No-Deal-Szenario: Wie sich die deutsche Wirtschaft auf den harten Brexit vorbereitet
Deutsche Unternehmen füllen ihre Lager auf und rechnen mit massiven Zollproblemen. Ein Mittelständler aus Sachsen-Anhalt berichtet, wie er Chaos vermeiden will.
Auf eines legt Dietrich von Gruben besonderen Wert, wenn man ihn auf den Brexit anspricht. „Das wichtigste wäre, dass mindestens einen Monat vor dem Austrittstermin klar ist, unter welchen Bedingungen das Ganze vollzogen wird“, meint der Unternehmer aus dem Sachsen-Anhaltinischen Salzwedel. Mit Abkommen oder ohne, hart oder nicht. „Dann hätte man wohl genügend Zeit, sich darauf einzustellen, was das für Zoll- und Lieferbedingungen bedeutet.“
Auf keinen Fall sollte die Entscheidung bis zum letzten Moment hinausgezögert werden, wie es im März fast geschehen wäre. „Da hätten wir nicht einmal gewusst, welche Zollpapiere wir unserem Lkw-Fahrer hätten mitgeben müssen.“
Für von Gruben geht es beim Brexit um Millionen. Er ist Geschäftsführer der Deba Badsysteme GmbH, ein Mittelständler, der vorgebaute Badezimmer für große Bauprojekte herstellt. Seine Auftraggeber entwerfen die Waschräume für ihre Gebäude und von Gruben setzt die Skizzen mit seinen 200 Mitarbeitern in die Praxis um; „fertig ausgestattet bis zur Klobürste“, wie er sagt.
Die fertigen Räume werden dann auf Lkw verladen und zum Kunden gebracht. Die eine Hälfte seiner Aufträge kommt aus Deutschland, die andere aus Großbritannien. Weil die Briten aber tendenziell hochwertigere Bäder bauen, stammen 70 Prozent des Deba-Umsatzes von der Insel. Gerade erst hat von Gruben einen Auftrag für 800 Bäder in einem Hochhaus in London gewonnen.
200 Millionen Mehrkosten für deutsche Firmen
Seit Boris Johnson in der vergangenen Woche Premierminister Großbritanniens wurde, ist die Wahrscheinlichkeit für einen harten Brexit gestiegen. Schließlich treibt der unberechenbare Tory genau diese Forderung seit Jahr und Tag voran. Sollte es so kommen, würde Großbritannien über Nacht seinen Platz in der Zollunion mit der EU aufgeben. Dann würden die Regeln der Welthandelsorganisation gelten, was viele Import- und Exportzölle bedeuten würden.
Von Gruben ist nicht der einzige, dem ein solches Szenario Sorgen bereitet. Schließlich ist Großbritannien Deutschlands siebtwichtigster Handelspartner. Allein von Januar bis Mai dieses Jahres wurden Waren im Wert von 35 Milliarden Euro dorthin exportiert. Laut dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hängen in Deutschland etwa 750000 Arbeitsplätze vom Export nach UK ab.
Der Verband rechnet jährlich für Unternehmen mit bis zu zehn Millionen zusätzlichen Zollanmeldungen und über 200 Millionen Euro an Mehrkosten. Doch für mehr als die Hälfte der deutschen Unternehmen sind die konkreten Auswirkungen des Brexits laut DIHK immer noch unklar.
Besonders heftig dürfte ein harter Brexit aber die deutsche Automobilwirtschaft treffen. Denn die Betriebe auf beiden Seiten des Ärmelkanals sind eng miteinander verbunden. So gingen 2018 rund 17 Prozent der deutschen Pkw-Exporte nach England; die hiesigen Autobauer wiederum bestellen jährlich Bauteile im Milliardenwert von der Insel. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) nennt die möglichen Folgen eines harten Brexits „fatal“. Er plädiert daher für ein „vereinfachtes Verfahren zur Zollabwicklung im Rahmen einer Selbstveranlagung“. Soll heißen: Die Firmen stellen die eigenen Zollzahlungen zunächst selbst fest, erst später kontrollieren die Behörden.
