Hilferuf von Schülern: Bildungsforscher fordern Offensive
Die alarmierende Bestandsaufnahme von Berliner Schülern zu Homeschooling und Lockdown stufen Expert:innen als relevant ein.
Berichte von Berliner Oberschülern zur Überforderung mit Homeschooling und der Situation des Lockdowns haben für Aufsehen gesorgt. Schülervertreter einer Schule in Tempelhof-Schöneberg hatten knapp 100 Antworten von Mitschüler:innen zur Frage nach dem Befinden in der Coronakrise an die Presse weitergegeben, um die Öffentlichkeit für die Lage der Schüler in Zeiten des Homeschooling zu sensibilisieren. Publik wurde so ein verstörendes Schlaglicht auf die Stimmungslage unter Oberschülern nach zehn Wochen Lockdown.
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Aus den Worten der Schüler:innen spricht vor allem ein Gefühl von Überforderung. Sie berichten von permanentem Leistungsdruck, Aufgaben, die sie häufig in unkoordiniertem Umfang erreichen – auch außerhalb der üblichen Unterrichtszeiten und an allen Wochentagen.
Vielen von ihnen fehlen auch Ansprechpartner und Austausch - gerade auch dann, wenn die Eltern nicht dazu in der Lage sind bzw. keine Zeit haben zu helfen. Andere berichten auch davon, dass ihre kleinen Geschwister aufgegeben haben.
Solche individuellen Äußerungen werden in der Bildungsforschung bislang noch kaum empirisch widergespiegelt. Doch die benannten Probleme sind vielen Forschenden auch aus eigener Erfahrungen bekannt.
Hilferuf, dass Schule im Lockdown nicht funktioniert
Der Potsdamer Bildungsforscher Wilfried Schubarth versteht die Aussagen der Schüler:innen als einen Hilferuf, dass die bisherige Schule im Lockdown nicht funktioniert. „Das ,Immer weiter so’ ist gescheitert“, sagte er dem Tagesspiegel. Das Wohlbefinden der Kinder und deren Kompetenzen zur Alltagsbewältigung sei wichtiger als das „bloße Starren auf den Lehrplan“.
Das pädagogische Prinzip „Störungen haben Vorrang“ sei aktueller denn je: „Bevor nicht Dinge, die die Kinder belasten oder stören, sauber geklärt sind, wird Lernen immer wieder blockiert“, erklärt Schubarth. Deshalb müssten zuerst die Störungen, Konflikte und Ähnliches beseitigt werden, dann erst sollte der Unterricht wieder fortgesetzt werden. Dazu brauche es an der jeweiligen Schule aber auch die nötige Haltung und die entsprechenden Konfliktlösungskompetenzen.
Allerdings gebe es auch eine Reihe von Schulen, die das bereits gut machen. Auswege aus der Lage sieht Schubarth in einer stärkeren Zuwendung zu den Fragen und Lebensproblemen von Schüler:innen. „Zuwendung und Zuhören sind jetzt gefragt.“
Eine vertrauensvolle Beziehung sei die Basis für das Lernen. „Dazu muss auch unter den jetzigen Bedingungen mehr in Beziehungsarbeit investiert werden.“ Schulsozialarbeiter und Psychologen könnten Schulen dabei unterstützen, um im Team die „psychosoziale Krise“ zu bewältigen. „In diesem Sinne wäre eine Beziehungsoffensive nötig“, sagte der Bildungsforscher. „Der aktuelle Lehrplan ist die Corona-Krise“.
Mit Beziehungungsoffensive meint der Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie eine „zugewandte Haltung“ gegenüber Kindern und Jugendlichen und deren Fragen und Befindlichkeiten. „So kann ein vertrauensvoller, geschützter Raum geschaffen werden, in dem über Ängste und Probleme offen gesprochen wird", erklärte der Schulexperte. „Wenn diese Basis wiederhergestellt ist, wird Lernen auch besser gelingen“, sagte Schubarth.
[Eine Zunahme an Stress und Ängsten durch den Lockdown und Homeschooling unter Schülern hatten Expert:innen im folgenden Beitrag auf Tagesspiegel-Plus festgestellt]
Schulforscherin Birgit Eickelmann, Leiterin des Nationalen Forschungszentrums der Studie ICILS 2018, gab zu bedenken, dass man die Situation an den deutschen Schulen nicht über einen Kamm scheren könne. „Mir scheint es, dass unterschiedliche Bundesländer unterschiedlich erfolgreich in der Umsetzung des Distanzunterrichts sind“, sagte sie gegenüber dem Tagesspiegel.
