Von Finanzcrash bis Klimakatastrophe: Es ist der Kapitalismus, der die Krisen anheizt
Kritische Theorie, reloaded: Die Philosophinnen Nancy Fraser und Rahel Jaeggi diskutieren die inneren Widersprüche einer ausbeuterischen Gesellschaftsordnung.
Der Ausnahmezustand scheint die neue Normalität zu sein. Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakatastrophe – ohne Atempausen taumelt die Weltgesellschaft von einer Kalamität in die nächste.
Dass der notorische Krisenzustand womöglich etwas mit der Gesellschaftsform zu tun hat, die wir als Kapitalismus bezeichnen, ist auch im Pandemie-Diskurs Thema.
Im Angesicht kaputtgesparter Gesundheitssysteme, die etwa in Südeuropa hohe Sterberaten mitverursachen, wächst die Kritik an einem System, dem Mehrwert mehr wert ist als Menschenleben.
Die beiden politischen Philosophinnen Nancy Fraser und Rahel Jaeggi versuchen den tiefenstrukturellen Widersprüchen des Kapitalismus – der ihrer Auffassung nach nicht nur notorisch krisenanfällig und moralisch unzumutbar ist, sondern auch grundfalsche Lebensweisen zeitigt – seit vielen Jahren auf den Grund zu gehen. Nun ist ihr vor einiger Zeit auf Englisch geführter Dialog über Begriff, Geschichte und Kritik des Kapitalismus zur passenden Zeit auf Deutsch erschienen.
Denn Krisen, darin sind sich die an der New Yorker New School For Social Research lehrende Fraser und die an der HU lehrende Jaeggi einig, können historische Kippmomente sein.
Dunkle Mechanismen der Höllenmaschine
Ausgangspunkt ihrer Debatte ist die Einsicht, dass intellektuelle Kapitalismuskritik heute nur noch als linksliberale Schwundstufe einer ehedem stolzen Tradition existiert.
Unter dem Einfluss von John Rawls und des von ihm begründeten egalitären Liberalismus sei linkes Denken heute mehr oder weniger auf ungerechte Verteilung fokussiert. Die dunklen Mechanismen der Höllenmaschine, die diese Effekte systemisch produziert, würden dabei kaum noch in den Blick genommen. Eine kritische Theorie aber, die dieses Namens würdig ist, dürfe nicht bloß an der Oberfläche kratzen, sie müsse das System als Ganzes durchdringen.
[Nancy Fraser, Rahel Jaeggi: Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp, Berlin 2020. 329 S., 24 €.]
Mit dem Ziel, die kritische Theorie als „intellektuelle Seite der Revolution“ (Max Horkheimer) zu neuer Blüte zu führen, starten die beiden mit einem orthodoxen Kapitalismusbegriff in bester marxscher Tradition.
Arbeiter sind verdammt, ihre Arbeitskraft am Markt zu verkaufen
Kapitalistisch verfasste Gesellschaften, so die beiden Denkerinnen, zeichnen sich stets durch eine Klassenaufteilung von Eigentümern und Produzenten und eine institutionalisierte Vermarktung von Lohnarbeit aus.
Ferner seien der strukturelle Zwang zur unermüdlichen Selbsterweiterung des Kapitals und die Privatisierung gesellschaftlicher Überschüsse maßgeblich.
Kurz: Arbeiterinnen und Arbeiter sind dazu verdammt, ihre Arbeitskraft am Markt zu verkaufen. Was sie an Mehrwert produzieren, landet im nimmersatten Schlund des Kapitals. Wie schon Marx erklärte, lässt sich Letzteres als geronnene oder tote Arbeit definieren, die sich lebendige Arbeit einverleibt.
Kapitalismus als „institutionalisierte Gesellschaftsordnung“
Die klassische Kapitalismusanalyse eines Karl Polanyi hielt die Existenz von Märkten hierbei nicht für das entscheidende Kriterium. Kennzeichnend sei deren Totalisierung. So ergab sich ein dualistisches Modell, in dem eine eigentlich gute Lebenswelt vom Regime der Ökonomie kolonisiert und deren Gesetzen unterworfen wird.
Fraser und Jaeggi verwerfen den Polanyischen Dualismus ebenso wie andere Basis-Überbau-Modelle, die die Ökonomie als den bestimmenden Faktor erachten und jenseits davon bloß „Nebenwidersprüche“ sehen.
Jaeggi bringt erneut ihren Begriff der „Lebensform“ ins Spiel, der das Ökonomische nur als Teilbereich eines umfangreicheren Ensembles gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Praktiken begreift.
Fraser möchte den Kapitalismus hingegen als „institutionalisierte Gesellschaftsordnung“ verstanden wissen, in der vielfach verwobene Ebenen miteinander in Spannung geraten.
Umfassende Kritik der Lebensform Kapitalismus
Schade ist, dass die beiden Konzepte nicht gleichberechtigt diskutiert werden: Nancy Fraser gibt den Ton an. Das mag auch daran liegen, dass Jaeggis Begriffsapparat zahlreiche Unschärfen aufweist. So avanciert sie zumindest in den ersten beiden der vier Kapitel zur dienstfertigen Stichwortgeberin ihrer älteren Kollegin.
Erst im dritten Kapitel kommt Jaeggi aus der Deckung: Hier geht es um eine umfassende Kritik der Lebensform Kapitalismus. Neben systematische Ungerechtigkeit und lebensverarmende Entfremdung tritt die notorische Krisenanfälligkeit des Systems und seine Unfähigkeit, die von ihm hervorgebrachten Probleme zu lösen.
