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Nachdem China ganze Regionen mehrere Wochen abgeriegelt hatte, ist die Einschätzung des Infektionsrisikos nun in acht Provinzen zurückgestuft worden. Sofern Arbeiter zwei Wochen unter Quarantäne standen, können sie zurück in die Fabriken.
© CDIC/REUTERS

Coronavirus-Schutz mit Nebenwirkungen: Alles abriegeln wie in China?

Die Maßnahmen Chinas gegen die Ausbreitung von Covid-19 werden gelobt. Doch das Isolieren kann Folgen haben, die die Verhältnismäßigkeit in Frage stellen.

„Sehr hoch“ – so schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mittlerweile das Risiko einer globalen Ausbreitung der Covid-19 genannten Infektionskrankheit ein. Allein aus China wurden bislang rund 80 000 Infektionen mit dem neuen Coronavirus Sars-CoV-2 gemeldet, darunter 2800 Todesfälle. Und auch in Deutschland sind mittlerweile über hundert Infektionen nachgewiesen.

Die drastischen Maßnahmen, die die chinesische Regierung in den vergangenen Wochen zur Eindämmung der Seuche ergriffen hat, wurden etwa von der WHO ausdrücklich gelobt. Nach Recherchen der New York Times wurden schätzungsweise 760 Millionen Chinesen unter Quarantäne unterschiedlichen Ausmaßes gestellt. Offenbar mit Erfolg: Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen war zuletzt rückläufig.

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Nach Einschätzung vieler Experten wird sich Sars-CoV-2 auch in Europa und Deutschland verbreiten – bis zu 70 Prozent der Bevölkerung könnten am Ende mit dem Virus konfrontiert werden, so der Charité-Virologe Christian Drosten. Werden also auch hier bald Abriegelungen wie in China nötig?

Globale Gemeinschaft nicht zu Maßnahmen wie in China bereit – noch

„Ein Großteil der globalen Gemeinschaft ist von der Mentalität her wie auch materiell noch nicht bereit, die Maßnahmen durchzuführen, die zur Eindämmung von Covid-19 in China umgesetzt wurden“, heißt es in einem Bericht einer Expertenkommission der WHO, die kürzlich China besucht hat. Und dies seien „die einzigen Maßnahmen, von denen derzeit nachgewiesen ist, dass sie die Übertragungsketten unterbrechen oder minimieren können“, heißt es in dem Papier weiter.

Es ist richtig, dass die Kommunistische Partei Chinas drastische Maßnahmen ergriffen hat – anfangs zielten sie jedoch nicht darauf ab, die beginnende Seuche im Keim zu ersticken, sondern die Berichterstattung darüber.

Wie das chinesische Magazin „Caixin“ schreibt, hat ein Labor bereits an den Weihnachtstagen 2019 das Erbgut der Viren aus der Lungenflüssigkeit eines Mannes aus Wuhan sequenziert. Es zeigte erhebliche Ähnlichkeit mit dem Sars-Erreger, der zwischen 2002 und 2003 etwa 8000 Menschen infizierte und fast 800 tötete. Einige Tage später habe es jedoch eine Anweisung gegeben, die Sequenzdaten zu löschen. Am 30. Dezember war der Augenarzt Li Wenliang, der Anfang Februar an Covid-19 starb, einer der Ersten, die Alarm schlugen. Die Polizei verbot ihm, seine Warnung weiter zu verbreiten.

Den ersten Covid-19-Todesfall meldeten die Staatsmedien erst am 11. Januar, beschwichtigten aber gleichzeitig, dass es noch „keine klare Evidenz“ dafür gebe, dass eine Übertragung der Viren von Mensch zu Mensch möglich sei. Als Forscher aus Schanghai am selben Tag erstmals das Genom des Virus öffentlich machten, wurde ihr Labor tags darauf geschlossen, so die Recherchen der „South China Morning Post“ aus Hongkong.

„Anfangs völlig außer Kontrolle geraten“

Obwohl Staatsführer Xi Jinping mindestens seit 7. Januar über die Vorgänge in Wuhan informiert war, verstrichen mehrere Wochen, bis die Ausbreitung der Viren effektiv bekämpft wurde. Erst am 20. Januar sprach das Regime von einer „ernsten Situation“ – zwei Tage nachdem in Wuhan noch ein Bankett für 40 000 Familien ausgerichtet worden war. In China sei der Ausbruch anfangs „völlig außer Kontrolle“ geraten, urteilte Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), kürzlich.

