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Berühren verboten – oder doch nicht? Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 definiert, was sexuell belästigend ist.
© dpa

Finger weg!: Wie man sich gegen sexuelle Belästigung wehrt

Mehr als jeder zweite Beschäftigte wurde schon einmal sexuell belästigt. Auch in Berlin sind Übergriffe am Arbeitsplatz ein Thema. Betroffen sind meist Frauen - aber auch Männer.

Ein Tätscheln am Knie, eine Frage nach sexuellen Vorlieben, eine unerwünschte Schultermassage: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kann viele Gesichter haben. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 ist sie als „ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten“, definiert, das „bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betroffenen Person verletzt wird“.

Viele Beschäftigte sind betroffen, vor allem Frauen: Nach der weltweit größten repräsentativen Erhebung zu Gewalterfahrungen von Frauen in der EU haben 60 Prozent der Frauen in Deutschland schon einmal sexuelle Belästigung erfahren: Jede dritte fand im Arbeitsumfeld statt. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Berlin hat in einer jüngst vorgestellten, ebenfalls repräsentativen Umfrage festgestellt, dass mehr als die Hälfte aller Beschäftigten schon einmal sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt hat, so wie sie gesetzlich definiert wird. Jede sechste Frau und jeder 14. Mann hat sich demnach schon einmal belästigt gefühlt.

Beweise aufheben, Zeugen aufschreiben, Rate einholen

Täter waren meistens Männer, Opfer am häufigsten Frauen. Seit 2006 wurden der Stelle 265 Fälle gemeldet. Die Dunkelziffer ist weit höher. Beim Arbeitsgericht Berlin werden die zur Anzeige gekommenen Fälle sexueller Belästigung am Arbeitsplatz nicht statistisch erfasst. Sprecher Martin Dreßler weiß jedoch von Fällen, bei denen es um E-Mails mit sexuellen Inhalten und die Übersendung pornografischen Materials ging. Als Folge droht Tätern eine Abmahnung, die Umsetzung, die Versetzung – oder sogar die Kündigung.
Betroffene sollten solche Vorfälle unbedingt mit Zeit und Ort dokumentieren und Beweise sammeln, rät die Berliner Arbeitsrechtlerin Erika Schreiber. Das bedeutet, E-Mails aufzuheben, sich Zeugen eines Vorfalls zu notieren – und sich schnellstmöglich juristischen Rat durch Anwältinnen und Anwälte zu holen, die auf Arbeitsrecht spezialisiert sind.

Ansprechpartner für betroffene Frauen sind häufig auch lokale Organisationen, wie das Krisen- und Beratungszentrum LARA (Hotline 030/2168888). Seit 20 Jahren berät die Einrichtung Frauen, die vergewaltigt oder sexuell belästigt wurden. „Was die eine Frau als ungelenken Annäherungsversuch belächelt, kann die andere zutiefst verunsichern“, weiß Koordinatorin Friederike Strack. Sozialer Rückzug oder Traumatisierungen können die Folge sein. Oft herrsche das Klischee vor, dass nur junge hübsche Frauen Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz werden. „Doch das ist unserer Erfahrung nach falsch“, sagt Friederike Strack. Besonders in stark hierarchisch geordneten Arbeitsbereichen, bei prekären Arbeitsverhältnissen oder einem unsicheren Aufenthaltsstatus käme es zu Übergriffen. Als wichtige Prävention sieht Strack den offenen Umgang mit dem Thema in Unternehmen. Mitarbeiter sollten wissen, an wen sie sich wenden können.

