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DIHK-Präsident Eric Schweitzer fordert schnell ein Fachkräftezuwanderungsgesetz.
© Mike Wolff, TSP

DIHK-Chef zur Europawahl: „Wir dürfen die ländlichen Regionen nicht vernachlässigen“

Auch auf dem Land braucht es eine Willkommenskultur für Fachkräfte, findet Eric Schweitzer. Die Wirtschaft könne die Spaltung der Gesellschaft lindern.

Eric Schweitzer sitzt an einem runden Tisch im sechsten Stock des Hauses der Wirtschaft mit Blick auf die Spree und das dahinterliegende Nikolaiviertel. Ein paar Stunden zuvor hatte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) die Konjunkturprognose des Verbandes für dieses Jahr von 0,9 auf nur noch 0,6 Prozent Wachstum nach unten korrigiert. Die Unternehmensbefragung, die dem zugrunde liegt, fand noch vor der Europawahl statt.

Herr Schweitzer, sind die Aussichten nach der Europawahl noch schlechter?

Das werden wir bei unserer nächsten Umfrage im Herbst sehen. Für viele deutsche Unternehmen ist es jetzt wichtig, dass es weiterhin eine handlungsfähige EU-Kommission gibt, die zum Beispiel das Thema internationale Handelspolitik aktiv begleiten kann. Schließlich liegt die Kompetenz für dieses aus Sicht der deutschen Wirtschaft wichtige Feld bei der EU.  

Das Wahlergebnis zeigt aber zwei Trends, die der Wirtschaft gemeinhin nicht schmecken: Einerseits die Etablierung rechtspopulistischer Parteien, andererseits die Forderung nach mehr Klimaschutz.

In den Industrie- und Handelskammern (IHK) sind Energieverbraucher in Industrie, Handel und Dienstleistungen Mitglied, die sich um Energieeffizienz kümmern. Mitglied sind aber auch konventionelle und erneuerbare Energieversorger - viele liefern inzwischen ja beides. Das steht, wenn Sie so wollen, symbolhaft dafür, dass Klimaschutz schon längst zur Wirtschaft gehört. Wie wir aus unseren Umfragen über alle Branchen und Regionen wissen, gibt es in der Wirtschaft insgesamt die Sorge, dass die im europäischen Vergleich ohnehin schon sehr hohen deutschen Strompreise noch weiter steigen könnten. Das kann vor allem dann passieren, wenn die Politik richtige Klimaschutzziele mit den falschen Mitteln angeht. Deshalb ist es so wichtig, hier ehrlich zu diskutieren und bei den einzelnen Maßnahmen auch Preisschilder anzuhängen und wirtschaftliche Folgen zu benennen. Nur so behalten wir die Abwägung zwischen Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit im Auge. Ich war ja selbst Mitglied der Kohlekommission, da ist uns das ja auch am Ende gelungen.

Und wie steht die Wirtschaft zu den nationalistischen Bewegungen, die eher auf Abgrenzung, denn auf Freihandel setzen?

Die EU-Handelspolitik ist von entscheidender Bedeutung für Deutschland als Wirtschaftsstandort. Hierzulande hängt jeder vierte Arbeitsplatz vom Export ab, in der Industrie sogar jeder zweite. Insgesamt sind das elf Millionen Arbeitsplätze. Ohne den Europäischen Binnenmarkt, der ja ein lebendiges Gegenmodell zu Nationalismus, Abgrenzung und Protektionismus ist, wäre der Wohlstand in Deutschland wesentlich geringer. Wohl deshalb bewerten in unserem aktuellen Unternehmensbarometer 82 Prozent der Betriebe die Europäische Union als politischen Stabilitätsanker mit konkreten Vorteilen für ihre wirtschaftliche Tätigkeit. 

Nach der Europawahl war in Deutschland häufig von einer Spaltung die Rede zwischen urbanen und ländlichen Räumen. Was bedeutet das für die Wirtschaft?