Erst als die internationale Aufmerksamkeit wuchs, griff das Regime durch: Ab dem 23. Januar wurde Wuhan komplett abgeriegelt. Seit anderthalb Monaten ist die Bevölkerung dort praktisch in ihre Wohnungen gesperrt, die Lebensmittelversorgung funktioniert nur noch mit Mühen.

Verschiedenen Berichten zufolge starben viele Menschen in ihren Wohnungen – nicht zuletzt, weil sich Patienten mit anderen Erkrankungen nicht mehr in die Kliniken trauen oder dort wegen Überlastung ohnehin nicht behandelt werden können. Unter dem Hashtag #PatientOhneLungenentzündungSuchtHilfe finden sich in den chinesischen sozialen Medien viele tragische Geschichten: Tumorpatienten wurden nicht operiert, todkranke Babys nicht behandelt.

Das „sehr rigorose Durchgreifen“ habe die Ausbreitung sicher verlangsamt, sagt Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung dem Tagesspiegel. Das habe anderen Ländern Zeit verschafft, sich auf die Krankheitswelle vorzubereiten. „Es hatte aber auch unerwünschte Folgen auf die Gesundheit und Wirtschaft.“ Man müsse in der Rückschau bewerten, ob die Maßnahmen in diesem Ausmaß notwendig und angemessen waren – das zu bewerten sei zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich, sagt Krause.

Die Maßnahmen Chinas sind „erstaunlich, beispiellos und mittelalterlich“

Als „erstaunlich, beispiellos und mittelalterlich“ stufte hingegen Lawrence Gostin von der Georgetown-Universität in Washington das Vorgehen Pekings gegenüber dem Fachblatt „Science“ ein. Auf Nachfrage des Tagesspiegel sagte der Direktor des WHO-Kooperationszentrums für nationales und globales Gesundheitsrecht, es sei „mittelalterlich, weil dies der Weg war, wie die Welt vor der Entwicklung des modernen öffentlichen Gesundheitswesens und moderner Medizin mit Epidemien umgegangen ist“.

Die Evidenz für den Nutzen massenhafter Isolierungen sei schwach. „Die WHO hat zwar gesagt, dass die Maßnahmen Chinas funktioniert haben – aber wir haben noch keine guten epidemiologischen Studien dazu“, so Gostin. „Außerdem gibt es erhebliche Bedenken in Bezug auf Menschenrechte.“

Die „normalen Methoden der öffentlichen Gesundheit“, sagte Gostin, seien „Testungen, Behandlung, Kontaktverfolgung und Isolierung sowie Quarantäne, soweit sie wissenschaftlich gerechtfertigt ist“. Doch die Möglichkeiten der WHO, sicherzustellen, dass diese Maßnahmen von China und anderen Ländern auf der Welt durchgeführt werden, seien begrenzt.

Hintergrund zum Coronavirus:

In den vergangenen Wochen hat die WHO wiederholt erklärt, dass sie Reise- oder Handelsbeschränkungen nicht empfiehlt – Peking missachtet diese Empfehlung im eigenen Land. „China ist ein souveränes Land und hat die Autonomie, die Schritte zu gehen, die seiner Einschätzung nach im eigenen Interesse sind – und im Interesse der Bevölkerung“, erklärte die WHO gegenüber dem Tagesspiegel. „Wir hoffen, dass die Maßnahmen von China sowohl effektiv als auch von kurzer Dauer sind.“ Der Rückgang neuer Fälle sei ermutigend – aber er müsse sehr zurückhaltend interpretiert werden, da der Ausbruch sich derzeit weiterentwickelt.

Skepsis gegenüber der Wirksamkeit der Abriegelungen

Ein Grund für das Lob der WHO in Richtung Peking ist sicher, dass die Organisation darauf angewiesen ist, gute Kontakte zu China aufrechtzuerhalten – im Interesse des globalen Gesundheitsschutzes. Doch gleichzeitig setzt sie ihre Autorität aufs Spiel.

Klar ist, jede Maßnahme zur Eindämmung einer Viruserkrankung hat Vor- und Nachteile, die abgewogen werden müssen. „Vielleicht konnten die Auswirkungen über Wuhan hinaus abgemildert werden – aber womöglich ist die Ausbreitung unter den dort Verbliebenen auch gestiegen“, sagt Daniel Lorenz von der Katastrophenforschungsstelle an der Freien Universität Berlin (FUB). Von anderen Epidemien ist bekannt, dass mitunter deutlich mehr Menschen an den indirekten Folgen sterben als an der Krankheit selbst.