Der ältere Professor und die Nachwuchswissenschaftlerin

Die Charité macht vor, wie es gehen kann. Das Universitätsklinikum hat eine Broschüre herausgegeben, in der beschrieben ist, was Mitarbeiter bei sexuellen Grenzüberschreitungen tun können. „Gerade im medizinischen Bereich gibt es viele Grauzonen“, sagt die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte des Universitätsklinikums Christine Kurmeyer. „Das beginnt damit, dass sich Patienten für eine Behandlung ausziehen oder berühren lassen müssen oder über sehr intime Dinge sprechen. Diese Lage sorgt für ein Klima der Durchlässigkeit.“ 18 Prozent der Frauen und Männer, die in der ambulanten Pflege arbeiten, gaben an, schon einmal sexuell belästigt worden zu sein. Auch im wissenschaftlichen Bereich, der von klassischen Hierarchiestrukturen geprägt ist, gebe es Vorfälle. Es klinge wie ein Klischee längst vergangener Tage. Doch der ältere Prof, der die Nachwuchswissenschaftlerin verbal oder tätlich anmacht, komme immer noch vor.

Auch in Australien ist das Thema in den vergangenen Wochen hoch gekocht. Auslöser war eine öffentliche Stellungnahme der Chirurgin Gabrielle McMullin, die Frauen, die in der Medizin tätig sind, einen ungewöhnlichen Rat gab - und damit für Aufsehen und Kritik nicht nur von Frauenverbänden sorgte: Sie hatte Nachwuchswissenschaftlerinnen empfohlen, still zu sein, wenn sie belästigt werden, statt ihre Vorgesetzten anzuzeigen. Mit einem solchen Schritt würden sie nur ihre Karriere ruinieren. Auch Tage später stand sie dazu. Sie denke pragmatisch. In männerdominierten Berufswelten sei das hässliche Realität, wird sie in „The Sydney Morning Herold“ zitiert.

Doch das sieht man in Berlin anders. „Am sinnvollsten ist es, eine ungewollte Annäherung sofort zurückzuweisen“, rät Kurmeyer. Wenn ein Gespräch nichts bringt, sollte der Vorgesetzte ins Vertrauen gezogen werden. Auch Gespräche mit Kollegen könnten helfen. „Dabei stellt sich manchmal heraus, dass der Täter schon mehrere Frauen belästigt hat“, sagt Kurmeyer. „Gemeinsam trauen sich die Frauen oft eher, gegen ihn vorzugehen.“ Wenn jedoch ein Klima der Konkurrenz in der Abteilung herrsche, sei es besser, sich gleich an eine übergeordnete Stelle wie die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte zu wenden.

Amerikanische Verhältnisse: im Fahrstuhl getrennte Geschlechter

Im öffentlichen Dienst sind Gleichstellungsbeauftragte die Regel. In der Privatwirtschaft dagegen sind solche Positionen nicht vorgeschrieben, erklärt ein Sprecher der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Sie können aber vereinbart oder vom Arbeitgeber eingerichtet werden. Gibt es keinen Gleichstellungsbeauftragten, sind Betriebs- und Personalräte Ansprechpartner. Auch in Betriebsvereinbarungen können Regelungen zu sexueller Belästigung vereinbart werden.

Die Charité bereitet gerade eine solche „Work Place Policy“ vor. Dafür werden Pflegekräfte und Mediziner anonym befragt zu ihren Erfahrungen mit sexueller Belästigung, aber auch zu ihren Ideen, wie man gegen Belästigungen vorgehen kann. 2016 soll die Studie fertig sein und daraus konkrete Empfehlungen abgeleitet werden. „Denkbar ist etwa, dass ein Team eine Vertrauensperson bestimmt, der entsprechende Vorfälle gemeldet werden können“, sagt die Studienleiterin Sabine Oertelt-Prigione. Gerade im Pflegebereich gebe es eine große Offenheit für das Thema, bei Männern ebenso wie bei Frauen. Durch eine solche Initiative werde es an der Charité sicher nicht zu amerikanischen Verhältnissen kommen. In den USA sei es in manchen Betrieben nicht einmal gestattet, dass eine Frau mit einem Mann alleine im Aufzug fährt, berichtet Oertelt-Prigione. „Wir wollen das Thema nicht dramatisieren, sondern eine Kultur des Dialogs schaffen.“

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