar gemacht
Internationale Wissenschaftler untersuchen die Auswirkungen der Pandemie auf die globale Arbeit. Was überall auffällt: Die Krise verschärft bestehendes Unrecht.
Wie wirkt sich Corona auf die Arbeit von Menschen in verschiedenen Weltregionen aus? Ebnet das Virus eher Unterschiede ein, oder reißt die soziale Schere weiter auseinander? Dass die Pandemie kein großer Gleichmacher ist, wurde nun von einer Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Europa, Asien, Afrika, Nord- und Süd-Amerika bestätigt.
Diverse ehemalige Fellows des vom Bundesbildungsministerium finanzierten transnationalen Forschungskollegs „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“, kurz „re:work“, haben die fatalen Wirkungen des Virus auf die globale Arbeit untersucht.
Die Ergebnisse des in Buchform erscheinenden Gemeinschaftswerks „Corona and Work Around The Globe“, gefördert von der Berlin University Alliance (BUA), fallen düster aus: „Die Pandemie hat die extreme Verwundbarkeit von Millionen von Freiberuflern und Angestellten wie unterm Brennglas offenbart,“ sagt Andreas Eckert, Professor für Geschichte Afrikas an der HU Berlin, der das „re:work“- Projekt seit elf Jahren leitet.
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In Indien verhungern Menschen im Lockdown
Corona zeitige nicht grundsätzlich Neues – die Seuche verstärke meist bestehende Tendenzen. So habe sich zum Beispiel überall gezeigt, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter, die ohnehin am meisten ausgebeutet würden, von der Krise auch am heftigsten gebeutelt seien. Diese Bevölkerungsgruppen stünden aktuell ungleich schlimmer da als ohnehin schon, erklären die aus verschiedenen Disziplinen stammenden Forscherinnen und Forscher.
So gibt der Band zum Beispiel einen Einblick in das Schicksal hunderttausender indischer Wanderarbeiter, die teils auf den Straßen verhungert sind, nachdem ihre Arbeitgeber sie wegen Corona nicht mehr in die Werkshallen ließen und es außerdem kaum möglich war, noch Kleinhandel zu treiben. In Indien arbeiten über 80 Prozent der Menschen im informellen Sektor, viele auf dürftiger Tagelohnbasis – in ihren Tätigkeiten sind sie oftmals auf Mobilität angewiesen.
„Indien hat zeitweise einen rigiden Lockdown praktiziert, wodurch zahlreiche Menschen sich nicht mehr bewegen konnten, und damit plötzlich vor dem Nichts standen“, sagt Eckert. Wo Arbeitsverträge und soziale Sicherungsnetze fehlten, kämpften Menschen im Lockdown ums nackte Überleben.
Medizinische Versorgung nur für Reiche
Auch die Bewohner zahlreicher Favelas in Brasilien und anderen südamerikanischen Ländern bekämen die soziökonomischen Folgen der Seuche stärker zu spüren als ihre wohlhabenderen Landsleute. „Wenn diese Menschen Corona-bedingt zuhause bleiben würden, wäre die Ansteckungsgefahr dennoch sehr hoch, weil sie auf engstem Raum zusammenleben müssen“, sagt Eckert. Dabei sei es dort natürlich ohnehin keine Option, einfach im Homeoffice zu bleiben.
Viele Favela-Bewohner müssten sehr lange Wege in Kauf nehmen, um ihre überlebensnotwendige Arbeit – etwa als Hausangestellte der Oberschicht – verrichten zu können. Die weiten Arbeitsrouten gingen oft mit einem hohen Ansteckungsrisiko einher. Indessen gebe es für die Armen im Krankheitsfall kaum Zugang zu medizinischen Leistungen. In Südafrika und anderen Ländern des afrikanischen Kontinents sieht es ähnlich aus, resümieren die Autoren.
Eckert will die Auswirkungen der Pandemie auf die hiesige Arbeitswelt – etwa die Situation von Gastronomen und Kulturschaffenden, drohende Pleiten und Arbeitslosigkeit, oder die für viele Arbeitnehmerinnen nervenzehrende Homeoffice-Situation – keineswegs kleinreden. Es sei ihm aber wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass der sozioökonomische „Corona-Impact“ in vielen anderen Teilen der Erde noch ungleich dramatischer ausfalle.