Von Überfordern bis Unterfordern alles dabei
Zur Situation lässt sich offenbar schwer ein einheitliches Bild gewinnen. Der Professor für Didaktik der Mathematik Ulrich Kortenkamp von der Universität Potsdam sagte als „nicht wissenschaftliche“ Erkenntnis, dass das ganze Spektrum vertreten sei: „Lehrkräfte die überfordern und unterfordern, die zu viel oder zu wenig kommunizieren, die sich nie oder auch an allen Tagen und Zeiten melden, die Rückmeldungen geben oder auch nicht.“
Es sei schwierig hier eine Aussage zu treffen, die für alle Schulen oder Schüler:innen gelte. Selbst innerhalb einer Schule werde meist das ganze Spektrum abgedeckt. Er hat auch Verständnis für Unzulänglichkeiten: „Denn es ist schwierig mit der ganzen Situation umzugehen, für alle, und es wurde auch niemand darauf vorbereitet.“
Das Ziel müsse sein, gute Strategien jetzt schon zu entwickeln, mit denen die Situation im nächsten Jahr irgendwie aufgefangen werden kann, so der Bildungsforscher. „Das muss jetzt passieren, und die entsprechenden Unterstützungsangebote und Konzepte müssen durch die Senatsverwaltung angeboten werden.“
Die deutsche Pisa-Beauftrage Kristina Reiss von der Technischen Universität München betonte die Bedeutung von Koordination und Planung. Sowohl Lehrende als auch Studierende sollte grundsätzlich geplant vorgehen. Von ihren Studierenden habe die Dozentin gelernt, dass an dieser Stelle immer Struktur, also klare Zeiten für das Einstellen von Inhalten und Informationen auf beiden Seiten gewünscht sei.
Grundsätzlich sei die lange Abwesenheit von den gewohnten Strukturen der Schule immer mehr zum Problem geworden. Lernen sei ein konstruktiver Prozess, bei dem neues Wissen die vorhandenen Wissensstrukturen erweitert. „Dazu braucht es mehr als den schlichten Wissenstransfer von der Lehrkraft zu den Kindern, sondern auch das Interesse und die Motivation der Lernenden spielen eine wichtige Rolle.“
Gerade diese entstehen oft im Miteinander von Kindern und Jugendlichen. Wenn man mit anderen Lernenden über neue Inhalte reden kann, dann habe das einen ganz anderen Stellenwert als die Kommunikation mit einer Lehrerin oder einem Lehrer.
„Und wenn man von allen Inhalten absieht: Auch Pausen gehören zum Schulleben und die bedeuten das Zusammensein mit Gleichaltrigen.“ Wie wichtig das ist, sei zwar auch vor der Krise bekannt gewesen: „Aber wir haben es zu sehr als selbstverständlich genommen.“
Wichtig, dass Schüler sich in der Gruppe zu sozialisieren
Der Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) Hans-Iko Huppertz, hatte gegenüber dem Tagesspiegel bereits zu Beginn des zweiten Schul-Lockdowns betont, dass die Anwesenheit in der Schule ganz bedeutsam ist: „Am besten täglich, wenn das möglich ist.“ Es sei wichtig, dass die Schüler täglich in die Schule kommen – um Fragen zu klären, und sich in der Gruppe zu sozialisieren. „Das wirkt auf den Tag strukturierend und gegen Sozialisationsdefizite.“
Auch Ängste, die durch die aktuelle Lage bei Schülern aufkommen, ließen sich am besten im Kontakt mit den Mitschülern abbauen. „Man sieht, dass die anderen die gleichen Fragen und Probleme haben.“
Der Berliner Kinder- und Jugendarzt Jakob Maske, Landessprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, hatte bemängelt, dass das Homeschooling für die Schüler eine recht unklare Angelegenheit ist, wenn manche Lehrer hervorragend darauf vorbereitet sind, andere aber kaum. Wenn am späten Abend Aufgaben für den nächsten Tag eintreffen, setze das die Schüler*innen unter Stress.
Es gebe nur wenige Kinder und Jugendliche, die mit dem Homeschooling gut zurechtkämen, vor allem diejenigen, die es ohnehin schon gut gelernt haben, sich selbst zu organisieren. Der Großteil der Schüler hätte dadurch aber ein Lerndefizit, meint Maske.
„Am stärksten betrifft das Kinder, die ohnehin schon psychosozial benachteiligt, etwa die Sprache schlecht sprechen und von den Eltern nicht unterstützt werden.“ Die Schere zwischen sozial benachteiligten und nicht benachteiligten Schülern gehe dadurch noch weiter auf.
Jede Woche länger im Lockdown sei für benachteiligte Kinder eine Gefahr: „Wir erwarten einen deutlichen Zuwachs an Schulabbrechern und schlechten Schulabschlüssen.“ Die Unterstützung der Eltern sei für die Schüler besonders wichtig.
Jan Kixmüller