Zwar sei der Kapitalismus immer wieder mutiert, jedoch ohne seine tiefenstrukturellen Widersprüche anzugehen. Die formale Kritik ist für Jaeggi auch deshalb nötig, weil sie sich auf keinen Fall zu essenzialistischen Bestimmungen des guten Lebens versteigen möchte, die sie bei den konservativen und faschistischen Kapitalismuskritikern verortet.
Der Kapitalismus untergräbt seine Bedingungen
So wohltuend es ist, dass sie nicht die Rückkehr zu einer unschuldigen Lebenswelt propagiert, die vom bösen Kapitalismus korrumpiert wurde – das Modell einer „irrationalen Gesellschaftsordnung“, die Lernprozesse permanent blockiert, bleibt skizzenhaft.
Frasers analytisches Besteck ist schärfer. Die Stärke ihres Ansatzes besteht vor allem darin, einen stimmigen Dreiklang der Analysekategorien class, race und gender zu präsentieren. So sei die kapitalistische Wirtschaftsweise von Bedingungen abhängig, die einerseits vampirartig ausgesaugt, andererseits chronisch verleugnet würden.
Zu allen Zeiten seiner bewegten Geschichte trenne der Kapitalismus die Sphäre der Produktion von jener der sozialen Reproduktion, die Ökonomie vom Gemeinwesen, die menschliche Gesellschaft von der nichtmenschlichen Natur und die juristisch legitimierte Ausbeutung im Zentrum (globaler Norden) von der Enteignung an der Peripherie (globaler Süden).
Die Wirtschaft ist auf Raubbau angewiesen
Die kapitalistische Wirtschaft, so Fraser, ist auf Wertschöpfung im Hintergrund angewiesen, auf Ebenen, die sie, wie beim Raubbau am Planeten, als kostenlose „Inputs“ betrachtet.
Nun sei die Achse Produktion/Reproduktion historisch mit der Trennung der Geschlechter verschränkt, wohingegen die Achse Ausbeutung/Enteignung mit Rassifizierung zusammenfällt.
So konnten die weißen Arbeiter stets nur deshalb ausgebeutet werden, weil sich die Arbeitskraft in den Armen ihrer unbezahlten Ehefrauen notdürftig regenerieren konnte.
Eine Allianz der Geknechteten
Zugleich habe sich der Kapitalismus ihre Bezahlung mit einem bis heute andauernden Raubzug durch den globalen Süden und die fortlaufende Enteignung von als nichtweiß markierten Menschen erkauft.
Patriarchat und Fremdenfeindlichkeit, geben Fraser und Jaeggi zu, hat es auch vor dem Kapitalismus gegeben – erst dieser aber hat Sexismus und Rassismus in sein institutionelles Gefüge gemeißelt.
Für all seine Spielarten – vom Merkantilismus über den sogenannten „liberalen“ Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und den staatlich verwalteten, sozialdemokratischen Kapitalismus, der in der Nachkriegszeit seine Hochphase hatte, bis zum neoliberalen, „finanzialisierten“ Kapitalismus der Gegenwart, seien diese Trennungen gegeben.
Frasers Vision besteht nun darin, den Kampf der Arbeiterklasse mit den an diesen Trennlinien entstehenden Grenzkämpfen zu harmonisieren, um eine progressive Allianz der Geknechteten zu schmieden, die eine egalitäre Verteilungs- mit einer inklusiven Anerkennungspolitik verbindet.
Emanzipation von Minderheiten blieb außen vor
Die letzten beiden kapitalistischen Regime hätten andere Bündnisse hervorgebracht. In der Zeit des staatlich verwalteten Kapitalismus habe sich das Kapital mit einer teilweise egalitären Verteilungspolitik verklammert, um die weiße westliche Arbeiterschaft zurück in den Schoß des Systems zu führen.
So war es zwar möglich, die (weiße) Familie von einem einzigen Einkommen zu ernähren – die Emanzipation von Minderheiten blieb jedoch außen vor.
Fatalerweise – und das ist Frasers vieldiskutierte Pointe – habe sich im Nachfolgeregime des „progressiven Neoliberalismus“ eine neue Allianz gebildet: Die Emanzipation sei mit dem Kapital ins Bett gestiegen, eine gerechte Verteilungspolitik mit dem neoliberalen Raubbau am Gemeinwesen hingegen völlig zum Erliegen gekommen.
Analyse aus einer US-dominierten Perspektive
Die weltweiten Landgewinne rechtsreaktionärer Gruppierungen wertet Fraser als allergische Reaktion auf die Hochzeit von Emanzipation und Kapital.
Jetzt gebe es zwar vereinzelt Frauen, Schwarze und Homosexuelle in Führungsetagen (ohne dass die strukturellen Gründe ihrer nach wie vor bestehenden Benachteiligung beseitigt worden wären). Die Ausbeutung aber läuft im Zeitalter der „McJobs“ ohne jeden Puffer ab.
So vielversprechend das von Fraser in Aussicht gestellte Bündnis von gerechter Verteilung und fortschrittlicher Anerkennung klingt – empirisch ist es derzeit wenig wahrscheinlich. Problematisch ist nicht nur, dass Frasers weltumspannende Analyse von einer US-dominierten Perspektive aus geführt wird.
Krisensymptome können sich verstetigen
Ihr Beißreflex gegen alles Liberale und das Frohlocken über den Niedergang des „progressiven Neoliberalismus“, das mit der Darstellung eines Donald Trump und anderer Protofaschisten als Symptomen einer krisengebeutelten Zeit korreliert, könnte sich als Bumerang erweisen.
Die Geschichte beweist, dass sich Symptome verstetigen können. Ja, Krisen stellen Kippmomente dar. In welche Richtung die Gesellschaft dann schwenkt, ist aber offen. Vielleicht reüssiert Frasers gegenhegemonialer Block – vielleicht aber kommt es noch schlimmer, als es ist.