In der britischen Automobilwirtschaft ist der baldige EU-Ausstieg schon zu spüren. Wegen eines möglichen harten Brexits hat die Branche dort ihre Investitionen um mehr als zwei Drittel zusammengestrichen. Nachdem 2018 im ersten Halbjahr noch 347 Millionen Pfund investiert wurden, waren es in diesem Jahr nur noch 90 Millionen. Gleichzeitig wurden 330 Millionen Pfund in Anti-Brexit-Maßnahmen wie neue Lagerflächen und den Aufbau von Vorräten gesteckt.
Engpässe bei Medikamenten sind möglich
Auch die Pharmabranche rechnet mit Problemen bei einem harten Brexit. Es sei nicht auszuschließen, dass es bei Arzneimitteln zu zeitweiligen Engpässen in der Versorgung kommt, teilt Elmar Kroth, Geschäftsführer Wissenschaft beim Bundesverband der Arzneimittel- Hersteller (BAH), auf Nachfrage mit. Gerade für kühlpflichtige Medikamente könnten solche Verzögerungen aufgrund umständlicher Zollabwicklung problematisch sein. Der Dax-Konzern Bayer hat aus diesem Grund schon vor Monaten Lagerflächen in Großbritannien aufgebaut. Auch die Versorgung des EU-Mitglieds Irland soll so gesichert werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass bislang rund ein Viertel aller Arzneimittel für die EU im Vereinigten Königreich freigegeben wird. Diese Zulassungsstellen müssen bis Oktober in die übrigen EU- Länder verlagert werden. Beziffern kann der BAH die Kosten für einen harten Brexit nicht. Doch schon jetzt wirft der Austritt Englands aus der EU seine Schatten voraus: Die Pharma-Ausfuhren aus Deutschland nach UK betrugen im vergangenen Jahr rund vier Milliarden Euro, während sie 2015 noch bei etwa sieben Milliarden Euro gelegen hatten.
Lkw könnten wochenlang an der Grenze warten müssen
Eine solche Tendenz will von Gruben in seinem Geschäft vermeiden. Deshalb hat er sich konkrete Maßnahmen vorgenommen. „Wir werden jetzt in die Vorproduktion gehen“, sagt der Deba-Chef. „Bis Oktober wollen wir mindestens 200 bis 300 Bäder im Vorrat haben, um in jedem Fall pünktlich liefern zu können.“ Denn es sei juristisch unklar, wer die Verantwortung trägt, wenn zu spät geliefert wird, ob der Brexit also als eine Art Naturereignis angesehen wird, bei dem keinen der Handelspartner die Schuld trifft.
„Wir wollen so vorbereitet sein, dass wir unsere Aufträge erfüllen können, auch wenn unsere Lkw zwei oder drei Wochen an der Grenze warten müssen.“ Diese Sorge ist nicht unbegründet: Auf einen Lkw passen vier bis sechs Defa-Bäder. Wenn mehrere Unternehmen so planen und es keine zeitsparende Lösung für die Zollkontrollen gibt, sind lange Staus vorprogrammiert.
Doch auch Deba befindet sich in einer doppelten Abhängigkeit von Großbritannien, da auch viele Bauteile aus dem Königreich importiert werden. Deshalb will von Gruben spätestens ab September damit beginnen, seine Lager aufzufüllen. „Doch das kostet natürlich Liquidität und nimmt Lagerkapazitäten“, klagt er. Außerdem hat Deba hat alle Verträge komplett auf Euro umgestellt, weil das Pfund „einfach zu volatil ist“, so von Gruben.
Einen Auftragsrückgang konnte der Geschäftsführer seit dem Brexit-Votum indes nicht feststellen. Man habe allerdings so langfristige Aufträge und Verträge, dass kurzfristig ohnehin keine Probleme drohen, beruhigt er. Doch eines hat sich gerade innerhalb der vergangenen Tage deutlich verändert: „Man hat teilweise das Gefühl, erst seit dem Amtsantritt von Boris Johnson kann man mit englischen Unternehmern über den Brexit verhandeln“, meint von Gruben. „Davor haben die Kunden den Brexit gerne ausgeblendet.“
Thorsten Mumme