Das weiß auch die WHO: Die Bekämpfung des Ausbruchs sei „mit hohen Kosten und Opfern von China und seiner Bevölkerung“ verbunden. Doch obwohl die WHO-Experten kürzlich von einer Reise nach China zurückgekehrt sind, haben sie zu diesen Fragen offenbar keine belastbaren Erkenntnisse gesammelt. „Wir haben nicht genug Daten, um die Auswirkungen des Ausbruchs von Covid-19 auf Patienten zu bewerten, die andere Krankheiten haben.“

Der Umgang mit China zeigt, wie sehr die Arbeit der WHO auch von politischem Taktieren geprägt ist. Das betrifft auch die Frage, wie die Krankheitswelle einzustufen ist. So hat die Organisation zwar erklärt, die Gefahr einer Pandemie sei jetzt „hoch“, ziert sich jedoch noch immer, die Covid-19-Seuche als Pandemie zu bezeichnen.

„Es ist nicht hilfreich, eine Pandemie auszurufen, wenn man noch versucht, eine Krankheit einzudämmen“, sagte Michael Ryan, Direktor des Gesundheitsnotstands-Programms der WHO am Freitag. Manche Länder könnten dann jegliche Bemühungen einstellen, Infektionen zu stoppen. „Wir sollten nicht zu früh aufgeben“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. „Wir sollten in allen Ländern aggressive Eindämmungsschritte vornehmen.“

Beschlagnahmungen und Exportstopps möglich

In Deutschland ist bislang nicht von einschneidenden Maßnahmen die Rede. Man sei „bestmöglich vorbereitet“, so das Bundesgesundheitsministerium. Zwar gibt es hierzulande tatsächlich eine vergleichsweise gute Versorgung und mehr Krankenhausbetten pro Einwohner als in vielen anderen Ländern – doch selbst Bundesgesundheitsminister Jens Spahn räumte ein, dass es notwendig werden könnte, Atemschutzmasken zu beschlagnahmen oder Exportstopps für Ausrüstung zu verhängen, die für den Schutz des medizinischen Personals nötig ist.

Deutschland sei zwar besser als früher vorbereitet, sagt FUB-Forscher Lorenz – doch könnten die Auswirkungen „teilweise massiv“sein. Man müsse damit rechnen, dass das Virus in verschiedenen weiteren Regionen Deutschlands auftreten wird. Großflächige Isolierungen seien dann seiner Ansicht nach aber nicht zu erwarten. „Bei der Quarantäne von Gebieten und Städten muss man sich jetzt, wo das Virus schon weit verbreitet ist, fragen, wie sinnvoll derartige Maßnahmen noch sind“, sagt Lorenz. Auch sei es extrem aufwendig, dies durchzusetzen.

Das sieht auch Gérard Krause so: „Das ergibt nur Sinn, wenn es ein deutlich höheres Risiko für ein bestimmtes Gebiet gibt.“ Man komme jetzt in eine Phase, in der es nicht mehr sinnvoll ist, die Ressourcen darauf zu konzentrieren, den Ausbruch zu blockieren: „Das wird nicht mehr funktionieren.“ Man müsse sich auf die Menschen konzentrieren, von denen anzunehmen ist, dass sie besonders schwere Krankheitsverläufe haben werden.

„Und wir müssen aufpassen, dass wir durch die Maßnahmen nicht die Schwere des Ausbruchs noch vergrößern.“ Man müsse jeden Tag neu abwägen, ob die unerwünschten Effekte größer sind als die positiven Wirkungen.

Sicherer in China

Dass sich die Krankheit weiter ausbreitet, sei auch kein Indiz dafür, dass eine bestimmte Maßnahme gescheitert ist, sagt Krause: „Selbst wenn die Epidemie nicht aufzuhalten ist, bedeutet es nicht, dass dies in einer Tragödie für die gesamte Gesellschaft endet.“

Wie geschützt man sich vom Krisenmanagement des einen oder anderen Landes fühlt, ist letztlich eine individuelle Sache. Eine 24-jährige Studentin aus China etwa, die für eine Studienarbeit nach Deutschland gekommen war, hat Deutschland am Sonntag vorzeitig verlassen. „Es wird gefährlich und riskant, hierzubleiben“, sagte sie dem Tagesspiegel.

Wenn die Situation in Deutschland außer Kontrolle gerate, könne es schwierig für sie werden, nach China zurückzukehren. Sie sei verwundert, dass viele Menschen sich kaum schützen und weiter an großen Veranstaltungen teilnehmen. „Menschen in Deutschland sollten es nicht auf die leichte Schulter nehmen“, sagte die Studentin. „China erscheint mir sicherer.“

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