Es ist eine Besonderheit der deutschen Wirtschaftsstruktur, dass wir selbst große Unternehmen in der Fläche finden. Deshalb brauchen wir gerade auch dort eine gute Infrastruktur. Dass wir noch immer 20.000 Gewerbegebiete ohne leistungsfähigen Glasfaseranschluss haben, müssen wir so schnell wie möglich ändern. Die IHKs engagieren sich auch sehr, um Fachkräfte für ländliche Regionen zu gewinnen. Es gibt in Deutschland 1300 sogenannte „Hidden Champions“, also Weltmarktführer auf ihrem Gebiet. Die meisten davon sind außerhalb der Metropolen zu Hause. Die USA haben nur 300 „Hidden Champions“ – und das mit viermal so vielen Einwohnern. Das zeigt, dass die ländlichen Regionen für Deutschland enorm wichtig sind. Wir dürfen sie auf keinen Fall vernachlässigen. 

Rechtspopulisten haben meist da Erfolg, wo die Wirtschaft schwach ist. Fehlt es Ihnen in der öffentlichen Debatte, welch wichtige Rolle die Privatwirtschaft beim Schließen der Kluft haben könnte? 

Man sagt immer, die öffentliche Hand muss mehr investieren. Das stimmt auch. Aber man vergisst dabei: 90 Prozent der Investitionen in Deutschland werden von Privatunternehmen getätigt. Unternehmen investieren dann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Ist das der Fall, kann die Privatwirtschaft eine wichtige Rolle dabei spielen, die von Ihnen angesprochene Spaltung zu lindern. Gerade mittelständische Familienunternehmen und kleine Betriebe fühlen sich in besonderer Weise ihrer Heimat verbunden. Auch die IHKs sind ein wichtiger Faktor bei der Frage, wie Politik und Wirtschaft vor Ort gemeinsam lebenswerte Rahmenbedingungen gestalten können. 

Welche?

Es gibt vier Kernthemen: Das erste ist der Fachkräftemangel. Sechs von zehn deutschen Unternehmen sehen darin ein Risiko für die eigene Geschäftsentwicklung. Hier kommen wir hoffentlich bald mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz einen Schritt weiter. Das zweite ist das Thema digitale Infrastruktur. Und dann gibt es noch die Bürokratieentlastung und Reformen in der Unternehmensbesteuerung. Wir werden hierbei 2022 im OECD-Schnitt an der Spitze liegen und nicht wettbewerbsfähig sein. 

Wer will hier schon investieren? Für ausländische Arbeitskräfte ist Chemnitz wahrscheinlich nicht der favorisierte Arbeitsort. Spätestens seit den Ausschreitungen im vergangenen Sommer.
Wer will hier schon investieren? Für ausländische Arbeitskräfte ist Chemnitz wahrscheinlich nicht der favorisierte Arbeitsort. Spätestens seit den Ausschreitungen im vergangenen Sommer.
© picture alliance/dpa

Sind Wahlerfolge von Rechtspopulisten Standortnachteile für die ansässigen Unternehmen im Werben um neue Fachkräfte?

Die deutsche Wirtschaft ist angesichts des Fachkräftemangels auf qualifizierte Fachkräfte aus dem In- und Ausland angewiesen. Wir brauchen daher neben einem Fachkräfteeinwanderungsgesetz auch die dazu passende Willkommenskultur. Neben unbürokratischen Regeln zur Einwanderung muss Deutschland zugleich das Signal senden, dass qualifizierte Menschen aus aller Welt mit ihren Familien hier bei uns willkommen sind. Deshalb haben wir dazu in der DIHK-Vollversammlung einstimmig die Resolution „Deutsche Wirtschaft für Weltoffenheit und gegen Ausländerfeindlichkeit“ beschlossen. Wenn Menschen miteinander arbeiten und gemeinsam Probleme lösen, haben sie in der Regel über kulturelle Grenzen hinweg ein gutes Verhältnis. Diese tägliche Praxis in vielen deutschen Betrieben prägt unsere Überzeugung, dass Integration funktioniert und auch in Zukunft funktionieren kann. Zudem: Etwa 40 Prozent aller neuen Unternehmen werden von Menschen mit Migrationshintergrund gegründet. Sie tragen zum Wohlstand des Landes und gesellschaftlichen Zusammenhalt bei.

Ist die weit verbreitete EU-Skepsis auch ein Grund für die sinkenden Wachstumsprognosen?

Derzeit ist die Stimmung der Unternehmen schon durch viele andere Unsicherheiten getrübt wie den Handelsstreit zwischen China und den USA oder den Brexit. Deshalb ist es so wichtig, dass die EU auf diesem Feld geschlossen aus einer starken Position heraus argumentiert. Die EU ist der zweitgrößte Handelsblock der Welt. Auf Platz eins liegen die USA, auf Platz drei China. Das bliebe auch nach einem Brexit so, wenn auch nur mit knappem Vorsprung.  