Die Pandemie ist eine "Syndemie"
Dabei zeige sich die besondere Exponiertheit bestimmter Bevölkerungsgruppen nicht bloß im globalen Süden. So habe die Krise unter anderem ein grelles Schlaglicht auf das brutale Klassensystem der USA geworfen. „Die USA sind ein besonders drastisches Beispiel für einen hierarchisierten Zugang zum Gesundheitssystem“, sagt Eckert. Die Armen – allen voran Afroamerikaner und andere People of Colour – haben oftmals keinerlei Versicherungsschutz. Aufgrund von Arbeitsverhältnissen, die Abstandsregeln meist nahezu unmöglich machen, haben sie zugleich ein stark erhöhtes Ansteckungsrisiko.
Hinzu kommt, dass armutsbedingte Vorerkrankungen auch eine Infektion mit Covid-19 wahrscheinlicher machen – und im Fall der Erkrankung einen schwereren Verlauf. Nicht von ungefähr sprechen einige Kommentatoren mit Blick auf Corona inzwischen von einer synergetischen Epidemie, kurz Syndemie: Ein bestehendes Leiden begünstigt eben oftmals ein weiteres.
Menschenunwürdige Zustände in der Arbeitswelt gibt es indessen auch in Deutschland. So zeigte etwa der frühsommerliche Corona-Ausbruch in einer Fleischfabrik des Nahrungsmittelunternehmens Tönnies unter welchen unzumutbaren Bedingungen Menschen arbeiten müssen, damit Fleisch möglichst billig auf den Teller kommen kann.
„Die Coronakrise hat die eigentlich unsichtbaren, nun als systemrelevant erkannten Berufe kurzfristig sichtbar gemacht“, sagt Eckert. So auch das viel beklatschte Pflegepersonal, das tendenziell nach wie vor weiblich sei.
Frauen sind die Verliererinnen der Krise
Überhaupt seien Frauen (und junge Leute) jenseits aller regionalen Unterschiede die großen Verliererinnen der Krise. So hat der holländische Sozialhistoriker Marcel Van den Linden für den Band „Corona and Work Around The Globe“ die aktuellen Debatten um die Care-Wirtschaft untersucht.
Sein Befund: Zwar hätten den Pflegerinnen viele applaudiert – im Kampf um höhere Löhne stünden die in den kaputtgesparten Gesundheitssektoren zahlreicher Länder tätigen Frauen aber meistens alleine da. „Die Corona-Krise zeigt uns noch einmal in aller Klarheit die strukturellen Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaftsweise, besonders die verheerenden Folgen neoliberaler Sparpolitik, die das Gut der Gesundheit zur Ware gemacht hat“, sagt Andreas Eckert.
Was nun die jüngeren Generationen anbelangt, beobachten die Forscherinnen und Forscher in zahlreichen Ländern eine wachsende Resignation. Corona habe viele Perspektiven verdunkelt und Lebenspläne nicht aufgehen lassen. Hier gehe es nicht bloß um europäische Erstsemester, die Startschwierigkeiten mit ihrem digitalen Studium hätten.
In etlichen Ländern seien die ohnehin überfüllten Arbeitsmärkte durch die Krise weitestgehend abgeriegelt worden – selbst für die Jungen und Hochqualifizierten sei es etwa in vielen afrikanischen Ländern beinahe unmöglich, einen halbwegs lukrativen Job zu finden, sagt Eckert.
Düstere Aussichten - trotzdem Hoffnung
Ein weiterer Missstand, den die Forscherinnen und Forscher beobachten ist, dass tendenziell autoritäre Regime das Corona-Virus als willkommenen Vorwand benutzen, um Bürgerinnenrechte zu kassieren. Anders als in Deutschland, wo sogenannte „Querdenker“ und andere Verschwörungsideologen die seuchenpolitischen Maßnahmen in geschichtsklitternder Weise zum „Ermächtigungsgesetz“ umdeuten, bestehe in stark defekten Demokratien wie Indien, Brasilien oder Ungarn die reale Gefahr, dass Grundrechte dauerhaft geschleift würden, sagt Eckert.
Trotz des düsteren Panoramas, das die Forscherinnen und Forscher in ihrem Gemeinschaftswerk aufmachen, gebe es aber auch Hoffnung. Eben weil die Corona-Krise strukturelle Missstände so schonungslos offenlege, eröffne sich zugleich eine historische Chance, unsere sozial und ökologisch verheerende Wirtschaftsweise zu reformieren, meint Eckert.
Der Historiker macht sich indes keine Illusionen über den Weg zu einem nachhaltigen Wandel: „Verbesserungen in den Arbeitsbeziehungen entwuchsen selten der Einsicht kapitalistischer Unternehmer – vielmehr mussten sie politisch erkämpft werden“.