Digitalisierung bis Demografie: Wie sich die Arbeitswelt wandelt
Flexibel arbeiten mit größeren Spielräumen und mehr Verantwortung: Die Arbeitswelt ändert sich grundlegend. Heute stellt Arbeitsministerin Nahles ihr Weißbuch dazu vor.
Die Digitalisierung regt die Fantasie an und macht Angst. Fahren Busse bald ohne Fahrer? Sind Roboter die besseren Ärzte? Die Mehrheit der Deutschen fühlt sich gestresst, findet ihr Leben anstrengender als noch vor drei Jahren. Obwohl die Technik ihr Leben vereinfachen soll, klagen sie über zu viel Arbeit. Zu viel Hektik. Haben das Gefühl, dass sich die Welt immer schneller dreht.
Frauen und Männer wollen beides: Kinder und Karriere. Doch fast die Hälfte der abhängig Beschäftigten sagt, dass sie Vereinbarkeitsprobleme haben. Sie wollen flexibler arbeiten, und sind gleichzeitig von dem Anruf nach Feierabend genervt. Der Entgrenzung ihrer Lebenssphären.
Die Arbeitswelt verändert sich radikal. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften überlegen deswegen, wie Arbeit 4.0 gestaltet werden soll. Zum Besseren hin. Das Arbeitsministerium hat im April 2015 „einen Dialogprozess“ gestartet, mit Konferenzen, Fachdialogen, Umfragen. „Wir beginnen erst langsam zu verstehen, wie nachhaltig die Digitalisierung unsere Wirklichkeit bereits verändert hat, mit welcher Geschwindigkeit sie Medien, Wirtschaft und Alltagskultur durchdringt und völlig neu ordnet“, sagte Andrea Nahles (SPD).
An diesem Dienstag wird sie das Weißbuch vorstellen. Den Abschlussbericht. Im kommenden Frühjahr folgt die Bilanz der Kommission „Arbeit der Zukunft“, zu der die Hans-Böckler-Stiftung und der Deutsche Gewerkschaftsbund gehören. „Die Debatte ist extrem wichtig“, bekräftigt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Auch wenn im Hintergrund viel geforscht und experimentiert werde, sagt sie: „In der Diskussion herrscht aber inzwischen ein gewisser Leerlauf.“ Ein Überblick darüber, wo die Erkenntnisse zur Arbeit von morgen gerade stehen:
Die Mitarbeiter werden anspruchsvoller
Wegen des demografischen Wandels ändern sich die Machtstrukturen. Weil der Nachwuchs kleiner wird, wählen Betriebe nicht mehr aus einer Fülle von Bewerbern aus, die in starker Konkurrenz zueinander stehen. Die Bewerber suchen nach dem besten Job. Mit den besten Arbeitsbedingungen. Dieser Trend wird bereits beim Thema Ausbildung sichtbar. Im vergangenen Jahr suchte knapp jedes dritte Unternehmen ohne Erfolg nach neuen Lehrlingen. Es ist die Rede vom „war for talents“. Wegen des Fachkräftemangels werden in diesem Jahr allein in Berlin 34 000 Stellen unbesetzt bleiben. 2030 könnten es bereits mehr als 150 000 sein.
Eine Konsequenz ist, dass Mitarbeiter in Zukunft anspruchsvoller sein werden und mehr mitsprechen wollen. Unternehmen müssen sich mehr um die Bedürfnisse ihrer Belegschaft bemühen, müssen individueller auf sie eingehen, familienfreundlicher und wertschätzender sein. Fast die Hälfte der Befragten der Stressstudie 2016 fühlt sich derzeit nicht genügend anerkannt. Dabei empfänden Mitarbeiter, die gerne zu Arbeit gingen, Stress eher als Ansporn und weniger als Belastung. Wollen die Betriebe gute Mitarbeiter, die dynamisch und motiviert sind, müssen sie umdenken.
Zum demografischen Wandel gehört auch, dass der Einzelne altert und länger arbeitet. Ein wichtiges Zukunftsthema ist deswegen die stetige Weiterqualifizierung. Vor allem im Alter. Wegen der Digitalisierung werden Mitarbeiter auch noch mit 40, 50 Jahren dazulernen müssen, um bei der Geschwindigkeit, mit der sich die Arbeitswelt verändert, nicht den Anschluss zu verlieren. Fast die Hälfte der 21- bis 35-Jährigen fühlt sich laut einer Studie der Vodafone-Stiftung sehr sicher in der Nutzung von Computern und neuen Medien, während das von den über 60-Jährigen nur ein Viertel sagt. Unabhängig vom Alter sieht sich nicht einmal jeder Zehnte von seinem Vorgesetzten beim Weiterbildungsthema ausreichend unterstützt. Computerbasierte, technologische Fähigkeiten werden aber Grundqualifikationen sein.
Präsenzkultur war gestern
Digitale Newcomer stellen die herkömmlichen Arbeitsstrukturen seit einiger Zeit infrage. Junge Firmen, Start-ups, erscheinen innovativer als die etablierten Unternehmen. Gleichzeitig schaffen die neuen Technologien neue Arbeitsmöglichkeiten – zeitlich wie räumlich. Homeoffice statt Präsenzkultur. Oder Crowdworking. Dabei schreiben Firmen im Netz Aufträge aus und lassen diese von Selbstständigen in einer Cloud bearbeiten. Apple hat zehntausende Freelancer, die auf diese Weise für den Konzern arbeiten. Ob nun tagsüber oder nachts, vom Sofa aus oder vom Strand. Wie diese Soloselbstständigen vor Ausbeutung geschützt und sozial abgesichert werden, ist eine Herausforderung für die Zukunft. Zumal das Normalarbeitsverhältnis generell weniger wird, während Teilzeit, Leiharbeit und Befristungen stetig zunehmen.