Bei welchen Themen setzen die Unternehmen am meisten Hoffnung in die EU?

Unternehmen sehen den größten Nutzen der EU in den verlässlichen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Die Diskussionen um den Brexit haben gezeigt, wie viele Aspekte des grenzüberschreitenden Wirtschaftens durch die EU-Verträge vereinfacht wurden. Für die Zukunft wünschen sich die Unternehmen vor allem, dass die Krisenfestigkeit der Eurozone weiter verbessert wird. Schließlich gingen im vergangenen Jahr fast 40 Prozent der deutschen Exporte in die Eurozone. Wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft sind außerdem die Förderung der praxisnahen Berufsbildung in der EU und starke multilaterale Handelsregeln, an die sich auch unsere Handelspartner halten.

Deutschlands Wohlstand hängt am Freihandel, ist Eric Schweitzer sicher.
Deutschlands Wohlstand hängt am Freihandel, ist Eric Schweitzer sicher.
© dpa

In den vergangenen Jahren gab es in Deutschland einen massiven Jobzuwachs. Woher kamen die ganzen Arbeitskräfte?

Zum Stellenaufbau und zur Fachkräftesicherung in den Betrieben leistet die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte einen wichtigen Beitrag. Im letzten Jahr wurde das Plus an Beschäftigten mehr als zur Hälfte von Ausländern getragen – vielfach aus EU-Nachbarländern. Aber auch die höhere Erwerbsbeteiligung gerade von Frauen und Älteren spielt eine wichtige Rolle für den Jobzuwachs in den Unternehmen.

Gibt es Berechnungen, welche Auswirkungen stärkerer Protektionismus oder Nationalismus hier bedeuten würde?

Unsere aktuelle Konjunkturumfrage zeigt bereits, wie sich entsprechende Tendenzen im internationalen Bereich zeitverzögert auch in der deutschen Wirtschaft niederschlagen. Wir haben allerdings auch gegenläufige Tendenzen und Chancen – etwa mit dem gerade geschlossenen Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan.

Auch bei der Zahl der Gründungen stehen strukturschwache Bundesländer schlecht da. Wie kann man Neugründungen forcieren?

In der Tat hängt die Zukunft unseres Wirtschaftsstandortes auch davon ab, dass es innovative neue Gründungen gibt. Daher stimmt es sehr bedenklich, dass wir bei der Gründungsneigung nur auf dem drittletzten Platz unter 31 Industrienationen liegen. Wir brauchen hier einen klugen Mix aus Anreizen und dem Abbau von Hindernissen. Es vergeht bei den IHKs kein Beratungsgespräch mit jungen Unternehmern, ohne dass diese überzogene Vorschriften, lange Genehmigungswege oder komplizierte Formulare monieren. Ein weiteres Alarmsignal ist, dass jeder fünfte Alt-Inhaber in der IHK-Beratung sagt, er würde sich heutzutage nicht mehr selbstständig machen, vor allem auch wegen überbordender Bürokratie. Die Politik und alle gründungsrelevanten Institutionen müssen daher für ein besseres Unternehmerklima einstehen. 

Für viele Unternehmer ist es in ländlichen Regionen schwierig, Nachfolger für ihr Unternehmen zu finden, selbst wenn es wirtschaftlich gut läuft. Wie kann man das verbessern?

Die Unternehmensnachfolge ist tatsächlich eine gesamtwirtschaftliche Herausforderung. In den nächsten zehn Jahren gehen rund eine Million Unternehmerinnen und Unternehmer in den Ruhestand. Die Regionen stehen also vor einer großen Nachfolgewelle gerade im Mittelstand. Wichtig ist an dieser Stelle eine mittelstandsfreundliche Umsetzung der neuen Erbschaftssteuer. Noch immer herrscht große Unsicherheit bei den Unternehmern, da die Konsequenzen nicht für jeden Nachfolgefall klar kalkuliert werden können. 

Eric Schweitzer (53) ist seit 2013 Präsident des DIHK. Zudem führt er mit seinem Bruder Axel das Müllentsorgungsunternehmen Alba Group. Zwischen 2004 und 2016 war der promovierte Ökonom zudem Präsident der IHK Berlin.

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