Weil das Alleinverdienermodell ausläuft und viele Elternteile beide arbeiten, sind flexiblere Strukturen nicht nur ein Wunsch, sondern eine Notwendigkeit. Fast die Hälfte der Beschäftigten hätte laut dem Arbeitszeitreport gerne einen größeren Einfluss darauf, wann sie mit ihrer Arbeit beginnen und enden oder wann sie sich ein paar Stunden freinehmen. Je nachdem wie der individuelle Alltag organisiert werden muss. Vor einer Woche kündigte Arbeitsministerin Nahles eine zweijährige Experimentierphase an, um flexibleres Arbeiten in Deutschland zu erleichtern. Dazu plant sie eine Öffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz. Stünde am Ende des Pilotprojekts eine positive Bilanz, könnte das Gesetz geändert werden. Arbeitgeber haben die Bundesregierung schon vor einem Jahr dazu aufgefordert, die Regelungen zu Arbeitszeit und Ruhephase aufzuweichen. Gewerkschaften protestierten – und tun es noch. Sie fürchten, dass die Entgrenzung von Arbeits- und Freizeitwelt den Menschen zu sehr belastet. Es drohe ein Leben ohne Feierabend. Nachgewiesen ist: Mit zunehmender Länge der Arbeitszeit sinkt die Zahl der zufriedenen Mitarbeiter und es steigt der Anteil derer mit gesundheitlichen Problemen.
Die Roboter kommen
Die Produktionslandschaft verändert sich radikal. Roboter, intelligente Maschinen, 3-D-Drucker erreichen vollkommen neue Dimensionen. Der europäische Flugzeugbauer Airbus hat zum Beispiel einen Mini-Flieger in die Luft gebracht, der fast komplett aus einem 3-D-Printer stammt. In einem New Yorker Krankenhaus optimiert ein IBM-Supercomputer Diagnosepläne für Krebspatienten.
Selbst fahrende Züge, pflegende Roboter, Computerprogramme statt Buchhalter – angesichts solcher Trends prophezeien IT-Spezialisten und Unternehmensberater, dass in den kommenden 20 Jahren fast jeder zweite Job in den Industrieländern wegfällt. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geht von einer geringeren Quote aus und glaubt, dass in Deutschland zwölf Prozent der Beschäftigten ein hohes Risiko haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das betrifft körperliche Arbeiten in der Fabrik, aber auch Büro- und Dienstleistungsaufgaben. So die pessimistische Sicht.
Optimisten sagen, dass es die Angst vor neuen Erfindungen schon immer gegeben hat. Beim Buchdruck, bei der Dampfmaschine, beim ersten Computer. Und 1930 meinte der Ökonom John Maynard Keynes: „Den Menschen wird die Arbeit ausgehen.“ Die Digitalisierung könnte auch eine Chance sein! Roboter könnten körperlich anstrengende und routiniert-eintönige Tätigkeiten übernehmen, während sich der Mensch kreativen und komplexeren Arbeiten widmet. Wissen schafft. Selbst Gewerkschaftler sehen in der Digitalisierung nicht das Ende der menschlichen Arbeit. Die Digitalisierung müsse aber politisch gestaltet werden. Sollte es doch zu einer roboterbedingten Arbeitslosigkeit kommen, befürworten immer mehr Unternehmer und Ökonomen die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.
Es werden andere Werte wichtig
In der Gesellschaft findet derzeit ein Wertewandel statt. Traditionelle Rollenbilder lösen sich auf: Immer mehr Frauen wollen arbeiten, immer mehr Männer wollen Zeit zu Hause verbringen, sich am Haushalt und an der Erziehung der Kinder beteiligen. Es geht um Gleichberechtigung, um die Vereinbarkeit von Karriere und Familie. Darum, in seinem Leben beides zu haben und nicht irgendwann zu bereuen, zu viel oder zu wenig gearbeitet zu haben. Das verändert die Ansprüche an Arbeitgeber und Politik – und es verändert den generellen Stellenwert der Arbeit.
Der Wunsch nach einer ausgewogeneren Work-Life-Balance wird zudem immer stärker werden. Die Jüngeren, zum Teil Berufsanfänger, die zwischen 1980 und 1995 geboren wurden, gelten als Digital Natives. Für sie ist der ständige Blick auf das Smartphone, die ständige Erreichbarkeit normal. Auch wenn sie in Umfragen sagen, es belaste sie sehr und sie würden bewusst versuchen, öfter offline zu sein. Die Mitarbeiter von morgen, die nach 1995 geborene Generation Z, werden allerdings weitaus drastischer sein. Die Arbeit soll ihnen Spaß machen, sie wollten sich im Job verwirklichen und genug Zeit für ihr Privatleben haben. Die Generation will nicht mehr unbedingt Karriere machen, so steht es zumindest in der aktuellsten Shell-Jugendstudie. Für sie zählt die persönliche Erfüllung im Leben. Im Feierabend noch E-Mails lesen kommt nicht infrage. Statt immer erreichbar zu sein, wollen sie feste Arbeitszeitkontingente, in denen sie aber recht eigenverantwortlich handeln können. In einer Gesellschaft, in der Grundbedürfnisse wie Nahrung, Bildung und Wohnen weitestgehend befriedigt sind, werden andere Werte wie Glück, Zufriedenheit und Selbstentfaltung wichtig. Postmaterielle Werte. So soll Arbeit nicht nur Lohnerwerb sein, sondern einen Sinn haben und Freude bereiten.